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INSEKTEN/306: Auf der Durchreise (Naturschutz heute)


NATURSCHUTZ heute - Sommer 2019
Mitgliedermagazin des Naturschutzbundes (NABU) e.V.

Auf der Durchreise

von Helge May


Jedes Jahr ziehen Distelfalter von Afrika nach Europa und wieder retour. 2019 sind es besonders viele. Noch bis in den Frühherbst kann man sie beobachten.


Der große und bunte Distelfalter ist kaum zu übersehen. Er ist einer der wenigen fast über den ganzen Erdball verbreiteten Schmetterlinge. Unsere mitteleuropäischen Winter mag er allerdings nicht, denn er verträgt keinen Frost. Jedes Frühjahr wandern die Distelfalter deshalb neu aus dem Süden ein, mal sind es mehr, mal weniger.

Das besondere dabei: Der tausende Kilometer lange Zug aus dem Süden und wieder zurück ist eine Mehrgenerationen-Reise. Es fliegt also nicht der gleiche Falter die ganze Strecke, sondern es braucht vier bis sechs Generationen, um die Rundreise abzuschließen.

Orientierung an der Sonne - Woher die jeweilige Generation weiß, ob sie nach Norden oder Süden aufbrechen soll und wohin genau, ist trotz intensiver Forschung noch nicht eindeutig geklärt. Die Grund-Zugrichtung dürfte bei den Distelfaltern genetisch vorgeprägt sein, sonst würde die Migration nicht generationenübergreifend funktionieren. Laborversuche mit Kunstlicht zeigen, dass sich die Falter im Flug weitgehend an der Sonne orientieren.

Der Winter-Lebensraum "unserer" Distelfalter liegt vor allem im subtropischen und tropischen Afrika, von den Kapverden bis nach Äthiopien. Von dort aus fliegen sie ans Mittelmeer, wo sich die nächste Generation bildet. Diese bricht weiter nach Norden auf und erreicht Mitteleuropa, aber auch Skandinavien und das Baltikum. Die lange Reise sieht man den Tieren an, nach vielen hundert Kilometern sind die zarten Flügel oft stark zerzaust, die Farben kaum mehr erkennbar.

Tourstart in Arabien - Was 2019 ungewöhnlich ist: Der Haupt-Einflug erfolgte nicht wie meist aus Westafrika über die Sahara, sondern aus dem Nahen Osten von Arabien über Israel und dann weiter in nordwestlicher Richtung zu uns. Auch aus dem Iran wurden starke Wanderungen gemeldet. Dort hatte sich wohl eine Spätwinter-Generation im Süden des Landes gebildet, im Mai zogen die Falter nach Norden und erreichten die Hauptstadt Teheran. Diese Falter zogen hauptsächlich Richtung Kaukasus und Mittelasien weiter.

Die bei uns ankommenden Tiere sind also nur ein kleiner Teil des Gesamtphänomens. Offensichtlich gab es in den Subtropen vielerorts gute Bedingungen, weshalb sich so viele Distelfalter nach Norden aufmachten wie seit zehn Jahren nicht mehr.

Zeichen des Überflusses - Dass sie in großer Zahl kamen, liegt also nicht an einer Notsituation, ganz im Gegenteil. Die Falter fliegen dorthin, wo sie sich je nach Jahreszeit am besten fortpflanzen können. Geeignete Raupen-Futterpflanzen sind der entscheidende Faktor und die gibt es im Sommer eher in Mittel- und Nordeuropa als in Arabien oder in der Sahelzone.

Als Langstreckenzieher sind Distelfalter bei der Ernährung nicht wählerisch. Bei der Rast und am Zielort wird nahezu jede Nektarquelle genutzt, die sich bietet. Angesichts unserer ausgeräumten Landschaften besuchen Distelfalter neben offenem Brachland gerne blütenreiche Gärten. Wälder werden dagegen gemieden. Die Raupen sind ebenfalls nahezu Allesfresser. Abgesehen von den namensgebenden Disteln knabbern sie auch an Brennnesseln, Flockenblumen, Malven und Beifuß.

Stau an der Küste - Der diesjährige Einflug konzentrierte sich auf eine Route über Israel, Zypern und den Balkan. Folglich traten die Distelfalter auch in Deutschland zunächst im Osten auf und zogen dann nach Norden und Westen weiter.

Zeitweise stauten sich die Tiere an der Nordseeküste, nach kurzer Verschnaufpause flogen sie über das offene Meer weiter an die englische Ostküste. Ab Anfang Juli wurden selbst in Schottland reichlich Distelfalter beobachtet. Auch Skandinavien wird beflogen - eindrucksvoll war eine Meldung, dass Ende Juni Hunderte auf einem Frachter 50 Kilometer vor der norwegischen Küste Rast machten.

Jetzt schlüpft die neue Generation - Die ausgewachsenen Distelfalter sind fast ständig unterwegs. Die Fortpflanzung findet aber natürlich an einem Ort statt, denn Eier und Raupen bleiben fest an und bei der jeweiligen Nahrungspflanze. Erst wenn der fertige Falter schlüpft, wird die Mehrgenerationenreise fortgesetzt.

Vermehrte Raupenfunde seit Ende Juni zeigen, dass die Falter fleißig Eier abgelegt haben. Im Lauf des Juli, vor allem aber im August, schlüpft so die nächste Generation. Im Spätsommer und Frühherbst ziehen diese Falter dann wieder nach Süden. Naturfreunde haben also noch einige Wochen Gelegenheit, Distelfalter zu beobachten.

4000 Kilometer am Stück - Jüngste Untersuchungen legen nahe, dass es im Herbst zu einer deutlich stärkeren Rückwanderung von Distelfaltern aus Europa bis tief hinein nach Afrika kommt, als bisher gedacht. Die Zielgebiete der Tiere reichen von Westafrika bis ins äthiopische Hochland.

In Afrika untersuchten Forscher Blütenpollen, die an eingefangenen Faltern haften. Diese stammten regelmäßig von Pflanzen, die nur in Europa wachsen. Das zeigt: Der Rückflug geschieht günstigstenfalls innerhalb einer einzigen Generation, so dass die Falter 4000 Kilometer zurücklegen - die weltweit längste bekannte Non-Stop-Insektenwanderung.


Info

Der NABU und sein Partner naturgucker.de wollen den spektakulären Einflug nutzen, um mehr Informationen über die Distelfalter zu gewinnen. Insektenfreudinnen und Insektenfreunde sind aufgerufen, ihre Sichtungen online zu melden, seien es Zufallsbegegnungen oder gezielte Nachsuche. So wird man nicht nur Zeuge eines faszinierenden Naturschauspiels, sondern hilft auch mit, es zu dokumentieren.

Info: www.NABU.de/Distelfalter

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Quelle:
Naturschutz heute - Sommer 2019, Seite 20 - 21
Verlag: Naturschutz heute, 10108 Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2019

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