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KOMMENTAR/292: Friedensfarce ... (SB)



Meiner Meinung nach ist es höchste Zeit, dass die olympische Bewegung und der Sport im Allgemeinen aufhören, bei allen Turnieren Nationalflaggen und Hymnen zu verwenden." [1] Maria Lasitskene, russische Olympiasiegerin im Hochsprung, in einem Offenen Brief an IOC-Präsident Thomas Bach

Schon immer war der für nationale Selbstwertgefühle und staatliche Repräsentation eingespannte Spitzensport umstritten. In der bürgerlichen Gesellschaft sollen sich die Lohnabhängigen nicht mit ihrer Klasse identifizieren, sondern mit den Leistungen "ihrer" Nationalfarben tragenden ElitesportlerInnen. Hymnen, Fahnen, nationaler Medaillenspiegel und der Einmarsch der Nationen am Eröffnungstag der Olympischen Spiele dienen nicht nur als Verstärker nationalpatriotischer Gefühlsduseleien, sondern bilden auch den symbolpolitischen Boden, auf dem in Friedenszeiten der Nationalstolz und in Kriegszeiten die Feindbildpropaganda erblühen. Wer diesen Morast mit breiter Brust betritt, wird allerdings unweigerlich einsinken.

Nachdem das Internationale Olympische Komitee (IOC) am 28. Februar, vier Tage nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine, die Empfehlung an die internationalen Sportverbände ausgab, keine Teams oder Aktiven aus Russland und Belarus an internationalen Wettbewerben zuzulassen (notfalls mit Start unter neutraler Flagge), verstrickt sich der internationale Sport immer tiefer in den selbstgemachten Widersprüchen. Zwar gibt das IOC stets vor, dass ihm die Athletinnen und Athleten das allerwichtigste seien, dennoch wurden ausgerechnet die "Arbeiter" sanktioniert und nicht etwa die hohen Funktionäre aus Russland und Belarus im IOC. Ähnlich wie im Krieg die Offiziere genießen auf dem Nebenkriegsschauplatz Sport offenbar auch die Offiziellen Sonderrechte vor dem gemeinen Fußvolk. Forderungen des sportjournalistischen Mainstreams, alle gleichermaßen zu sanktionieren, zäumt das Pferd allerdings vom propagandistischen Ende des Westens auf. Wenn schon Sanktionen, dann doch bitteschön auch für jene (westlichen) Kader und Nationen, die die "Integrität globaler Sportwettkämpfe und die Sicherheit aller Teilnehmer" (IOC-Diktion) gefährden, etwa wenn sie zu Boykotten gegen russische oder belarussische SportlerInnen aufrufen, verbal ausfällig werden, zu Hass anstacheln oder gar handgreiflich werden wollen, obwohl letztere in der Regel keine Verantwortung für den Stellvertreterkrieg von USA/NATO und Russland in der Ukraine tragen.

Tatsächlich soll das vom IOC und den internationalen Verbänden vorgehaltene Sicherheitsargument davon ablenken, dass ein großer Teil der westlich orientierten Funktionäre im Dienste ihrer sie alimentierenden Regierungen auch auf dem Felde des Sports einen Zermürbungskrieg gegen Russland entfacht haben. Die lange Vorgeschichte des Ukraine-Konfliktes wie auch die russische Perspektive kommt in den meisten Medien hierzulande gar nicht vor: Das damalige Versprechen der NATO, sich nicht weiter nach Osten auszudehnen, der NATO-Überfall auf Jugoslawien und die Zerschlagung des Landes, Russlands Bemühungen um Sicherheitsgarantien und eine Neutralität der Ukraine, der massive Beschuss des Donbass ab 2014 mit Tausenden von Toten, die Abwürgung alles Russischen durch ukrainische Sprachgesetze, die Interessen der USA an einer Schwächung Europas, der durch deutsche Waffenlieferungen verlängerte Krieg als grüner Innovationsmotor für die Energiewende u.v.m.. Russland wird zum alleinigen Aggressor gestempelt - damit ist das Feindbild zementiert und alle weiteren Fragen sind erledigt.

Unterdessen scheint es in vielen westlichen Ländern Standard zu werden, das Nationaltrikot von Sportlern mit der Uniform von Soldaten gleichzusetzen. Dann wären SportlerInnen Kriegssoldaten - nicht "Diplomaten im Trainingsanzug", um eine althergebrachte Wendung aus der Zeit des eisernen Vorhangs zu bemühen, sondern sportliche Frontschweine mit politischem Kampfauftrag. Eine solche Sicht der Dinge hat sich offenbar die ukrainische Hochspringerin Jaroslawa Mahutschich auf die Fahnen geschrieben. Anlässlich der Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Eugene/USA erklärte die 20jährige: "Ich möchte im Stadion keine Mörder sehen. Eine Menge russischer Sportler unterstützen den Krieg." Der amerikanischen Nachrichtenagentur AP gegenüber sprach sie von "Killern", für die es keinen Platz in der Leichtathletik geben dürfe. Die westlichen Medien nahmen die ebenso plakative wie pauschale Schuldzuweisung begierig auf, ohne z.B. zu erwähnen, dass die Ukrainerin selbst Offizierin in der Armee ihres Landes ist und mit härtesten Konsequenzen zu rechnen hätte, würde sie etwas anderes als die nationale Propaganda repetieren.

Offenbar hat Mahutschich inzwischen ihre Lektion gelernt. Bei den Olympischen Spielen in Tokio hatte sie die russische Goldmedaillengewinnerin Maria Lasitskene nach dem Hochsprungfinale freundschaftlich umarmt und sich mit ihr fotografieren lassen. Das war ihr damals nicht nur von vielen ukrainischen Nationalisten übelgenommen worden, sondern auch von der stellvertretenden ukrainischen Verteidigungsministerin Anna Malyar, die Mahutschich sofort zum Rapport lud. Tenor des Rüffels von oben: Der Russe ist vor allem Feind, sportliche Gesten sind zu unterlassen.

Nachdem sich die ukrainische Hochsprungmeisterin aufgrund des Krieges aus ihrem Land abgesetzt hatte, avancierte sie schnell zur Heldin des Widerstandes in den westlichen Medien. Trotz widrigster Umstände bei ihrer Flucht mit dem Auto gewann sie im März dieses Jahres bei der Hallen-WM in Belgrad Gold und im Juli bei der WM in Eugene Silber. Laut FAZ gehöre ihre Story zu den beliebtesten Durchhalte-Geschichten unter ihren Landsleuten. "Die kämpferische Ukrainerin versteht Hochsprung als Mittel der Politik und des Widerstands gegen Russland", sekundierte die konservative FAZ [2]. Mit der Silbermedaille in Eugene habe man dem "Sportfanatiker" Putin, der die Werte des Sports immer nur vergewaltigt habe, um sein Renommee aufzupolieren, "einen richtigen Stich ins Herz versetzt", glaubt indessen der Präsident des ukrainischen Leichtathletikverbandes Jewgeni Pronin. [3]

Damit ist die Propagandaschlacht im olympischen Sport, der sich eigentlich von Propaganda freihalten wollte, voll entfacht. Jaroslawa Mahutschich glaubt wie ihr Schauspieler-Präsident Selenskij, dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird und will jetzt auch nichts mehr von ihrer russischen Konkurrentin Maria Lasitskene wissen. Die Olympiasiegerin hatte zuletzt in einem Offenen Brief Thomas Bach (IOC-Präsident und FDP-Mitglied) wegen seiner Empfehlung kritisiert, russische Athleten und Funktionäre nach dem Einmarsch in der Ukraine zu sperren.

"Ich bin mir nicht sicher, ob Sie mich kennen, denn wenn ich Ihre jüngsten Äußerungen und Entscheidungen lese, habe ich den starken Verdacht, dass Sie der Politik schon viel näher stehen und sich von den Athleten und dem Spitzensport im Allgemeinen weiter entfernt haben", sagte Lasitskene, die innerhalb der letzten sieben Jahre insgesamt vier Jahre lang nicht die Möglichkeit hatte, an internationalen Wettkämpfen teilzunehmen, weil Bach, aber auch der World-Athletics-Präsident Sebastian Coe jedesmal ihren russischen Pass aus dem Ärmel zögen, um sie zu sperren.

Lasitskene äußerte in ihrem Brief ihr Mitgefühl für die ukrainischen Sportler: "Und ich weiß immer noch nicht, was ich ihnen sagen soll oder wie ich ihnen in die Augen schauen soll. Sie und ihre Freunde und Verwandten erleben gerade, was kein Mensch jemals fühlen sollte. Ich bin mir sicher, dass nichts davon jemals hätte passieren dürfen. Und keine Argumente können mich davon abbringen, diese Meinung zu ändern." Die mehrfache Weltmeisterin warf Bach vor, nichts darüber wissen zu wollen, wie die russischen Sportler angesichts der jüngsten Ereignisse in der Ukraine leben. "Wenn Ihnen das Schicksal der Athleten wirklich am Herzen läge, würden Sie von ihnen verlangen, offen über diese Ereignisse zu sprechen, und stattdessen versuchen, die Welt über den Sport zu vereinen. Aber Sie haben sich für die für Sie einfachste Lösung entschieden - alle aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft zu suspendieren." Lasitskene wirft Bach vor, den Krieg mit seiner Entscheidung nicht beendet, sondern im Gegenteil, einen neuen Krieg um den Sport und innerhalb des Sports ausgelöst zu haben, den man unmöglich eindämmen könne.

Unter Bach ist der hehre Anspruch des olympischen Sports, Brücken der Völkerverständigung und des Friedens zu bauen, endgültig zu Bruch gegangen. Das hat unter anderem auch damit zu tun, dass der olympische Internationalismus immer schon ein Fest nationaler Staatenkonkurrenz war, bei dem zwar Gemeinschaftsgefühle beschworen und auch erlebt werden, am Ende aber die Medaillenzahl zeigt, wer im Ringen um nationale Anerkennung und internationale Repräsentanz Weltgeltung besitzt und wer nicht. Im sozialistischen Sinne meinte Internationalismus ursprünglich einmal die Überwindung der die Menschen trennenden Kategorien Volk und Nation - ganz einfach, weil sie ausgrenzend und kriegstreibend sind.

Die russische Spitzensportlerin Maria Lasitskene, die aus einem Land kommt, in dem auch jede Menge Patrioten und Nationalisten zu Hause sind, wagt sich mit ihrer Kritik an Bach, Coe & Konsorten weiter vor als viele Athleten aus dem Westen, die ernstlich glauben, sie würden im durchkommerzialisierten Sport demokratische Werte verteidigen, indem sie die Boykott- und Sanktionspolitik ihrer Regierungen fortbetreiben. So schreibt die 29jährige Offizierin der Russischen Streitkräfte, was auch viele Bürger, Journalisten und Wissenschaftler hierzulande fordern: "Trotzdem ist es meiner Meinung nach höchste Zeit, dass die olympische Bewegung und der Sport im Allgemeinen aufhören, bei allen Turnieren Nationalflaggen und Hymnen zu verwenden."

Damit hat sie überall auf der Welt mächtige Gegner auf den Plan gerufen, denen auch ein Sanktionsmittel gegen missliebige Sportnationen verloren ginge, würde Lasitskenes Vorschlag in die Tat umgesetzt werden. Erst vor einem Monat hatten Sportminister aus 35 Ländern, darunter 25 Länder der Europäischen Union sowie Japan und die Vereinigten Staaten, die Internationalen Sportverbände (IFs) aufgefordert, ihre Mitglieder aus Russland und Belarus wegen des Krieges in der Ukraine zu suspendieren. SportlerInnen, die dennoch an internationalen Wettkämpfen teilnehmen dürften, müssten auf Nationalflaggen, Symbole oder Hymnen verzichten, hieß es weiter. Ihre öffentlichen Äußerungen müssten zudem überwacht werden, um sicherzustellen, dass sie Neutralität demonstrieren und nicht behaupten, den russischen oder weißrussischen Staat zu vertreten. [4]

Was aber, wenn der politischen Gesinnungspolizei der kriegsfördernde Nationalismus und seine Symbole abhanden kämen? In vielen Ländern sind Nationalflagge und Hymne geradezu heilig. Man denke nur an die USA. Wie selbst Deutschlandfunkkultur schon vor Jahren berichtete, werde in allen großen Sportarten der USA vor jedem Spiel die Hymne gespielt und erwartet, dass sowohl Zuschauer als auch Athleten dafür aufstehen und ihre Hand aufs Herz legen. Bei Top-Begegnungen flögen Militär-Kampfjets in der Halbzeit übers Stadion. "Das Pentagon zahlte Profiteams fast sieben Millionen Dollar Steuergelder, damit sie am Rand von Spielen aktive Militärs und Kriegsveteranen ehren. Navy und Army haben ihre eigenen College-Footballmannschaften. Die Liste der Verbindung zwischen Sport und Patriotismus in den USA ist endlos." [5]

Genauso endlos wie die Friedensfarce des IOC?

Fußnoten:

[1] https://www.insidethegames.biz/articles/1124257/lasitskene-bach-athletics-russia. 09.06.2022.

[2] https://www.faz.net/aktuell/sport/leichtathletik-wm/fuer-hochspringerin-jaroslawa-mahutschich-glaenzt-silber-wie-gold-18186284. html. 20.07.2022.

[3] https://www.welt.de/sport/leichtathletik-wm/article240013215/Leichtathletik-WM-Versetzen-Putin-auch-mit-Silbermedaille-Stich-ins-Herz.html. 20.07.2022.

[4] https://www.insidethegames.biz/articles/1125177/sports-ministers-35. 02.07.2022.

[5] http://www.deutschlandfunkkultur.de/sport-und-patriotismus-in-den-usa-red-white-and-blue-am.966.de.html?dram:article_id=378223. 05.02.2017.


8. August 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 176 vom 13. August 2022


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