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KOMMENTAR/290: Propagandanot ... (SB)



"Im Gegensatz zu ihren jeweiligen Regierungen sind diese paralympischen Athleten und Funktionäre nicht die Aggressoren. Sie sind hier, um wie alle anderen an einem Sportereignis teilzunehmen." [1]
(Andrew Parsons, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees)

Werden demnächst auch politisch missliebige BehindertensportlerInnen von den Paralympics ausgeschlossen, die im Rahmen von Kriegshandlungen der teilnehmenden Länder versehrt wurden? Bekanntlich nehmen an den Paralympischen Spielen immer mehr ehemalige Soldatinnen und Soldaten teil, von denen niemand ausschließen kann, ob sie sich nicht bei militärischen Konflikten Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben oder Opfer derselben geworden sind. So könnte beispielsweise einem afghanischen Versehrtensportler "aus Sicherheitsgründen" verboten werden, an den Spielen teilzunehmen, weil US-AmerikanerInnen es für "emotional und moralisch" unzumutbar halten, mit ehemals feindlichen Kombattanten die gleichen Wettkampfstätten zu benutzen oder im selben Hotel zu wohnen. Genausogut könnte eine Afghanin den Ausschluss der US-Athleten fordern, weil sie einem Land dienen, das bei seinen Drohnenüberfällen auch die Ermordung von unschuldigen Zivilisten als Kollateralschäden in Kauf nimmt. Und werden demnächst auch türkische Vereine, Verbände und SportlerInnen boykottiert, weil Erdogan in Nordsyrien und -irak auf die dortige Bevölkerung Bomben niedergehen lässt, ohne dass dieser Angriffskrieg auch nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit und Empathie in den Medien der NATO-Partnerländer erzeugt wie etwa der Stellvertreterkrieg von Russland und der NATO in der Ukraine?

Das sind nur einige Beispiele, die nach der Kehrtwende des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), aufgrund von Boykottdrohungen anderer Länder die russischen und belarussischen BehindertensportlerInnen von den Winterspielen in Beijing auszuschließen, an Brisanz gewonnen haben. Würde künftig die Austragung und die Teilnahme an Sportwettkämpfen davon abhängig gemacht werden, welche Länder gerade in offene oder verdeckte Kriege verwickelt sind oder innerhalb einer mehrwöchigen Frist den "Olympischen Frieden" gebrochen haben - was noch perverser wäre, denn Krieg ist auch dann nicht akzeptabel, wenn er außerhalb des "Olympic Truce" stattfände -, dann dürften wohl nur noch die wenigsten Staaten den Sport als Bühne der nationalen Selbstdarstellung nutzen können. Was ja auch nicht schlecht wäre, denn dann würde deutlich werden, dass alle Länder, auch der sich überlegen gebende "Wertewesten" mit seiner vermeintlich "regelbasierten Ordnung", ihre Aktien im Krieg haben. Bevor es allerdings dazu käme, würden wieder die doppelten Standards zur Anwendung kommen und die alten Verhältnisse fortschreiben - allen berechtigten Einwänden und Zweifeln zum Trotz.

Selbst die britische Zeitung "The Guardian", die aus einem Land kommt, das stramm auf Kriegskurs ist und die Ukraine mit Waffen aller Art regelrecht vollpumpt, meldet Bedenken an und fragt, ob jetzt auch saudi-arabische Athleten sanktioniert und Veranstaltungen in den Vereinigten Arabischen Emiraten aufgrund ihrer jeweiligen Rolle im anhaltenden Krieg und der humanitären Katastrophe im Jemen unterbunden werden müssten. Und ja, auch israelische Athleten könnten wegen des Umgangs mit den Palästinensern, den Human Rights Watch als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" und "Verbrechen der Apartheid" bezeichnet, gesperrt werden. [2]

Aufgrund des Drucks der britischen Regierung um den "Politclown" Boris Johnson, der Anfang April wesentlich dazu beigetragen haben soll, dass es während eines kurzfristigen Fensters der Annäherung zwischen Kiew und Moskau zu keinem Waffenstillstand kam, werden im kommenden Juni keine russischen und belarussischen TennisspielerInnen beim prestigeträchtigen Turnier in Wimbledon zugelassen. Diese Entscheidung wurde nicht nur von den Spielerorganisationen ATP (Herren) und der WTA (Damen) sowie von betroffenen SpielerInnen kritisiert, sondern auch von aktuellen oder ehemaligen ProfispielerInnen, die dem "westlichen Lager" zugerechnet werden. "Die WTA hat immer wieder betont, dass einzelne Sportlerinnen und Sportler nicht aufgrund ihrer Herkunft oder aufgrund von Entscheidungen der Regierungen ihrer Länder bestraft oder an der Teilnahme gehindert werden dürfen", teilt die WTA mit [3]. Der pauschale Bann gegen alle russischen und belarussischen Profis richtet sich auch gegen SpielerInnen, die keine politischen Bekenntnisse pro Russland abgegeben oder sich sogar gegen den Krieg ausgesprochen haben. Die ATP warnte vor einem "schädlichen Präzedenzfall" und betonte, dass Spieler aus Russland und Belarus weiterhin unter neutraler Flagge an Turnieren der Profiserie teilnehmen dürften.

Man kann indessen davon ausgehen, dass viele SportlerInnen unterschiedlichster politischer Systemrivalität ihre Meinung über den Krieg und seine Hintergründe gar nicht publik machen können, weil sie ansonsten Gefahr liefen, mit sozialen Sanktionen, beruflichen Nachteilen oder sonstigen Strafen leben zu müssen. Wovon Kunst- und Kulturschaffende bereits ein Lied singen können, gilt auch im Sportbereich. Ukrainische SportlerInnen, die öffentlich zu erkennen geben wollten, dass sie auch um die Tausenden von verletzten und getöteten Menschen während des achtjährigen ukrainischen Krieges gegen die beiden Volksrepubliken Lugansk und Donezk weinen (über die in den deutschen Leitmedien so gut wie nicht berichtet wird), würden von Selenskij, Klitschko und Co., die alle oppositionellen Parteien und Medien im Land ausgeschaltet haben und Kriegsdienstverweigerer gnadenlos verfolgen, sofort als VaterlandsverräterInnen geächtet werden. Deshalb hört man in den Medien auch nur Stimmen von ukrainischen SportlerInnen, die den Regierungskurs bedingungslos unterstützen.

Das gilt in Abstufung ebenso für Deutschland, das völkerrechtlich aufgrund von Waffenverschiebungen und der Ausbildung von ukrainischen Soldaten immer mehr zur tatsächlichen Kriegspartei wird. Wer mit den Wölfen der Ampelkoalition heult, auf einen ruinösen Siegfrieden mit Russland setzt und zeitenwendisch die Militarisierung der Gesellschaft bei gleichzeitiger Verarmung großer Bevölkerungsteile hinzunehmen bereit ist, dürfte im Augenblick weniger Probleme haben als jemand, der z.B. eine Sportförderstelle bei der Bundeswehr besetzt und eine von der Regierungslinie abweichende Meinung vertritt, etwa dergestalt, dass die NATO eine Mitschuld am Ukraine-Krieg trägt und die Lieferung schwerer Waffen an Kiew einer fahrlässigen, wenn nicht gar absichtsvollen Verhinderung von Verhandlungslösungen gleichkommt.

Wenn schon der ehemalige Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Ex-Brigadegeneral Erich Vad, die Empfehlung ausspricht, den laufenden Krieg zwischen Russland und der Ukraine vom Ende her zu denken ("Wenn wir den Dritten Weltkrieg nicht wollen, müssen wir früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik raus und Verhandlungen aufnehmen." [4]), dann sollte das erst recht für den organisierten Sport gelten, dessen VertreterInnen zwar hohe Ansprüche vom "Aufbau einer friedlichen und besseren Welt durch Sport und das Olympische Ideal" formulieren (siehe UN-Resolution), jedoch drauf und dran sind, die SportlerInnen zu Geißeln einer eskalierenden Isolations- und Kriegspolitik zu machen, die nicht Brücken baut, sondern für immer abbricht.

Vor der Entscheidung, die russischen und belarussischen Athleten von den Winterspielen in China auszuschließen, hatte IPC-Präsident Andrew Parsons noch erklärt: "Im Gegensatz zu ihren jeweiligen Regierungen sind diese paralympischen Athleten und Funktionäre nicht die Aggressoren. Sie sind hier, um wie alle anderen an einem Sportereignis teilzunehmen." Nach seiner drastischen Kehrtwende infolge dessen, dass sich Lettlands Curling-Team weigerte, gegen Russland zu spielen, wie die Süddeutsche Zeitung "leicht" verkürzt behauptete, will das IPC nun eine außerordentliche Generalversammlung im November einberufen. Die Mitglieder sollen darüber abstimmen, ob die Mitgliedschaft der russischen und belarussischen NOKs "ausgesetzt oder beendet" werden soll, wie der brasilianische IPC-Chef gegenüber dem Branchendienst insidethegames [5] bestätigte. Des Weiteren wird die Frage gestellt, ob die Einhaltung des "Olympischen Friedens" - eine Absichtserklärung zum Waffenstillstand eine Woche vor den Olympischen bis eine Woche nach den Paralympischen Spielen - eine "Mitgliedschaftsverpflichtung" sein soll. Bei Verstößen könnten dann Sanktionen gegen die Mitgliedsverbände verhängt werden - obwohl in der Regel weder die Funktionäre noch die SportlerInnen an Kriegshandlungen ihrer Regierungen beteiligt sind oder sie herbeigeführt haben.

Trotz der Unerträglichkeit des Krieges, seiner Leidtragenden, Mitläufer, Antreiber und Profiteure, galten die Paralympics bislang immer als Sportereignisse, bei denen die BehindertensportlerInnen aus gutem Grund nicht danach fragten, ob sie es wohl aushalten würden, mit Leuten sportlich zu konkurrieren, die aus Ländern stammen, deren Regierungen zahlreiche Kriegsverletzte und Leichen im Keller haben, vielleicht sogar die der eigenen Familien und Verwandten. Eine solche Aufrechnung von Schuld und Teilhaberschaft hätte die aktuell 182 Mitgliedsverbände im IPC mit Sitz in Bonn zweifellos auseinanderdividiert und das Ziel der Behindertenbewegung, allen Paralympioniken - auch den ehemaligen Soldatinnen und Soldaten - eine Teilnahme am sportlichen Wettstreit zu ermöglichen, unterminiert. Dieser internationale Konsens zum "Ruhme des Sportes" droht nun auseinander zu brechen, wenn das IPC selektive Kriegsklauseln in seine Statuten aufnimmt und den Krieg, über dessen Ursachen und Verursacher sich weitere Kriege zu entzünden pflegen, zur Richtschnur der Mitgliedschaft macht.

Anschauungsunterricht, dass Militaristen, Faschisten und Rassisten auch in Demokratien das Regiment übernehmen und die Massen mit weit nach rechts offenen Medien aufpeitschen können, dürfte der brasilianische IPC-Präsident Andrew Parsons in seinem eigenen Land zur Genüge haben. Nachdem der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro mit Unterstützung der Bullen-, Bibel- und Bleifraktion ("boi, bíblia e bala") 2019 die Macht übernommen hatte, ließ der ehemalige Fallschirmjäger kaum eine Böswilligkeit aus: Als Bewunderer der früheren Militärdiktatur bedauerte er, dass die damaligen Generäle nur gefoltert, aber ihre Opfer am Leben gelassen haben, hetzte gegen Homosexuelle, Frauen, Indigene, Arbeitslose und Minderheiten, sabotierte das Justizwesen, griff die Pressefreiheit an, machte soziale Reformen rückgängig und gab den Amazonasregenwald dem ungehinderten Raubbau preis. Ähnlich seinem großen Vorbild Ex-US-Präsident Donald Trump verdammte er die auch in Brasilien auflebende Bewegung "Black Lives Matter" und kanzelte die Aktivisten als "kiffende Terroristen" ab.

Dass man den Stellvertreterkrieg in der Ukraine, den das waffenliefernde westliche Bündnis offenbar bis zum letzten Ukrainer und vielleicht sogar über die Schwelle des Atomkrieges führen will, auch anders bewerten kann, als ihn die Ampelparteien und ihre Medien in Deutschland propagandistisch ausmalen, zeigen die Reaktionen in einem überwiegenden Teil der Welt. Zwar verurteilen die meisten Länder den Angriffskrieg, doch trotz massivster Interventionen seitens des westlichen Militärblocks beteiligt sich außer den Staaten der EU und Nordamerikas sowie deren sechs engsten asiatisch-pazifischen Verbündeten kein Land an den Sanktionen gegen Russland und Belarus. Auch das NATO-Land Türkei verzichtet auf Wirtschaftssanktionen (u.a. wegen des eigenen Kriegs gegen die Kurden). [6]

Damit dürfte auch höchst unwahrscheinlich sein, dass die gesamte Sportwelt Russland als Sportnation "ruinieren" will, um es einmal in der Baerbock-Sprache auszudrücken. Kaum Geringeres propagierte auch die neue Außenamtsstelle der Grünen, der Lobbyverein "Athleten Deutschland", der nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine den vollständigen Ausschluss von Russland und Belarus aus dem Weltsport als alternativlos hingestellt hatte, und sei es zum Schaden der davon betroffenen SportlerInnen. In den russophoben Medien wird zwar immer der Eindruck erweckt, als stünde die ganze Welt Gewehr bei Fuß gegen Russland. Doch dieser Eindruck täuscht. Noch sind nicht alle Stimmen, die das perfide Spiel der imperialistischen Staaten beim Namen nennen, verstummt. Während selbst der argentinische Papst vorsichtig mutmaßt, dass für die Eskalation des Ukraine-Konflikts womöglich "das Bellen der Nato an Russlands Türe" gesorgt habe, nimmt der brasilianische Präsidentschaftskandidat Luiz Inacio Lula da Silva, der bereits von 2003 bis 2010 Präsident Brasiliens war, ehe ihn eine politisch korrupte Justiz aus dem Weg räumte, kaum ein Blatt vor den Mund. "Auch die USA und die EU sind schuldig", sagte Lula in einem Interview des Time-Magazins, und er sprach neben dem russischen auch dem ukrainischen Präsidenten eine Schuld zu: "Er wollte den Krieg. Wenn er keinen Krieg gewollt hätte, hätte er ein wenig mehr verhandelt." [7]

Die Konstruktion und Inszenierung des Spitzen- und Breitensports als quasi ökonomie- und politikfreier Handlungsraum, der eine Welt für sich bildet und in dem sich die Akteure politisch neutral verhalten können, hat ihm gerade wegen der eklatanten Widersprüche, die KritikerInnen jedweder Couleur auf den Plan rufen, seine in weiten Teilen kommerzialisierte Existenz gesichert. Von blöd bis intellektuell - jeder kann im Theater des Sports seinen repressiv-toleranten Narren spielen. Dass unter den Bedingungen einer emotionalisierenden, Dramatisierung, Personalisierung, Rivalität, Siegermentalität und Nationalpathos befeuernden Sportberichterstattung auch antimilitaristische Positionen eine Chance auf Wahrnehmung hätten, die sich der polarisierenden Rhetorik der Systemkonkurrenz ("Ost" gegen "West") oder der Zeitenwende ("Wir" gegen "Putin") verweigern, kann getrost als traumtänzerisch bezeichnet werden.

Von den Militärs, die seit jeher für das heute insbesondere von den einst pazifistischen Grünen verfochtene Motto "Frieden schaffen mit Waffen" stehen, wird der Ukraine-Krieg offenbar viel nüchterner und unaufgeregter gesehen. Während sich der zivile westliche Mediensport in antirussischen Kraftmeiereien ergeht, will der International Military Sports Council (CISM) keine Sanktionen gegen Russland und Belarus verhängen. So sollen die diesjährigen Militärweltmeisterschaften der Kadetten (Military World Cadet Games), zu dem 1000 Kadetten aus 17 Ländern erwartet werden, weiterhin im August in St. Petersburg stattfinden. Der 1948 gegründete CISM hat 140 Mitglieder, darunter Deutschland, Russland, Belarus und die Ukraine, und will nach eigenen Angaben "den Sport zur Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung zwischen Ländern nutzen". [8] Damit hält ausgerechnet der internationale Militärsportverband jenes Ideal (noch) hoch, das ein großer Teil der olympischen Sanktions-Bewegung in den Staub der Geschichte treten will, indem sie den Militärsport von wertekriegerischer Seite aus überholt.

Fußnoten:

[1] https://taz.de/Paralympics-mit-Russland-und-Belarus/!5835505/. 02.03.2022.

[2] https://www.theguardian.com/sport/2022/apr/22/wimbledons-decision-bar-russian-belarusian-athletes. 22.04.2022.

[3] https://www.berliner-zeitung.de/news/wimbledon-2022-ausschluss-von-russen-ist-regelbruch-li.223437. 21.04.2022.

[4] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/waffenlieferung-merkel-berater-ukraine-krieg-russland-100.html. 12.04.2022.

[5] https://www.insidethegames.biz/articles/1122850/russia-belarus-ipc-membership-vote-egm. 07.05.2022.

[6] https://www.wiwo.de/politik/ausland/ukraine-krieg-infografik-welche-laender-russland-sanktionieren-und-wer-sich-enthaelt/28312140.html. 06.05.2022.

[7] https://time.com/6173232/lula-da-silva-transcript/. 04.05.2022.

[8] https://www.insidethegames.biz/articles/1122351/world-cadet-games-to-remain-in-russia. 25.04.2022.

17. Mai 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 174 vom 21. Mai 2022


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