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TIERVERSUCH/706: Virtuelle Labore bieten viele Vorteile (tierrechte)


tierrechte 4.16 - Nr. 77, Dezember 2016
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V

Virtuelle Labore bieten viele Vorteile

von Dr. Christiane Hohensee und Christina Ledermann


Wirksame Strategie & kluge Taktik

In dieser Ausgabe stellt Ihnen das tierrechte-Magazin Persönlichkeiten vor, die sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise für Tiere einsetzen. Sie kommen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen wie Wissenschaft, Behörden, Politik, Rechtswissenschaft, Landwirtschaft, Finanzwirtschaft und Literatur. Sie sind nicht alle klassische TierrechtlerInnen. Darauf kam es und auch nicht an. Wir fanden es entscheidend, dass ihr Engagement wirkt. Dass es das Potenzial hat, etwas für die Tiere zu verändern. Diese Menschen leben uns vor, dass es viele Wege gibt, diese Welt besser zu machen.

Früher führte der Physiologe Dr. Hans Albert Braun mit seinen Studierenden selbst Versuche mit Fröschen durch. Heute arbeitet er an der Entwicklung realitätsnaher virtueller Labore, die ganz ohne den Einsatz von Tieren auskommen.


Die akademische Vita von Hans Albert Braun liest sich beeindruckend. Er studierte Elektrotechnik mit Schwerpunkt Elektrobiologie und Humanbiologie mit Schwerpunkt Physiologie. Es folgte die Promotion und Habilitation nach langjähriger Forschungs- und Lehrtätigkeit am physiologischen Institut der Universität Marburg. Braun kann auf eine umfangreiche Forschung mit weit mehr als 100 wissenschaftlichen Publikationen verweisen und war Mitherausgeber verschiedener wissenschaftlicher Zeitschriften. Obwohl er seit vier Jahren im Ruhestand ist, leitet Braun noch immer die Arbeitsgruppe Neurodynamik - und programmiert sogenannte "Virtual Physiology Labore". Dies sind virtuelle Lernprogramme, mit denen Studierende der Medizin in realistisch erscheinenden, voll ausgestatteten Laboratorien selbstständig auf dem Computerbildschirm experimentieren können. Die Software-Serie wird mittlerweile weltweit verkauft.


"MacFrog" statt Frösche

"Was mich zur Entwicklung von Alterativmethoden brachte war weniger ein Schlüsselerlebnis denn eine Kette von Ereignissen und Erfahrungen. Meine Beweggründe hatten ursprünglich auch nicht primär mit dem Tierschutz zu tun. Sie lagen eher in meiner Vorliebe am Experimentieren (...)", sagt Braun rückblickend. In studentischen Praktika führte Braun zu Beginn Versuche mit Fröschen durch, um den angehenden Medizinern die Funktionsweisen von Muskeln und Nerven zu vermitteln. Doch er besann sich anders und begann, statt an Organpräparaten von getöteten Tieren virtuelle Präparate zu entwickeln. Die Idee: Die Studierenden sollten an virtuellen Präparaten in möglichst realitätsnahen Computerlaboren arbeiten. Die erste Computersimulation, mit der Braun mehrere internationale Preise gewann, hieß dann auch bezeichnenderweise "MacFrog". Als die ersten Versionen vorlagen und die Studierenden in den Praktika damit arbeiteten, stellten Braun und seine Kollegen fest, dass die Simulationen nicht nur einen ethischen Vorteil hatten. Sie boten auch erhebliche didaktische Vorteile, da sie zu selbständigem Arbeiten und Nachdenken anregen.


Harte Attacken vonseiten der Kollegen

Während die meisten Studenten den Einsatz der virtuellen Labore als neue Technik computergestützter Lehre begrüßten, sahen viele seiner Kollegen in der Entwicklung der Simulationen einen Angriff auf ihr Recht, Tierversuche durchzuführen. Sie witterten Verrat in den eigenen Reihen und Braun war unversehens mit teilweise harten Attacken gegen seine Person konfrontiert. Doch Braun machte weiter. Mittlerweile sieht er die Erfolge seiner jahrzehntelangen Arbeit. Er ist sich sicher, dass sich die Entwicklung von tierverbrauchsfreien Methoden in der Lehre fortsetzen wird. Nicht nur aus ethischen Gründen, sondern schon deswegen, weil Experimente mit Tierpräparaten in Massenstudien wie der Medizin zu aufwendig sind. Dieser Aufwand sei bei immer weniger Lehrenden nicht mehr zu verantworten, sagt Braun. Denn dies ginge nicht ohne Abstriche an der Qualität der Lehre. Er erwartet, dass, abgesehen von der Chirurgie, Experimente mit Organpräparaten von Tieren weitgehend aus den regulären Curricula verschwinden werden.


Problem: "Tierverbrauch" in der Forschung

Er gibt aber auch zu bedenken, dass der "Verbrauch" an Tieren in der Forschung sicher noch um ein Vielfaches höher sei als in der Lehre. Insofern müsste in der Forschung noch viel mehr als in der Lehre für tierversuchsfreie Verfahren getan werden - und zwar nicht nur an Universitäten, sondern beispielsweise auch in der Pharmaindustrie. In diese Richtung ziele ein großes EU-Exzellenznetzwerk unter dem Titel "Computer-Simulations for Drug Development", kurz "BioSim", das Braun 2005 mitinitiiert hatte. Die Idee war, die bei der Medikamentenentwicklung geforderten Tierexperimente und klinischen Studien durch vorgeschaltete Computersimulationen zielgerichteter zu planen. Dadurch konnte beispielsweise die Zahl der eingesetzten Tiere reduziert werden. Dies ersparte Tieren und Patienten unnötiges Leiden. Gleichzeitig würde die Medikamentenentwicklung dadurch effektiver und kostengünstiger. Ein Nachfolgeprojekt ist derzeit in Vorbereitung.


Gewünscht: Eine kritischere Haltung der Studierenden

Braun wünscht sich nicht nur, dass die Entwicklung von tierversuchsfreien Verfahren weitergeht, er wünscht sich grundsätzlich auch eine kritischere Haltung der Studierenden gegenüber Lehrinhalten. Studierende der sogenannten Lebenswissenschaften, insbesondere der Medizin, sollten sich bei jedem Experiment sehr genau überlegen, ob der eventuelle Erkenntnisgewinn den Aufwand und das zu erwartende Leiden nicht nur bei Tierversuchen, sondern auch bei klinischen Studien am Menschen rechtfertige.


Ein ausführliches Interview mit Dr. Hans Albert Braun lesen Sie unter:
www.mag.tierrechte.de/98

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Quelle:
tierrechte 4.16 - Nr. 77/Dezember 2016, S. 8
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
eMail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
tierrechte erscheint viermal jährlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Januar 2017

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