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KOMMENTAR/260: Alte Wunden öffnen ... (SB)



War das der Auftakt zu einer medial gesteuerten Empathie-Kampagne, um die Bevölkerung wieder zu mehr Organspenden zu bewegen? Mehrere Presseagenturen, darunter dpa und sid, brachten kürzlich eine von den Zeitungen in unterschiedlicher Ausführlichkeit aufgegriffene Story über eine Brasilianerin, der dank des transplantierten Herzens des bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro nach einem Verkehrsunfall gestorbenen deutschen Kanutrainers Stefan Henze "ein neues Leben geschenkt" wurde. "Ein Tränenmeer strömte über das Gesicht von Ivonette Balthazar", berichtete "Die Welt" online von der überglücklichen 67jährigen, die gerade bei einem Drei-Kilometer-Straßenlauf an der Copacabana die Ziellinie überquert hatte und von ihren Gefühlen überwältigt wurde. Für die Seniorin, die vor der Organspende kaum noch sprechen und gehen konnte, sei es der erste Test ohne medizinische Überwachung gewesen. "Der erste Auftritt in Freiheit." [1]

Um ihren Hals baumelte ein Pappschild in Herzform mit der Aufschrift "Ich habe ein transplantiertes Herz", heißt es weiter. Dazu ein anrührendes Foto, das die sich die Tränen aus den Augen reibende Finisherin (zusammen mit ihrem Enkelsohn) unter der Titelschlagzeile "Das Herz des toten Kanutrainers läuft wieder" zeigt. Um die Organspende trotz der tragischen Umstände zu einem an Emotionalität kaum noch zu überbietenden Akt der Wohltätigkeit zu stilisieren, in dem sich der tote Spender, die hinterbliebene Familie und die überglückliche Empfängerin in Dankbarkeit die Hände reichen könnten, werden alle Schleusen sozialer Empathie geöffnet. Der Gedanke, daß der 35jährige Henze ein Schädel-Hirn-Trauma erlitt und drei Tage nach dem Autounfall verstorben war, treibe Balthazar immer wieder Tränen in die Augen, berichtet "Die Welt". "Jeden Tag, an dem sie sich mit ihrem Mann, ihren Kindern und Enkeln über ihr geschenktes Leben freut, 'weint eine andere Familie'. Balthazar würde zu gerne die Mutter ihres Lebensretters kennenlernen, um sie 'zu umarmen und ihr zu danken'".

Muß, wer diese Geschichte liest, nicht ein Herz aus Stein haben, wenn er sich nicht baldigst einen Organspendeausweis zulegt, um nach dem Vorbild von Stefan Henze Herz, Leber und beide Nieren zu spenden? Praktischerweise hat "Die Welt" gleich zwei Erklär-Videos der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in ihren Bericht integriert, die "die wichtigsten Antworten zur Organspende" liefern - jedenfalls aus Sicht der Transplantationsbefürworter. Um das scheue Wild, um dessen lebenswarme Eingeweide es geht, nicht zu verschrecken - in einer Bildunterschrift heißt es "20 Prozent der Deutschen äußern Angst und Unsicherheit gegenüber einer Spende" -, erklärt Thomas Biet von der Deutschen Stiftung Organtransplantation auf die Frage "Werde ich als Spender schneller für tot erklärt?", daß die Sorge "völlig unbegründet" sei. "Da sind schon mal zwei Ärzte daran beteiligt, die unabhängig voneinander den Tod feststellen müssen, und es kommen ja auch nur Menschen in Betracht, die auf einer Intensivstation unter einer Beatmungssituation versterben. Sie müssen sich viel intensiver um den möglicherweise künftigen Organspender kümmern", so Biet.

Der Komparativ "intensiver" kann schon stutzig machen. Wird sich etwa um Schwerverletzte, die nicht als Spender in Betracht kommen, weniger intensiv gekümmert? Und was kann es bedeuten, wenn sich der medizinische Apparat potentiellen Spendern intensiver widmet? De jure gilt der Hirntod (definiert als irreversibler Ausfall von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm) als Kriterium für eine legale Organentnahme. Kritiker der Transplantationsindustrie weisen immer wieder darauf hin, daß Leichenorgane nicht verpflanzbar sind. Die zu entnehmenden Organe müssen vielmehr frisch und vital gehalten werden, ebenso wie der gesamte Körper. Er wird künstlich beatmet und künstlich ernährt. Folglich wäre ein Hirntoter lediglich ein Sterbender, der nach wie vor Schmerzempfindungen, Nervenreflexe und andere körperliche Lebendsymptome zeigt, mögen letztere Zeichen auch umstritten sein. Was ihn tötet, ist die Organentnahme - und kein Mensch weiß, was dem Organspender beim finalen medizinischen Explantieren wirklich widerfährt. Die Bedenken könnte man als Metaphysik oder Spekulation abtun - wo doch die moderne Medizin auf dem Boden aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse eindeutige Definitionen, exakte Meßwerte und klare neurologische Kriterien vorzugeben scheint. Indes, würden die Ärzte nicht am Hirntodkonzept festhalten, sondern auch noch den Stillstand des Herz-Kreislauf-Systems abwarten müssen, wie Forderungen lauten, wären die Spenderorgane unter Umständen nicht mehr gebrauchsfähig - die Rationalität der Entnahmepraxis wird also auch und vielleicht sogar zuvorderst durch die Begehrlichkeiten der Transplantationsmedizin und den prospektiven Nutzen der Organempfänger bestimmt.

Massive staatliche wie private Werbekampagnen der Organspendelobby konnten die Ängste und Unsicherheiten bei einer zunehmenden Zahl von Bürgern, die eine Organspende ablehnen, nicht vertreiben. Diverse Skandale um manipulierte Wartelisten, verschleiernde Informationspolitik, umstrittene Hirntod-Kriterien sowie Organhandel, -raub und -verkauf lassen viele vor einer Organspende zurückschrecken. Wie das Deutsche Ärzteblatt unter Berufung auf DSO-Zahlen berichtete, befindet sich die Spendenbereitschaft in Deutschland weiterhin im Sinkflug. Im ersten Halbjahr 2017 hatten nur 412 Menschen ihre Organe gespendet - die geringste Zahl an Spendern in einem Halbjahr, die jemals gemessen wurde. Auch die Zahl der gespendeten Organe ging weiter zurück: Von 1.397 im ersten Halbjahr 2016 auf 1.331. Die Zahlen zeigten, daß der Negativtrend trotz aller Aufklärungs- und Werbekampagnen von Politik, Medizin und Krankenkassen nicht gestoppt sei, berichtete das Ärzteblatt. Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­ter Hermann Gröhe (CDU) rief die Medizin auf, eine Kultur zu schaffen, die die Organspende stärke. [2]

Trotz politischem Segen von oben und ausgefeilter Werbestrategien, die den Lebensrettungsaspekt betonen, Dankbarkeitsadressen ventilieren oder mit subtilen Methoden des Nudgings (Anstupsen) "junge Helden" zur reflektierten Organspende bewegen wollen, hat sich die Kultur des Sports bislang nicht als großartiger Reklameträger und Spendenbringer erwiesen, obwohl auf diesem Rekrutierungsfeld verschiedenste Lobbyorganisationen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens seit Jahren erheblichen Einsatz leisten.

Der ehemals hochrangige Tischtennisfunktionär und Vorstandschef der Stiftung Deutsche Sporthilfe, Hans Wilhelm Gäb, nach einer schweren Lebererkrankung selbst Träger eines transplantierten Organs, hatte mit Unterstützung prominenter Sportpersönlichkeiten die Initiative "Sportler für Organspende" ins Leben gerufen. Der eingetragene Verein rühmt sich als größte sportarten-übergreifendende soziale Aktion im deutschen Sport. "Als Mitglieder des 1998 gegründeten Vereins motivieren mehr als 100 Olympiasieger, Welt- und Europameister sowie Persönlichkeiten aus Medien und der Wirtschaft andere Menschen dazu, einen Organspendeausweis zu führen. Mit der von ihnen 2004 gegründeten gemeinnützigen und mildtätigen Kinderhilfe Organtransplantation (KiO) e.V. leisten die Sportler für Organspende auch direkte Hilfe", heißt es im Pressetext des Vereins. [3]

Ähnlich wie die Bundeswehr, die Sportsoldaten und -veranstaltungen dafür einsetzt, junge Menschen für den Soldatenberuf anzuwerben, ohne auf die kriegswirtschaftlichen Gründe für ihren humanen Materialbedarf einzugehen, bedient sich auch die Transplantationsmedizin des organisierten Sports, um auf Vorzeigeevents für mehr Spendenbereitschaft in der Bevölkerung zu werben. So preist etwa das Gesundheitsministerium die seit 1978 stattfindenden Weltspiele der Organtransplantierten (World Transplant Games) als "Erfolge der Transplantationsmedizin und die Bedeutung der Organspende". Nach Angaben des Gesundheitsministers zeigen die Athletinnen und Athleten eindrucksvoll, daß Organspende Leben rettet und Lebensqualität schenkt. "Die Spiele geben einen Anstoß, sich mit der Organspende auseinander zu setzen und eine persönliche Entscheidung zu treffen", so Gröhe. [4]

Um im Wettkampf zu zeigen, welche sportlichen Leistungen nach einer Transplantation möglich sind und um ihren Organen "Gutes" zu tun, streben auch Organtransplantierte nach persönlichen Bestleistungen und Medaillen. Der Verein Transdia-Sport Deutschland e.V. organisiert oder begleitet regelmäßig nationale und internationale Meisterschaften und nutzt den Sport als Werbeträger für die Organspende. So habe das "TransDia-Team" bei den diesjährigen Weltspielen in Málaga, wo erstmals auch Spender an den Wettkämpfen teilnehmen konnten, nicht nur 82 Medaillen für Deutschland geholt, wie der Verein stolz resümiert, sondern es sei den Teilnehmern auch "um die Dankbarkeit für die mit ihrer Transplantation von Niere, Herz, Leber, Lunge, Pankreas, Dünndarm oder Knochenmark gewährten zweiten Chance" gegangen. [5]

Ausdruck von Lebensqualität ist offenbar, wenn man für Deutschland Medaillen holen, oder, wie im Falle der Brasilianerin Ivonette Balthazar, einen Drei-Kilometer-Straßenlauf, wenn auch gehend, absolvieren kann. Es soll nicht in Zweifel gezogen werden, daß bedürftige Menschen durch eine Organspende eine ungeheure Bereicherung ihres Lebens erfahren, die sich davon Unbetroffene oft nicht einmal vorstellen können. Die Boulevarisierung des ernsten Themas läßt jedoch alle Alarmglocken läuten, ob hier nicht, wie so oft in der Sportunterhaltung, einmal mehr Emotionen geschürt werden, wo echte Aufklärung vonnöten wäre. Auffällig ist allemal, daß deutsche Medien in ihren Schlagzeilen überwiegend betonen, daß "Stefan Henzes Herz" weiterschlage und die Organe des "deutschen Kanuslalom-Trainers" Leben gerettet habe - ganz so, als bedürfe es für den Nachrichtenkonsumenten eines sportpatriotischen Unterscheidungsmerkmals, weil ihm das Schicksal einer 67jährigen Brasilianerin ansonsten schnurzpiepegal wäre.

Daß es überhaupt zu einer namentlichen Zuordnung von Spender und Empfängerin kam, so daß die Medien daraus eine individuelle Schicksalsstory mit Tränen der Trauer, des Glücks und der Dankbarkeit stricken konnten, stellt dem Transplantationsbetrieb ebenfalls kein gutes Zeugnis aus. In Deutschland läuft die Spende anonym ab, den Zuschlag bekommt derjenige, der das Organ am dringendsten braucht. Liegt keine Entscheidung zur Organ- und Gewebespende vor, werden die Angehörigen nach dem mutmaßlichen Willen der verstorbenen Person gefragt.

Medienberichten zufolge hat Ivonette Balthazar am Todestag von Stefan Henze (15. August 2016), dessen Familie einer Organspende zugestimmt haben soll, einen Anruf des Nationalen Instituts für Kardiologie bekommen. Im 207-Millionen-Einwohnerland Brasilien werden ähnlich wie in Deutschland wenig Organe gespendet. Die Organempfängerin habe damals aus der Zeitung erfahren, wer durch seinen Tod ihr Leben rettete, schreibt "Die Welt". Ob der namentlich zugeordnete Organtransfer offiziell bestätigt ist, darf bezweifelt werden, denn es wäre eine gesetzeswidrige Indiskretion. Die Gesundheitsbehörde des Bundeslandes Rio de Janeiro soll der Agentur SID bestätigt haben, daß die vier Organe von Henze erfolgreich transplantiert wurden, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Über die Transplantation des Herzens habe zuerst die brasilianische Tageszeitung "O Globo" berichtet. [6]

Gemäß der brasilianischen Gesetze darf der Name des Spenders eigentlich nicht genannt werden. "Aber was ist schon normal an dieser so tragischen Olympiageschichte?", fragt "Die Welt" und reklamiert den sportlichen Ausnahmezustand. Sollten diese Art des emotionalen Storytellings Schule machen und weitere Medienberichte auftauchen, in denen die Empfängerin mit dem toten Spender und den Hinterbliebenen herzerweichende Zwiegespräche führt, die mit dem gesellschaftlichen Erwartungsdruck absolut konform gehen, wäre in der Tat eine neue Form öffentlich zelebrierter Betroffenheits-"Kultur" geschaffen. Gemäß des Auftrags aus dem Gesundheitsministerium könnte sie der Organspende vielleicht sogar neue Impulse verleihen.

Daß die Geschichte in Brasilien ihren Ausgangspunkt nahm, könnte den mehr oder weniger zufälligen Umständen geschuldet sein. Gleichwohl ist bekannt, daß in dem tief in Arm und Reich gespaltenen Land insbesondere die Ärmsten noch nicht einmal eine ausreichende Gesundheitsversorgung haben, während in der Gesundheitsindustrie Milliarden in die technologisch hochentwickelte Ersatzteilmedizin investiert werden. Wäre es da nicht wesentlich erstrebenswerter, erst einmal den Sozialstandard der Menschen zu heben, damit die stillen und verdrängten Kapitel über verarmte BrasilianerInnen, die im Tausch gegen Geld, eine Arbeit, ein Dach über dem Kopf oder zur Deckung anderer Grundbedürfnisse ihre Organe zur Verfügung stellen, gar nicht erst geschrieben werden müssen?

Fußnoten:

[1] https://www.welt.de/sport/article169016417/Das-Herz-des-toten-Kanutrainers-laeuft-wieder.html. 25.09.2017.

[2] https://www.aerzteblatt.de/archiv/192768/Transplantationen-Zahl-der-Organspenden-weiter-ruecklaeufig

[3] https://www.pressetext.com/print/20170227016. 27.02.2017.

[4] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/2017/2-quartal/weltspiele-der-organtransplantierten.html

[5] https://transdiaev.de/sportveranstaltungen/weltmeisterschaften/wtg-2017-in-malaga

[6] http://www.sueddeutsche.de/sport/olympia-verstorbener-kanu-trainer-henzes-organe-retten-menschenleben-1.3124236. 17.08.2016.

6. Oktober 2017


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