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TIERVERSUCH/791: Neue Teststrategie bahnt den Weg (tierrechte)


Magazin tierrechte - Ausgabe 3/2019
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V

Bahnt den Weg: Neue Teststrategie

von Carolin Spicher und Dr. Christiane Hohensee


Laut Industrie in der EU und in den USA besteht ein großer Bedarf an alternativen Methoden, um zeit- und kosteneffizienter Substanzen produzieren zu können, die unschädlich sind. Dieser Bedarf kann nur durch neue, tierversuchsfreie Verfahren gedeckt werden. Diese müssen aber erst komplett entwickelt und dann zügig in die gesetzlichen Richtlinien aufgenommen werden.


Gemeinsam mit der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der amerikanischen Umweltschutzbehörde (EPA) und Wissenschaftlern weltweit entwickelt die europäische Validierungsbehörde EURL ECVAM derzeit eine kosteneffiziente Strategie, um ENT-Gefahren ermitteln zu können. Der Schwerpunkt liegt auf einer zuverlässigen in-vitro-Testbatterie, vorzugsweise auf Basis von humaninduzierten pluripotenten Stammzellen.(1)


Abgestufte Teststrategie

Die Idee einer solchen Strategie ist, die komplexen Prozesse der Gehirnentwicklung in einzelne räumlich und zeitlich getrennte Entwicklungsschritte zu zerlegen und für jeden Schritt einzelne Tests zu entwickeln. Die verfügbaren in-vitro-Tests sollen zusammen mit in-silico-Methoden (computerbasierte Modelle), nicht-Säugetier-Modellen sowie vorhandenen tierischen und menschlichen Daten in sogenannte Integrierte Teststrategien (Integrated Approaches to Testing and Assessment, IATAs) umgesetzt werden. Nach diesem Konzept soll dann der mögliche Einfluss einer Substanz auf die jeweiligen neuronalen Entwicklungsschritte beurteilt werden können.


Noch mit Fischembryonen

In Studien wurden bereits bedeutende Artunterschiede bei der Entwicklungsneurotoxizität zwischen Nagetier und Mensch mit in-vitro-Testsystemen gefunden. Allerdings haben andere Untersuchungen mit alternativen, Nicht-Säugetierarten gezeigt, dass verschiedene Mechanismen bei der Entwicklung und Funktion des Nervensystems stammesgeschichtlich unverändert blieben. Das bedeutet, dass einige der grundlegenden molekularen Entwicklungsprozesse bei Säugetieren - einschließlich dem Menschen - und auch Nicht-Säugetieren, wie zum Beispiel kleinen Fischen, identisch sind. Fische werden deshalb seit einigen Jahren, insbesondere zum Screening von neuroentwicklungsrelevanten Chemikalien und für Verhaltensstudien, herangezogen. Aufgrund seiner geringen Größe und Transparenz während der Embryo-Entwicklung hat sich der Zebrafisch etabliert und gilt bereits als Alternative zum traditionellen in vivo ENT-Screening mit der Ratte.

Verhaltenstests mit Zebrafischen in frühen Entwicklungsstadien (0-5 Tage nach der Befruchtung) gelten nach EU-Gesetzgebung zudem nicht als Tierversuch. Der Test gilt als Gesamtorganismus-Ansatz ergänzend zu in-vitro-Tests. Deshalb wird er zur Untersuchung von Störungen beim Verhalten auch ein Bestandteil der neuen ENT-Teststrategie sein.


Die grobe Unterteilung der Stufen einer neuen
Teststrategie:

Stufe 0:
Toxikokinetische Modellierung (in-silico-Verfahren)

Stufe 1:
In-vitro-Tests mit humanen Zellen

Stufe 2:
Tests an alternativen Modellorganismen

Stufe 3:
In-vitro-Tests an Nagetierzellen

Stufe 4 (optional):
in-vivo-Tests mit Nagetieren, wobei dieser Tierversuch nur als letztes Mittel vorgesehen ist.

Damit die neue Teststrategie wie beim Vorschlag von Hessel et al. (2018) (Abb. Seite 11 [in der Printausgabe]) funktionieren kann, müssen für jeden Schritt geeignete in-vitro-Tests entwickelt werden, mit welchen man dann in ihrer Summe möglichst alle zeitlichen Entwicklungsstadien nachstellen kann.


Ursache und Wirkung verstehen

Eine wichtige Rolle bei der Untersuchung negativer Effekte auf einen Organismus spielt auch die sogenannte Adverse Outcome Pathway-(AOP) Konzeption. Dabei geht es darum, den gesamten Vorgang zu beschreiben: Ausgehend von einem ursprünglichen Ereignis auf zellulärer Oberfläche, Schritt für Schritt über die anschließende Wirkungskaskade auf Ebene der Zellen und Organe, bis hin zu dem letztendlichen Effekt auf den Gesamtorganismus. Damit ließe sich Schritt für Schritt die schädigende Wirkung auf den Menschen ableiten, nachdem ein toxisches Molekül in Kontakt mit einem Rezeptor der Zelloberfläche gekommen ist. Kennt man die Vorgänge und entdeckt an einer Stelle der AOPs einen Effekt durch eine Prüfsubstanz, so kann man Rückschlüsse auf die letztendlichen ENT-Eigenschaften der Substanz ziehen, auch ohne die Substanz im Gesamtorganismus prüfen zu müssen.


Teststrategie auf gutem Weg

Es gibt bereits in-vitro-Tests, mit denen Substanzen vorausgewählt werden können (Screening). Jedoch sind diese noch nicht geeignet, um gesundheitsbezogene Grenzwerte abzuleiten und letztendlich den Tierversuch ganz beenden zu können. Der Entwicklungsstand der Testbatterie selbst wird von Seiten der Wissenschaft noch als unreif angesehen. Zwar können wichtige Schlüsselereignisse wie Nervenzellteilung, Apoptose (1) und Wanderung der Nervenvorläuferzellen schon gut dargestellt werden. Die Differenzierung und Untersuchung der Funktion der Gliazellen - einem wichtigen Immunzelltyp des Gehirns - oder die Bildung und elektrische Aktivität neuronaler Netzwerke stecken jedoch noch in den Kinderschuhen. Hierfür werden derzeit hirnregionsspezifische Organoide entwickelt. In silico stehen schon viele Methoden zur Verfügung oder befinden sich in der Entwicklung, um humanspezifische molekulare und zelluläre Wirkungen von Chemikalien zu untersuchen und in Vorhersagemodelle für die ENT zu integrieren. Der gegenwärtige Arbeitsstand ist, Leistungsstandards und eine Prüfstrategie für das abgestufte Testsystem zu etablieren. 17 in-vitro-Methoden sind derzeit bei EURL ECVAM im Validierungsprozess. Man kann davon ausgehen, dass eine Verwendung von derzeit verfügbaren humanrelevanten in-vitro-Modellen aus induzierten pluripotenten Stammzellen, in Kombination mit den anderen vorgeschlagenen tierfreien Modellen, Ansätze zur Entwicklung von Vorhersagemodellen für ENT-Effekte liefern wird.


Neue Tests bahnen den Weg

Fazit: Es ist viel in Bewegung. Viele kluge Köpfe sind dabei, qualitativ hochwertige und möglichst tierleidfreie Lösungen für die Einschätzung von entwicklungsneurotoxischem Potenzial bestimmter Substanzen zu entwickeln und zu verknüpfen. Dass dies nicht primär aus ethischen Gründen erfolgt zeigt, dass Wissenschaft, Industrie und Behörden aus eigenem Antrieb nach neuen Lösungen jenseits des Tierversuchs suchen. Das macht Hoffnung auf Veränderung. Natürlich enttäuscht es, dass die neue Teststrategie den Einsatz von Fischembryonen vorsieht. Im Sinne einer Leidminderung in diesem hochkomplexen Bereich, sind die neuen Tests insgesamt jedoch auch aus ethischer Sicht weitaus besser als die veraltete Richtlinie 426, bei der bis zu 1000 Ratten pro Prüfsubstanz sterben müssen. Der Bundesverband strebt dennoch grundsätzlich ein "Replace" an, also den vollständigen Ersatz von Tieren in jeglichen Tests. Wenn sich diese neue Teststrategie durchsetzt, wird sie den Weg für weitere neue tierleidfreie Verfahren bahnen.


Anmerkung

(1) Als Stammzellen werden an dieser Stelle Körperzellen bezeichnet, die sich in verschiedene Zelltypen oder Gewebe ausdifferenzieren können.

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Quelle:
Magazin tierrechte - Ausgabe 3/2019, S. 11-12
Menschen für Tierrechte
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Mühlenstr. 7a, 40699 Erkrath
Telefon: 0211 / 22 08 56 48, Fax. 0211 / 22 08 56 49
E-Mail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2019

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