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TIERVERSUCH/704: "Der Paradigmenwechsel erfolgt bereits" (tierrechte)


tierrechte 4.16 - Nr. 77, Dezember 2016
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V

Tierversuche: "Der Paradigmenwechsel erfolgt bereits"

Dr. Christiane Hohensee und Christina Ledermann


Wirksame Strategie & kluge Taktik

In dieser Ausgabe stellt Ihnen das tierrechte-Magazin Persönlichkeiten vor, die sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise für Tiere einsetzen. Sie kommen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen wie Wissenschaft, Behörden, Politik, Rechtswissenschaft, Landwirtschaft, Finanzwirtschaft und Literatur. Sie sind nicht alle klassische TierrechtlerInnen. Darauf kam es und auch nicht an. Wir fanden es entscheidend, dass ihr Engagement wirkt. Dass es das Potenzial hat, etwas für die Tiere zu verändern. Diese Menschen leben uns vor, dass es viele Wege gibt, diese Welt besser zu machen.


Der Tierarzt und Biologe Prof. Dr. Franz Paul Gruber kennt die Welt der Wissenschaft und das Konfliktfeld Tierversuch seit Jahrzehnten. Seit 1982 beschäftigt er sich mit Alternativen zum Tierversuch. Seit Mitte der 1980er Jahre arbeitet er für die Zeitschrift ALTEX [1], die sich mit Alternativen zum Tierversuch beschäftigt. Seit 2005 ist Gruber Präsident der Doerenkamp-Zbinden-Stiftung [2], die mehrere Lehrstühle für Alternativmethoden finanziert.


Gruber ist Mitglied in mehreren Gremien, die sich mit der wissenschaftlichen Bewertung von Alternativmethoden befassen. Bevor er sich ganz den tierversuchsfreien Verfahren widmete, arbeitete Gruber als Assistenzprofessor an der Freien Universität Berlin am Institut für Versuchstierkunde. Von dort führte ihn sein Weg an die Universität Konstanz, wo er mit der Planung und Ausführung der Tierforschungsanlage betraut war, die er bis 1993 leitete. Seit Ende der 1980er Jahre arbeitete er als Tierschutzbeauftragter und gehört bis heute der Tierversuchskommission des Regierungspräsidiums Freiburg an.


Die Leitung der Tierforschungsanlage veränderte seine Sicht

Er berichtet, die Leitung der Tierforschungsanlage habe seine Sicht auf die Dinge verändert. Ein Schlüsselerlebnis sei die Berufung in die Tierversuchskommission gewesen: "Dies erweiterte meinen Horizont über das, was an Universitäten geforscht wurde, ganz gewaltig. Viele der Anträge, die ich in den nächsten 28 Jahren zu lesen hatte, bestärkten meine Zweifel an der Rechtmäßigkeit auch der gesetzlich zu genehmigenden Versuche. Mir wurde mehr und mehr klar, dass es vielfach um das 'Recht der Stärkeren' auf Karriere ging und nicht um wirklichen Fortschritt", sagt Gruber im Rückblick. Im Rahmen seiner Arbeit in der Tierversuchskommission gelang es ihm, die Genehmigung für Versuche an Primaten zu widerrufen. Dem Experimentator konnte nachgewiesen werden, dass die Belastung für die Tiere sehr viel höher war, als er im Antrag angegeben hatte. Gefragt nach seinen Beweggründen, sich für die Entwicklung von tierversuchsfreien Verfahren einzusetzen, entgegnet Gruber, es würde nie ernsthaft hinterfragt, welchen Weg die medizinische Forschung eingeschlagen hätte, wenn man nicht Jahrzehnte auf klinisch kaum relevante und schlecht reproduzierbare Methoden wie den Tierversuch gesetzt hätte. "Vielleicht", gibt er zu bedenken, "wären wir ja ohne Tierversuche viel weiter als heute."


Der Tierversuch wird heute auch wissenschaftlich hinterfragt

Der wirkungsvollste Ansatz zur Beendigung von Tierversuchen ist seiner Meinung nach die "Devalidierung des Tierversuchs". Man müsse aufzeigen, dass die Ergebnisse keinen medizinischen Fortschritt brächten. Auf diesem Gebiet liefen gerade viele Untersuchungen. Diese zeigten, warum so viele Medikamente wieder vom Markt genommen werden müssen. Hier sieht er eine klare Weiterentwicklung: Heute würden, anders als früher, die Ergebnisse von Tierversuchen nicht nur aus einem Bauchgefühl heraus angezweifelt. An diesem Thema arbeiteten mittlerweile hochkarätige WissenschaftlerInnen - weswegen sich dem andere Forschende nicht mehr entziehen könnten.


Sensationell: Abkehr der US-Regierungsstellen vom Tierversuch

Die Zukunftsperspektiven seien gut: "Ich sehe allmählich die Früchte unserer Arbeit, die wir uns so vor dreißig Jahren kaum zu erhoffen wagten. Dass nun sogar in den USA Regierungsstellen die Abkehr vom Tierversuch verlangen, ist sensationell", sagt Gruber. Der Paradigmenwechsel hin zu den neuen Methoden sei schon erfolgt, er gehe nur so langsam voran, dass es ein Außenstehender kaum so richtig bemerke. Sorge macht ihm die Grundlagenforschung. Offenbar nütze es der wissenschaftlichen Karriere noch immer, gentechnisch veränderte Mäuse in die Welt zu setzen. Trotz der massiven und größtenteils mit Steuergeldern finanzierten Lobbyarbeit der Forschungsgesellschaften pro Tierversuch sei im Bereich der tierversuchsfreien Verfahren jedoch schon viel erreicht worden.


Tierversuchsfrei: Lehrstühle beschleunigen die Entwicklung

Als Mittel zur Beschleunigung der Entwicklung tierversuchsfreier Verfahren betrachtet er die Einrichtung von Lehrstühlen, die sich ausschließlich mit der Erforschung von Alternativmethoden beschäftigten. Er moniert, dass bisher weder für die wichtige "Devalidierung des Tierversuchs" noch für die Förderung neuer Ersatzmethoden ausreichend Fördermittel bereitgestellt würden.

Nach über 30 Jahren, die er sich für tierversuchsfreie Verfahren einsetzt, ist Franz Gruber Realist geblieben. Wer auf Alternativmethoden setze, müsse eine gehörigen Portion Frustresistenz mitbringen, meint er. Ihm sei klar, dass er das Ende aller Tierversuche nicht mehr erleben werde. Doch er wünsche sich, dass er wenigstens das Ende aller belastenden Tierversuche noch erleben könne.


Ein ausführliches Interview mit Prof. Dr. Franz Paul Gruber lesen Sie unter:
www.mag.tierrechte.de/95

[1] ALTEX (Alternativen zu Tierexperimenten) Das Magazin veröffentlicht Artikel über Forschung und Entwicklung von Alternativen zu Tierversuchen. Es ist neben dem Journal ATLA (Alternatives to Laboratory Animals) weltweit das Einzige zu diesem Thema.
www.altex-edition.org

[2] Die Doerenkamp-Zbinden Stiftung hat in den letzten zehn Jahren 20 Millionen Schweizer Franken in Lehrstühle für tierversuchsfreie Verfahren in Baltimore, Genf, Konstanz, Tiruchirappalli (Indien) und Utrecht investiert.
www.doerenkamp.ch

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Quelle:
tierrechte 4.16 - Nr. 77/Dezember 2016, S. 5
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
eMail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
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Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2017

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