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KOMMENTAR/213: Erschlichene Chancen (SB)


Lex Deutschland: Der häßliche Handball in seiner ganzen Pracht



Wer glaubt, nur die alle mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Spitzenverbände und -organisationen wie die FIFA oder das IOC seien von nepotistischen Verhältnissen geprägt, dem ist zu wünschen, daß er seinen Schlaf ruhig weiterschläft - begleitet von sanften Märchenerzählungen wie "im sportlichen Wettbewerb geht es fair und gerecht zu" oder aufgestöbert von gelegentlichen Wachträumen, nämlich immer dann, wenn internationale Meisterschaften oder Olympische Spiele anstehen und für kurzfristige Erregungs- und Fieberzustände sorgen.

Wer sich vom Wiegenlied der "Integrität des sportlichen Wettbewerbs", das selbst in höchsten Politik- und Justizkreisen gesungen wird, nicht einlullen lassen möchte, hat natürlich ein Problem. Es fängt schon damit an, daß der Begriff Integrität von der Wortherkunft her (lateinisch integritas: "unversehrt", "intakt", "vollständig") etwas Unversehrtes, Unbescholtenes oder Unbestechliches unterstellt, was anzunehmen bezogen auf die profitorientierten und korruptionsbelasteten Sportorganisationen und -verbände nicht abwegiger sein könnte. Und das gilt selbstverständlich auch für die zweite Reihe der Fachverbände. Ein besonders drastisches Beispiel liefert gerade der deutsche bzw. internationale Handballsport.

Das "Mutterland des Handballs" mit der stärksten Liga und dem größten Handballverband der Welt hatte sich sportlich nicht für die Weltmeisterschaft in Katar 2015 qualifizieren können. Das deutsche Nationalteam war in Hin- und Rückspiel an Polen gescheitert. Bereits die Qualifikation für die Olympischen Spiele 2012 in London und die Europameisterschaft 2014 in Dänemark war verpaßt worden. Das jüngste Debakel in den WM-Playoffs hätte auch zur Folge gehabt, daß Deutschland bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro nur Zaungast gewesen wäre, denn die Qualifikationsplätze für Olympia werden ebenfalls bei der WM in Katar vergeben. Kurzum: Das erneute Fehlen Deutschlands als maßgebliche Kraft des kommerziellen Handballs hätte dem Welthandball erheblichen wirtschaftlichen Schaden zugefügt. Deshalb - man wundere sich nicht - zauberte die Internationale Handball-Föderation (IHF) eine "Wildcard" für das deutsche Team aus dem Hut, damit es trotz des sportlichen Mißerfolgs an der Petrodollar-WM am Golf teilnehmen kann.

Der Zaubertrick mit der Wildcard, der in dieser Form erstmals in der 76jährigen Geschichte der Weltmeisterschaften angewandt wurde, kam nicht ohne Vorankündigung. Noch vor den WM-Playoffs im Juni hatten die Spatzen von den Dächern gepfiffen, daß die IHF die Einführung von Wildcards plant und sich Deutschland selbst im Falle des Scheiterns gegen Polen Hoffnungen auf die Olympiateilnahme machen könnte. Mindestens über die Medien wußte der Deutsche Handballbund (DHB) also schon vor den beiden Polen-Spielen, daß er eigentlich gar nicht verlieren kann. Als Grund für die Einführung von Wildcards gab der IHF-Präsident Hassan Moustafa die Degradierung des Handballs innerhalb der olympischen Sommersportarten an, wie das Fachmagazin "Handball Time" [1] vermeldete. "Handball ist im letzten Ranking nur deshalb heruntergestuft worden, weil die TV-Quoten aus Deutschland fehlten", so der umstrittene Ägypter, dessen Karriereweg von Skandalen und Affären gepflastert ist. Bereits im Februar hatte die FAZ berichtet, Moustafa sei in Sorge, "da das Internationale Olympische Komitee (IOC) Handball kürzlich in die Gruppe D zurückstufte. Das hat geringere IOC-Zuwendungen für die IHF zur Folge. Und die Gefahr wird realer, dass Handball eines Tages aus dem olympischen Programm gestrichen werden könnte, weil sich nur Europa dafür interessiert". [2]

Um das "Mastschwein" Deutschland ins Teilnehmerfeld zu hieven, mußte im Gegenzug ein für TV-Quoten, Marktanteile und Werbeeinnahmen unbedeutendes Opferlamm gefunden werden. Möglichst eines, dem die Rechtsvertreter des Verbandes relativ gefahrlos den Garaus machen konnten, weil es sich in einer juristisch unsicheren Position befindet oder für den Bedarfsfall in einer solchen gehalten wurde: Australien!

Die Handball-Nobodys aus Down Under, deren Leistungen gar nicht hoch genug geschätzt werden können, weil sie anders als die saturierten Vollprofis aus Europa ihren Sport größtenteils aus privater Hand bestreiten, hatten sich in zwei Spielen gegen Neuseeland für die WM qualifiziert. Doch die Freude währte nicht lange, der Rat der IHF nahm Australien am 8. Juli nachträglich (!) den Startplatz weg. Offizielle Begründung: Es gibt derzeit keinen von der IHF anerkannten Kontinentalverband Ozeanien, weil dieser nicht die erforderliche Anzahl von Verbänden hat. Deshalb tritt nun mit Deutschland die beste, nicht qualifizierte Nation der vorangegangenen WM in Katar an.

Die Ozeanien-Problematik ist zwar schon seit vielen Jahren bekannt, und Australien hatte sich unter der Aufsicht der IHF bislang anstandslos für die WM-Endrunden qualifizieren können (seit 1999 nahm Australien an sieben von acht Weltmeisterschaften teil, zuletzt 2013 in Spanien), doch diesmal wurden die Australier aus zweckopportunistischen Gründen kaltgestellt. Daß die offiziellen Gründe nur vorgeschoben sind, erkennt man auch daran, daß Australien sowohl an der Beach-WM in Brasilien teilnehmen durfte als auch beim IHF SuperGlobe in Katar mit Sydney an den Start gehen kann. In Anbetracht des Offensichtlichen kam auch Ex-Nationalspieler Daniel Stephan nicht umhin einzuräumen: "Natürlich ist es wichtig, dass wir bei der WM dabei sind. Aber es ist auch allen klar, dass das eine Lex Deutschland ist. Die IHF braucht Deutschland und hat nun einen äußerst fragwürdigen Weg gefunden." [3]

Selbst unter eingefleischten deutschen Handballfans erntete das WM-Geschenk an die DHB-Auswahl kübelweise Spott und Hohn. Tenor in den Foren: Einmal mehr hat sich gezeigt, worum es im großen Sport wirklich geht, nämlich um Geld und Marktanteile. Die vielbesungenen Werte des Sports ("Fairplay-Prinzip", "erzieherische Vorbildfunktion" etc.) gelten nur so lange, wie sie im Einklang mit den Markterfordernissen stehen. Allerdings gibt es auch zahlreiche Stimmen, die die Angelegenheit ähnlich wie Uwe Gensheimer, Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, sehen: "Ich kenne die Hintergründe nicht, aber das ist jetzt auch egal. Hauptsache wir sind dabei. Es ist extrem wichtig, dass wir dabei sind, das ist super." [4]

Interessant ist nun, wie die Funktionsträger des Handballsports das zum Himmel stinkende Verfahren gerechtfertigt und "demokratisch" gelabelt haben. Dazu sei noch einmal in Erinnerung gerufen, daß es der sogenannten Handballfamilie bereits gelungen ist, im Aufmerksamkeitsschatten des großen Bruders Fußball die politische Diskussion um die WM-Vergabe nach Katar, das vom Internationalen Gewerkschaftsbund als "Sklavenstaat des 21. Jahrhunderts" bezeichnet wird, fast vollständig unter dem Deckel zu halten. Man kann getrost davon ausgehen, daß sich die Verbands- und Vereinsfunktionäre in Deutschland wie auch in anderen internationalen Handballverbänden vollkommen einig darin sind, die brisanten Implikationen möglichst totzuschweigen. Nennenswerte Kritik an Katar ist jedenfalls weder von den Profis oder Trainern noch von den Funktionären oder Managern zu hören. Der Professionalismus im Sport reproduziert bekanntlich die gleichen Schweigegesetze und Schönfärbereien, wie sie auch in der kapitalistischen Krisenwirtschaft vorherrschen. Um so mehr, als die klammen Verbände mit dem Emirat einen unglaublich spendablen Geldgeber aufgetan haben. So kassiert allein der Handballweltverband die Rekordsumme von rund 82 Millionen Euro für die WM-Übertragungsrechte 2014 bis 2017 von "BeIN Sports", einem katarischen Sportrechtekonzern. Zuvor hatte BeIN Sports bereits regionale TV-Rechte an der Handball-Champions League und an der deutschen Handball-Bundesliga erworben. Das Gastgeberland für die WM 2015, das die Veranstaltung mit für Handballverhältnisse astronomischen 200 Millionen Euro budgetiert, hat in Abstimmung mit der IHF sogar eine gigantische PR-Aktion angekündigt: Zuschauer und Mannschaften, die der Weltverband auswählen will, sollen nach Katar eingeladen werden, berichtete "Handball Time". Von mindestens 5000 Fans ist die Rede. Und nicht nur das: "Auch sämtliche Journalisten wolle der katarische Handball einladen, das heißt für die Flug- und Hotelkosten aufkommen." [5]

Was Wunder, daß die Handballmacher und ihre Journalisten dem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen wollen. Allenfalls oberflächlich - wegen des "Geschmäckles", wie es nach dem WM-Ticket durch die Hintertür heißt. Um den Eindruck zu bestärken, das WM-Geschenk für Deutschland bzw. die Ausbootung Australiens sei ein Segen für den Handballsport und nur nicht richtig kommuniziert worden, mußte sich DHB-Präsident Bernhard Bauer mächtig ins Zeug legen. Zuletzt in Doha, wo die Gruppenauslosung für die WM stattfand. "Der Empfang für den Wildcard-Nachrücker war überaus herzlich. Als Deutschland als zweites Los gezogen wurde, gab es sogar Applaus unter den rund 200 geladenen Gästen im Hotel Ritz Carlton", flötete die Hofpresse, während Bauer versicherte, "fast alle hier haben sich gefreut, dass Deutschland doch bei der WM dabei sein darf". [6]

Der CDU-Mann und Jurist aus Stuttgart, der eine lange Karriere als Ministerialbeamter in Baden-Württemberg hinter sich hat, wäre im vergangenen Jahr nicht zum DHB-Präsidenten gewählt worden, wenn er das Geschäft von Sein und Schein im Polit- und Sportentertainment nicht beherrschen würde. Um den Topf der unbequemen Fragen und offenen Widersprüche zu verschließen, mußte noch der Demokratiedeckel drauf. Den lieferte dann die eigene Verbandswebsite, wo Bauer auf die Frage, warum es richtig sei, daß der DHB die Wildcard für die WM in Katar angenommen habe, erklärte: "Weil wir die Ergebnisse demokratischer Prozesse respektieren. Der Rat des Weltverbandes IHF, das höchste Gremium des Handballs und eine demokratisch gewählte Institution, hat in dieser Sache einstimmig entschieden." Um Spötter und Kritiker zu besänftigen, wurde dem schwer verdaulichen Gericht noch ein wenig Chancen- und Werte-Pulver beigemengt: "Vor allem auf der großen internationalen Bühne entstehen Vorbilder, denen Kinder und Jugendliche in den Vereinen nacheifern können. Und gerade diesen Schub brauchen wir auch mit Blick auf den demografischen Wandel." [7]

Noch irgendwelche Fragen?

Im Bundesinnenministerium waren jüngst Rechtsexperten zusammengekommen, um Rat darüber zu halten, wie man die "Integrität des Sports" vor unlauteren Einflußnahmen (straf)gesetzlich schützen könnte. [8] Tatsächlich hätten die Experten beraten müssen, wie man die Menschen vor den Sportfunktionären und ihren Juristen (oft in Personalunion) schützen könnte, die sich mit Haut und Haaren der Kommerzialisierung des Sports verschrieben haben.

Fußnoten:

[1] http://www.handballtime.de/index.php?head=mit-wildcard-nach-rio&folder=sites&site=nview&nid=156. 28.05.2014.

[2] http://www.faz.net/aktuell/sport/mehr-sport/neue-sportmacht-qatar-der-scheich-liebt-handball-12824268.html. 27.02.2014.

[3] http://www.bz-berlin.de/berlin-sport/fuechse-berlin/hanning-verteidigt-wm-wildcard. 10.07.2014.

[4] https://de.eurosport.yahoo.com/news/1-bundesliga-wm-ticket-hintert%C3%BCr-dhb-erh%C3%A4lt-wildcard-173756843--spt.html. 08.07.2014.

[5] http://www.handballtime.de/index.php?head=5000-einladungen-zur-wm-2015&folder=sites&site=nview&nid=144. 01.04.2014.

[6] http://www.westfalen-blatt.de/Ueberregional/Sport/Sonstige/1660321-Handball-Nach-WM-Auslosung-DHB-mit-Rueckenwind-in-die-Wueste. 21.07.2014

[7] http://dhb.de/detailansicht/datum/2014/07/23/artikel/dhb-praesident-bauer-wildcard-ist-ein-gluecksfall-und-hoher-anspruch-an-unsere-nationalmannschaf.html. 23.07.2014.

[8] http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/2014/07/expertentreffen-zur-strafbarkeit-der-manipulation-von-sportwettbewerben.html. Juli 2014.

30. Juli 2014