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KOMMENTAR/275: Mit zweierlei Maas ... (SB)



Die Handball-Weltmeisterschaft in Ägypten (13. bis 31. Januar 2021) kann sich "Sportdeutschland" als großen Erfolg ans Revers heften. Nicht unbedingt in rein sportlicher Hinsicht, denn die corona-bedingt dezimierte Männerauswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) verpaßte das Viertelfinale und mußte sich mit einem der hinteren Plätze begnügen. Es ist vielmehr die Schweigeallianz aus Medien, Politik, Verbänden, Vereinen, Spielern, Athletenvertretern und Fans, die anläßlich des rund dreiwöchigen Turniers perfekt funktioniert hat. Während hiesige Funktionsträger kaum eine Gelegenheit ausließen, die politischen Mißstände in Belarus und den gewaltsamen Umgang mit der Opposition anzuprangern, um schließlich soviel (sport)politischen Druck aufzubauen, daß Minsk die geplante Austragung der Eishockey-WM in diesem Jahr aufgeben mußte, tauchten ähnliche Boykottaufrufe gegen das ägyptische Folter- und Menschenverschwinde-Regime nicht einmal am Horizont auf. Und das, obwohl sich "Europas letzter Diktator" Lukaschenko gegenüber dem ägyptischen Machthaber Abdel Fattah Al-Sisi wie der reinste Waisenknabe ausnimmt. Der bekannte Vorwurf, die freiheitliche Werte und Menschenrechte predigende westliche Welt würde mit zweierlei Maßstab messen, hat sich im Falle Ägyptens auf geradezu lehrbuchreife Weise bestätigt. Kein Medium, das Lukaschenko vorwarf, er wolle die Eishockey-WM für seine Propaganda-Show nutzen, ritt auch nur ähnlich gelagerte Attacken gegen Al-Sisi und die Handball-WM. Auch der elitäre Lobbyverein "Athleten Deutschland", der laut FAZ "die oppositionellen belarussischen Sportler maßgeblich unterstützt hatte", blieb in Sachen ägyptische SportlerInnen stumm.

Die Schweigemauer um die Welttitelkämpfe im Handball war so massiv, daß Meldungen im Vorfeld des Turniers, Ägypten würde von einer entsetzlichen Hinrichtungswelle heimgesucht, fast ohne öffentliche Resonanz blieben. Wie Amnesty International Ende letzten Jahres erklärte, seien allein im Oktober und November in dem Land mindestens 57 Männer und Frauen hingerichtet worden. Das seien fast doppelt so viele gewesen wie im gesamten vergangenen Jahr. Zugleich vermutete die Menschenrechtsorganisation, daß die Zahl der Hinrichtungen in Wirklichkeit sogar noch höher liege. [1] Dieselben Sportmedien, die nicht selten mit mahnendem Finger auf die Fußball-WM 1978 in Argentinien zu zeigen pflegen, als dort sportliche Heldengesänge angestimmt wurden, während die Militärjunta unweit der WM-Stadien Menschen folterte, vergewaltigte und hinrichtete, stellten sich mit Blick auf die aktuellen Unterdrückungsverhältnisse in Ägypten entweder dumm oder ignorierten diese fast vollständig. Bei der auch in Deutschland öffentlich ventilierten Erwägung eines WM-Boykotts der Handballer ging es niemals um die bedrohten, mißhandelten oder getöteten Menschen im Gastgeberland Ägypten, sondern ausschließlich um die Corona-Gefahren für die Spieler und Funktionäre - um das leibliche Wohl der Gäste also. Mehr als gelegentliche Pflichtkritik am skandalerprobten Präsidenten des Handball-Weltverbandes (IHF), dem Ägypter Hassan Moustafa, ließ die Hofberichterstattung nicht aufkommen.

Hatten erst kürzlich etwa 1200 Sportlerinnen und Sportler der Belarusian Sport Solidarity Foundation (BSSF) den internationalen Dachverband des Modernen Fünfkampfs (UIPM) mit Erfolg dazu gedrängt, Belarus die WM zu entziehen, so daß dessen Präsident Klaus Schormann schließlich einer Verschiebung der Titelkämpfe stattgab, so hätten ägyptische Sportlerinnen und Sportler von einer solchen Protestaktion bezogen auf die Handball-WM nicht einmal zu träumen gewagt. Wie "Die Zeit" im vergangenen Sommer berichtete, habe Al-Sisi seit der Machtübernahme 2014 einen Polizeistaat in Ägypten errichtet: "Die Staatsmedien sind gleichgeschaltet, kritische Journalistinnen und Journalisten werden beschattet und bedroht. Die sozialen Netzwerke werden überwacht, wer sich kritisch über den Präsidenten oder das Militär äußert, muss damit rechnen, verhaftet oder umgebracht zu werden. Zehntausende Menschen wurden aus politischen Gründen verhaftet, etliche Frauen und Männer sind seit Jahren verschwunden." Die Wochenzeitung spricht sogar davon, das ägyptische Regime habe in Deutschland einen "Überwachungsapparat" aufgebaut, um Oppositionelle auszuspionieren, einzuschüchtern und zu bestrafen [2].

Wer jedoch die hiesigen Sportnachrichten in den Print-, TV- und Hörfunkmedien verfolgt, wird kaum um die Erkenntnis herumkommen, daß es sich beim Anspruch des investigativen Sportjournalismus, Sport und Politik nicht mehr länger trennen zu wollen, Menschenrechtsverstöße unterschiedslos anzuprangern und Athleten dabei zu unterstützen, sich aus der Unmündigkeit des reinen Leistungserbringers zu befreien (siehe die Diskussion um die Lockerung der IOC-Regel 50, die Athleten verbietet, bei Olympischen Spielen z.B. gegen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren), nur um Lippenbekenntnisse handelt. Der Deutschlandfunk brachte es sogar fertig, einen kritischen Bericht über die Unterdrückung der ägyptischen Ultras zu veröffentlichen, die wie Millionen Ägypter "für ein Leben in Würde, für freie Wahlen, bessere Arbeitsbedingungen" protestierten, ohne auch nur mit einem Wort die aktuell stattfindenden Weltmeisterschaften im Handball zu erwähnen oder zumindest Parallelen zu ziehen - so als ob Fußball und Handball auf unterschiedlichen Planeten stattfänden. [3] Immerhin brachte der Deutschlandfunk aber ein Interview mit dem Abteilungsleiter des Handballvereins ASV Senden, Prof. Hans-Joachim Jungblut, der einen offenen Brief an den DHB-Präsidenten Andreas Michelmann geschrieben hatte, um eine Diskussion über den Umgang mit Ländern wie Ägypten anzuregen, die Menschenrechte brutal verletzten. Eine Resonanz von oben soll allerdings ausgeblieben sein. So war es auch, als der Rat des Weltverbandes IHF am 6. November 2015 die WM an Ägypten vergab, obwohl es bereits damals keine Zweifel an der Repressionspraxis des Militärregimes gab.

Angesichts der öffentlich zugänglichen Berichte von Human Rights Watch, Reporter ohne Grenzen, Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen, welche die Anzahl der politischen Gefangenen in Ägypten bei etwa 60.000 vermuten, sowie von Meldungen, daß ägyptische Sicherheitskräfte sogar Kinder verschleppten und folterten [4], kann man die selektive Wahrnehmung im hiesigen Sport-Medien-Komplex nur als der gesellschaftlichen Ideologieproduktion adäquate Schere im Kopf interpretieren: Belarus als Störgröße europäischer Machtprojektionen bei der Osterweiterung steht auf der Abschußliste, Ägypten hingegen muß als deutscher Wirtschaftspartner, Rüstungsabnehmer und "Stabilitätsanker" für westliche Hegemoniepläne im Nahen Osten erhalten bleiben - selbst wenn dies bedeutet, mit sportlich gestähltem Tunnelblick über Leichen zu gehen.

Fußnoten:

[1] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1145213.aegypten-entsetzliche-hinrichtungswelle-in-aegypten.html. 02.12.2020.

[2] https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-07/aegypten-ueberwachung-deutschland-spionage/komplettansicht. 22.07.2020.

[3] https://www.deutschlandfunk.de/zehn-jahre-arabischer-fruehling-die-revolutionaeren-ultras.1346.de.html?dram:article_id=490524.10.01.2021.

[4] https://www.hrw.org/de/news/2020/03/23/aegypten-sicherheitskraefte-verschleppen-und-foltern-kinder. 23.03.2020.

1. Februar 2021


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