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KOMMENTAR/253: Im Dunkeln kungeln oder sportlicher geht's nicht ... (SB)


Im staatlichen Auftrag: Spitzensportreform degradiert Athleten zum Medaillenrohstoff


Die deutsche Spitzensportförderung soll erfolgreicher, berechenbarer, vorhersagbarer und transparenter werden - "prospektiv" und "potenzialorientiert", wie es in der Sprache der Sportbürokraten heißt. Allen Wertebrüchen und negativen Erscheinungen im Hochleistungssport zum Trotz wird das Hohelied der Effizienzmessung und -steigerung gesungen, als handele es sich bei den Körpern der Athleten um eine kollektive Humanressource, deren "ungenutzte Potenziale" nur dem einen Zweck dienen, nämlich als Rohstoff zur Veredelung den Fabriken und Laboratorien staatlicher Medaillenproduktion zugeführt zu werden. Als gäbe es die Klagen der Kaderssportlerinnen und -sportler nicht, daß der internationale Überbietungswettbewerb immer härter und brutaler wird, was sich auch in den Verschleißraten, Verletzungshäufigkeiten und Risikoeinlassungen vieler Einzel- und MannschaftssportlerInnen niederschlägt, fordern die Funktionsträger des Spitzensports unverdrossen, daß der Leistungsaufbau von Athleten klarer auf die Entwicklung von Spitzenleistungen auszurichten und in vielen Sportarten die Traininigsbelastung in Quantität und Qualität zu steigern sei. [1] Nach DDR-Vorbild sollen künftig sogar bundesweite Programme von der Talentsuche bis zur Talentbindung auch schon in Grundschulen implementiert werden ("Bewegungs-Checks") - damit einer Exportnation wie Deutschland möglichst keine Medaillengewinner durch die Lappen gehen, mit denen der Staat internationales "Reputationsmanagement" betreiben kann, wie es im Wirtschaftsdeutsch heißt.

Der Kalte Krieg im Spitzensport ist noch kälter geworden, weil der Kaderathlet - nunmehr gesäubert von politischen oder ideologischen Schlacken - unverblümter denn je auf ein reines Funktionselement herabgewürdigt wird, dessen Existenz- oder Förderberechtigung sich maßgeblich aus der Zahl seiner Finalteilnahmen oder Podiumsplätze herleitet. "Die Leistungsausrichtung, die Erfolgsorientierung und das Streben nach einem Platz auf dem Podium oder eine Position in der Weltspitze" sei "keine Erfindung von Politik und Sportverbänden", behaupten die Architekten des neuen Reformwerkes, sondern "ein ureigenes Element des Spitzensports selbst". [2]

Niemals war der bürgerliche Leistungssport ein selbstbezügliches System oder gar "Selbstzweck". Stets war und ist er das Produkt politischer und ökonomischer Einflußnahmen oder Unterlassungen, Normsetzungen oder Verwertungsmöglichkeiten - das gilt erst recht für den von oben über die "goldenen Zügel" der Finanzen gelenkten Elitesport, dessen Organisatoren, Zuträger und Individuen nun in die moderne Evaluations-, Ranking- und Benchmark-Kultur aus der Privatwirtschaft eingebunden werden sollen. Ähnliche "Exzellenzinitiativen" zur Entfesselung des Wettbewerbs wurden schon im Schul- und Bildungsbereich mit teilweise katastrophalen Folgen durchgeführt.

2014 hatten sich Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière und Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), darauf verständigt, die Spitzensportförderung zu reformieren. Auslöser waren Medailleneinbußen im internationalen Wettbewerb durch deutsche Kaderathleten und die vornehmlich von Politik und Funktionsträgern des Spitzensports an die Wand gemalte Alarmmeldung, "der deutsche Sport" (DOSB) würde immer mehr ins Mittelmaß abrutschen - abzulesen am Medaillenspiegel.

Begleitet von der politischen Forderung nach "mindestens ein Drittel mehr Medaillen" (de Maizière), die Eliteathleten zu erringen hätten, um die mehr als 160 Millionen Euro zu rechtfertigen, die das BMI jährlich für angeblich allgemeingesellschaftliche Zwecke und Ziele in seine Vorzeigesportlerinnen und -sportler investiert, nahmen interne und äußere Experten knapp zwei Jahre lang das alte Fördersystem unter die Lupe. Herausgekommen ist ein 38seitiges Eckpunktepapier, das im September sowohl den Spitzensportverbänden als auch den Bundestagsabgeordneten vorgestellt wurde und wider alle gegenteiligen Behauptungen nicht den Athleten, sondern die fremdnützige, in ihren Widersprüchen kaum angemessen reflektierte Medaillenproduktion in den Mittelpunkt der Reform stellt. Der Athlet steht nur insofern im Fokus, als ihm unausweichlicher denn je eine Medaillenbringschuld auferlegt wird, deren Begleichung nicht nur über sein persönliches Wohl und Wehe entscheidet, sondern auch über das seiner Disziplin oder sogar Sportart. Denn nach der "neuen potenzialorientierten Fördersystematik" werden die einzelnen Disziplinen in drei Gruppen eingeteilt. Nach Maßgabe der Erfinder dieses Systems erhält nur das "Exzellenzcluster" die maximale Förderung. Während das "Potenzialcluster" im mittleren Wertungsbereich bereits weniger Fördermittel bekommt, kann das Cluster "mit wenig oder keinem Potenzial" grundsätzlich nicht mit einer (dauerhaften) Spitzensportförderung rechnen. Mit anderen Worten: Sportliche Bestleistungen allein reichen nicht - sie müssen medaillenträchtig sein, ansonsten droht "Abschmelzung der Fördergelder" bis zum Absturz auf das Existenzminimum.

"Zähneknirschend" sollen die Verbände den neuen Reformentwurf akzeptiert haben, ehe er am 19. Oktober bei einer Anhörung im Sportausschuß abermals einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert wurde. Die zu diesem Anlaß geladenen Experten, sofern sie nicht unmittelbar im Dienst der Spitzensportproduktion standen, ließen allerdings kein gutes Haar am neuen Fördersystem. Der Sportphilosoph Prof. Gunter Gebauer (Freie Universität Berlin) bemängelte, daß ein einäugig auf Medaillen ausgerichteter Sport, wie er international vorgetragen wird, in der Bevölkerung wenig Rückhalt habe. Das sehe man auch an den abgelehnten Olympiabewerbungen. Während der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Wolfgang Maennig (Uni Hamburg) den Medaillenfokus der Spitzensportreform und die progressive Verknappung von Fördergeldern für nicht erfolgreiche Sportarten nach dem wirtschaftsnahen Prinzip der "schöpferischen Zerstörung" erwartungsgemäß guthieß, die Bundeswehrsportförderung aber als zu ineffizient, weil nicht leistungstreibend genug, verwarf, sowie dem neuen "Potenzial-Analysesystem" (PotAS) grundlegende Mängel bescheinigte, erteilte Prof. Gebauer letzterer "Blackbox" eine klare Absage.

Das auf verstärkten Druck des BMI geschaffene Potenzial-Analysesystem PotAS, das die Transparenzforderungen der Öffentlichkeit befriedigen und gleichzeitig die von staatlicher Förderung abhängigen Sportverbände unter den Deckel mathematisch objektivierter Mittelzuteilung bzw. -verknappung bringen will, löst weit über Fachkreise hinaus großes Kopfschütteln aus. Treffend erklärte Prof. Gebauer, daß die Bestimmung eines Leistungspotentials mit Hilfe eines mathematischen Systems eine halsbrecherische Sache sei. Entgegen der Behauptung der Verfasser des Entwurfs könne man den zukünftigen Erfolg von Förderung nicht wissenschaftlich bestimmen, auch nicht mit einem Computer, erläuterte Gebauer. "Alle prognostischen Verfahren, die sich nicht auf gesetzesartige Aussagen stützen können, haben ein Problem. Ihr prognostizierter Zielzustand ist nichts anderes als eine Projektion."

PotAS stellt im Grunde ein computerbasiertes Berechnungsmodell dar, das perspektivisch die Erfolgs-/Medaillenpotentiale für die jeweils kommenden vier bis acht Jahre ermitteln und daran die Förderung entsprechend der drei Leistungscluster ausrichten soll. Es handelt sich dabei um ein sogenanntes neuronales Netz, das vom Mainzer Sportinformatik-Professor Jürgen Perl von der Johannes Gutenberg-Universität entwickelt wurde. Es soll bereits in mehreren Anwendungen erfolgreich eingesetzt worden sein, zum Beispiel bei Sportspielen zur Mustererkennung erfolgreicher Spielzüge und bei der Trainings-Wirkungs-Analyse. Was ein in diesem eingeschränkten Bereich erprobtes "neuronales Netz" (Fachname DyCoN) allerdings für das PotAS getaufte Kernelement deutscher Spitzensportförderung leisten kann, bleibt höchst umstritten. Werden Athleten, die die Spurbreite statistischer Wahrscheinlichkeit und mathematischer Vorhersagbarkeit verlassen haben, im Endeffekt durch Fördermittelentzug bestraft - eben weil sie rechnerisch kein "Medaillenpotenzial" aufweisen? Den Beweis des Gegenteils können Athleten naturgemäß niemals antreten, wenn sie der Algorithmus vorher kaltgestellt hat. Die Programmierer oder Fördersachverständigen hingegen haben gut gearbeitet, der Selektionsmechanismus funktioniert. Kritik kann immer darauf geschoben werden, daß dem Rechner keine "guten", "ausreichenden" oder "validen" Daten vorlagen ... das Primat maximaler Medaillenausbeute als solches wird nicht mehr in Frage gestellt.

Als Gründungspräsident der International Association of Computer Science in Sport (IACSS) dürfte Prof. em. Dr. Jürgen Perl ein veritables Interesse daran haben, daß sportinformatische Forschungsvorhaben und Modellbildungen weltweite Verbreitung und Anerkennung finden. Vor dem Hintergrund der digitalen Transformation der Gesellschaft, in der entpersonalisierte Entscheidungsroboter, Optimierungsmaschinen oder Meßautomaten immer mehr die Herrschaft über menschliche Arbeits- und Handlungsweisen übernehmen, während die auf Datenprofile reduzierten "Leistungsempfänger" ohnmächtig vor den Schaltern des "hart, aber gerecht" kalkulierenden Zuteilungsstaates stehen, liegen "Computer Science in Sport", die den Leistungsdarwinismus noch um den Faktor digital verdichteter Konkurrenzverhältnisse erweitern, voll im Zeitentrend.

Das in Mainz entwickelte neuronale Netz "DyCoN", aus dem PotAS hervorzugehen scheint, wird übrigens von der staatlich finanzierten Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert und in Kooperation mit der Deutschen Sporthochschule (DSHS) in Köln bearbeitet - was einmal mehr zeigt, welche finanziellen Impulsgeber und förderpolitischen Allianzen für den staatlichen Medaillensport tatsächlich maßgeblich sind. Wittern die Förderinstitutionen auf dem Gebiet der netzbasierten Bewegungs- und Verhaltensvorhersage vielleicht einen profitablen Zukunftsmarkt, gerade weil die Ressourcen immer knapper werden und Steigerungsraten nur noch über die Digitalwirtschaft zu erzielen sind, die den Menschen letzte Räume oder Nischen nimmt, ein Leben ohne in- und output-effiziente Leistungskontrolle zu führen?

Was früher in den "Hinterzimmern" der Sportpolitik an Medaillenzielen und Fördergeldern zwischen BMI und Spitzensportverbänden ausgehandelt wurde, führt heute in den Labyrinthen netzgestützter Potenzialanalysen und Expertenkommissionen sein zweifelhaftes Eigenleben fort. "Gefüttert" wird das perspektivische Berechnungsmodell PotAS mit etwa 20 Attributen bzw. 60 Unterattributen, die, wie Prof. Gebauer reklamierte, nicht etwa "Hardfacts" seien, sondern aus disziplinspezifischen Bewertungen und der Beteiligung von Experten hervorgehen. "Es wird nur der Anschein von Objektivität erweckt. Tatsächlich wird es ein Verfahren sein, bei dem Verbandsvertreter und Wissenschaftler ihre Deutung, also ihre Softfacts, in das System eingeben. Ob die Wissenschaftler dabei als Korrektiv der Funktionäre wirken werden, ist völlig unklar", insistierte Gebauer.

Die Frage indes, ob (Sport-)Wissenschaftler und Funktionäre nicht identische Interessen verfolgen, wenn sie mit informationstechnologischen Optimierungsmethoden dafür sorgen, daß der virulenten sozialen Frage, welchen Sport die Gesellschaft möchte, ein weiteres Mal ausgewichen wird, scheint kaum der Erwähnung wert zu sein. Es gilt offenbar, den "Normalbetrieb" des Hochleistungssports sicherzustellen, was sich auch in der Einbindung "institutioneller Partner" in die für die Verbesserung der Attribute zuständige PotAS-Kommission widerspiegelt, etwa von Vertretern des DOSB, der Trainer-Akademie Köln, des Bundesinstituts für Sportwissenschaft (BISp), des Instituts für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT), des Forschungs- und Serviceverbundes Leistungssport (FSL) oder der Stiftung Deutsche Sporthilfe (SDSH).

Bildet die PotAS-Kommission gewissermaßen eine Vorinstanz der Bewertung und Entscheidung, ehe die Daten durch den PotAS-Rechner gehen, so schließen sich danach noch sogenannte Strukturgespräche sowie Gespräche in der Förderkommission an. Hier sind ebenfalls zahlreiche Fachleute in der Regel sportinterner Provenienz am Werk, was dem Anspruch auf eine Förderstruktur, die, wie es im neuesten Konzept heißt, eine "in hohem Maße objektivierte Bewertungsgrundlage für die Erfolgspotenziale der Athleten, Sportarten, Disziplinen und Verbände" bilden soll, in umgekehrter Richtung Nahrung gibt. Verteilungskämpfe könnten sich bei diesen Gesprächen auf undurchsichtige Weise sogar noch zuspitzen. Die strukturelle Einbindung von Athletenvertretern ist ebenfalls fraglich, da sie ihre Anpassungsleistung in der Regel nicht in Zweifel ziehen und ihr höchstes Glück auf dem Siegertreppchen sehen.

Was also soll dieser gesamte PotAS-Prozeß, wenn am Ende der Medaillenarithmetik doch das staatliche Interesse steht, einzelnen Sportdisziplinen bei mangelnden Erfolgsperspektiven die Fördermittel zu streichen, um das Kesseltreiben im Spitzensport weiter anzuheizen? Ist eine Zuteilungsstruktur, die zweifellos Härtefälle erzeugt, "sozialverträglicher", wenn eine "objektive" Rechenmaschine in Gestalt eines Neuronalen Netzes dazwischengeschaltet ist, deren Innenleben nur noch von Experten - wenn überhaupt - durchschaut werden kann? Sollen nun auch im anpassungsfreudigen Spitzensport mathematische Prognosen und Projektionen als harte Fakten verkauft werden, um dem Kampf um letzte Leistungsreserven die digitalen Sporen zu geben?

Forcierte Medaillenjagd und "sauberer Sport" sind mitnichten Gegensätze, wie KritikerInnen oft meinen, sondern sie sind ein staatlich geschnürtes Investitionspaket für die Medaillen- und Anti-Doping-Industrie - trotz schwerwiegender Mängel attraktiv genug, daß am 3. Dezember bei der Mitgliederversammlung des DOSB auch die Funktionäre dem neuen Förderkonzept zustimmten. Zuvor hatte das Innenministerium deutliche Mittelzuwächse sowohl für den elitären Spitzensport als auch für die repressive Dopingbekämpfung avisiert. Die "unerfreuliche Nachbarschaft", in der man lande, wenn man die Menge von Medaillen zum obersten Ziel der Sportpolitik mache, wie Prof. Gebauer während der Anhörung im Bundestagssportausschuß anmahnte, ist nicht Rußland und auch nicht China, sondern es sind die Händler und Wechsler im eigenen Tempel, die Fördermittel gegen Blut, Schweiß und Tränen der Athleten aufwiegen und sich dabei moderner Rechenmaschinen wie PotAS bedienen.

Fußnoten:

[1] https://www.bundestag.de/blob/478762/a750f09d2fa2811d4141b18a3bed8b27/wortprotokoll-data.pdf.
57. Sitzung des Sportausschusses im Deutschen Bundestag am 19.10.2016.

[2] http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Nachrichten/Kurzmeldungen/2016/konzept-neustrukturierung-spitzensport.pdf?__blob=publicationFile.
Dokument erstellt am 23.11.2016.

6. Dezember 2016


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