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GEFAHR/003: Brandsatz Fukushima - Des Weiterbrüters Strahlenkranz (SB)


Die Opfer der Fukushima-Katastrophe sind noch nicht geboren


Grafische Darstellung der Strahlenausbreitung von Fukushima im gesamten Pazifischen Ozean, hinterlegt mit dem Symbol für Radioaktivität und der Überschrift: 'Noch 10 Jahre?' - Grafik: © 2013 by Schattenblick

Brandsatz Fukushima
Grafik: © 2013 by Schattenblick

Wieder eine Hiobsbotschaft aus dem zerstörten Atomkraftwerk Fukushima-Daiichi: Aus einem großen Sammeltank sind schätzungsweise 100 Tonnen hochverstrahlten Wassers ausgelaufen, wie ein Sprecher der Betreibergesellschaft Tepco (Tokyo Electric Power Co) mitteilte. Ursache des Lecks war demnach eine versehentlich offengebliebene Absperrung. Das verstrahlte Wasser sei aber wahrscheinlich nicht ins Meer geflossen, wurde gemutmaßt. [1]

Der Tank liegt rund 700 Meter vom Ozean entfernt. Die Radioaktivität des ausgeflossenen Wassers wird mit 230 Millionen Becquerel pro Liter in Form von Betastrahlung, hauptsächlich durch Strontium-90, angegeben. Dieser Wert liegt 7,6 Millionen mal höher als der zulässige Grenzwert für radioaktive Einleitungen ins Meer! Zudem wurden 9.300 Becquerel pro Liter Cäsium-137 registriert - das Hundertfache des Grenzwerts.

Seit der Zerstörung des japanischen Akw Fukushima Daiichi am 11. März 2011 durch ein Erdbeben und einen Tsunami zeichnet sich die offizielle Berichterstattung über die Nuklearkatastrophe durch falsche, geschönte oder vernachlässigte Meldungen aus. So auch in diesem Fall. Selbst wenn man einmal annimmt, daß die 100 Tonnen an radioaktiv hochverstrahlten Wassers wie behauptet nicht in den Pazifischen Ozean, sondern "nur" in den Boden gelangt sind - als wäre das weniger problematisch -, ist doch bekannt, daß in dieser Region das Grundwasser, aus den Bergen kommend, unter dem Nuklearkomplex hindurch weiter bis ins Meer fließt. Somit dürfte es sich nur um eine Frage der Zeit handeln, bis auch das jetzt versickerte Wasser auf dem Weg in den Ozean mitgenommen wird.

Im übrigen wurde eine hochbrisante frühere Meldung bis heute nicht zurückgenommen: Pro Tag fließen rund 300 Tonnen - also die dreifache Menge der aktuellen Leckage - hochverstrahltes Grundwasser, von dem angenommen wird, daß es von unten her in die Kernschmelzbereiche der zerstörten Meiler eingedrungen ist und die noch immer glutheißen Brennstäbe umspült hat, ins Meer. Wenn es nicht zu einem Gewöhnungseffekt führen würde, müßten die Zeitungen ununterbrochen, montags bis sonntags, dies als Schlagzeile bringen.

Im Meer akkumulieren die ungeheuren Mengen an verstrahltem Wasser. Aufgrund des großen Volumens des Pazifischen Ozeans kommt es zwar zu einer entsprechend großräumigen Verteilung und folglich extremen Verdünnung der Radioaktivität, so daß die Strahlenpartikelwolke, wenn sie die nordamerikanische Küste erreicht, auf Werte abgesunken ist, die weit unter dem offiziell zulässigen Grenzwert bleiben, aber harmlos ist dies deshalb noch lange nicht.

Erstens gibt es relativ für sich bleibende Meeresströmungen, die eine Verteilung der Radioaktivität verhindern und somit Zonen erhöhter Strahlengefahr schaffen; zweitens kann es zu einer Aufkonzentration der Strahlung durch die marine Nahrungskette kommen; drittens sind auch die Trümmerteile aus Japan, die das Meer herüberträgt, kontaminiert; viertens sind selbst niedrige Strahlenwerte nicht ungefährlich, und mit jeder neuen Quelle - neben der natürlichen Strahlung gilt das vor allem für den gesamten Zeitraum der oberirdischen Atombombenversuche von 1945 bis Anfang der 1960er Jahre - nimmt die radioaktive Belastung zu.

Grenzwerte der Radioaktivität sind in erster Linie Ausdruck einer politischen Einstellung und beruhen auf Statistik. Ein Grenzwert bedeutet, daß die Behörden bestimmt haben, wieviele Personen statistisch gerechnet verstrahlt werden dürfen, ohne daß die Gesellschaft damit ein Problem hat. Daß aber die Betroffenen damit ein Problem haben und womöglich vorzeitig an Krebs sterben, interessiert nicht. Die Einstellung dahinter lautet: Eine Krebserkrankung ist für die Personen selbst natürlich bedauerlich, aber sie betrifft nicht das Gesamtwohl der Gesellschaft. Andernfalls müßte sie auf die Nukleartechnologie vollständig verzichten, und das wäre ein zu hoher Verlust für die vorherrschenden Interessen.

In der Berichterstattung über die laufende Ausbreitung der Radioaktivität im Pazifischen Ozean werden häufiger sonderbare Phänomene in der Tier- und Pflanzenwelt erwähnt und mit der Fukushima-Katastrophe in Verbindung gebracht. Geht man den Vermutungen nach, lassen sich die Verknüpfungen indes nicht bestätigen. So titelt die Zeitung "Deutsche Wirtschafts Nachrichten" (DWN): "Fukushima: Mysteriöse Erscheinungen an amerikanischer West-Küste". [2]

Demnach hatte sich vor der kalifornischen Küste die Menge an organischer Materie (abgestorbenes Plankton, verendete Quallen, Kot, etc.) auf dem Meeresboden binnen kurzer Zeit kräftig erhöht. So eine Menge war in den 24 Jahren der Beobachtung bis dahin nicht aufgetreten. Im März 2012 waren von diesem Meeres-Rotz ("sea snot") etwa ein Prozent des Ozeanbodens bedeckt, im Juli 2012 bereits 98 Prozent. DWN schreibt dazu:

"Die Auswirkungen der Atomkatastrophe von Fukushima waren in den USA erstmals bereits im Herbst 2011 spürbar. (...) Doch wie sich jetzt zeigt, kam es noch zu einigen weiteren Merkwürdigkeiten, die darauf hindeuten, dass die Folgen Fukushimas schon seit langer Zeit im amerikanischen Teil des Pazifik zu spüren sind." [2]

Ganz anders liest sich dagegen der Artikel im Magazin "National Geographic", auf den sich die deutsche Website bezieht. Da ist von saisonalen Aktivitätssteigerungen, einem "Rhythmus der Meeres-Rotz-Ausbrüche" die Rede und davon, daß dies mit massiven Phytoplanktonblüten korrespondiert. [3]

In einer Studie der "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS) [4], auf die sich seinerseits "National Geographic" bezieht, wird zwar ebenfalls erklärt, daß die plötzlichen Ausbrüche von toter Materie am Meeresboden noch nicht vollständig verstanden sind. Aber es wird sehr wohl ein deutlicher Zusammenhang zu klimatischen Veränderungen hergestellt. Auch dort wird die Fukushima-Katastrophe nicht mit einem Wort erwähnt.

Ähnlich verhält es sich bei einem weiteren Naturphänomen, dem massenhaften Tod von Seesternen zwölf verschiedener Arten entlang der gesamten nordamerikanischen Küste. Das Phänomen der sogenannten Starfish Wasting Desease ist erschreckend: Innerhalb eines Tages können zuvor gesund erscheinende Seesterne verenden. Sie schrumpfen, verlieren ihren strukturellen Zusammenhalt und lösen sich schließlich auf.

Hierdurch sind schon ganze Arten ausgestorben. Das aktuelle Seesternsterben ist von allen bekannten Massensterben dieser Arten das umfangreichste. Es findet nicht nur entlang der nordamerikanischen Pazifikküste statt, sondern auch vor Rhode Island und Maine an der US-Ostküste, wie die Zeitung "Sydney Morning Herald" berichtete. [5]

Als mögliche Ursachen für das Seesternsterben werden Infektionen, Toxine und Parasiten erwogen. Radioaktive Strahlung aus Fukushima erwähnt der Bericht nicht, was auch naheliegt, da das Phänomen schon älter ist und diesmal sogar entlang beider Küsten Nordamerikas auftritt. Doch die DWN schreiben unverdrossen: "Bisher konnte noch keine eindeutige Erklärung dafür gefunden werden. Ein Zusammenhang mit Fukushima wird aber auch hier nicht ausgeschlossen." [2]

In einem weiteren Bericht schreiben die DWN:

"Bereits in den 80er und 90er Jahren wurde ein Massensterben bei Seesternen beobachtet. Forscher halten sich daher mit der Aussage zurück, dass der aktuelle Vorfall mit der Atomkatastrophe von Fukushima zusammenhängen könnte." [6]

Die Forscher brauchten sich gar nicht "zurückzuhalten". Das wäre schon eine viel zu starke Bezugnahme: Ein Kontext zwischen Seesternsterben und Fukushima wird von vornherein nicht hergestellt.

In einer Reportage von Al Jazeera über besorgte Bürger aus Kalifornien, die sich nach Beginn der Fukushima-Katastrophe zu dem Netzwerk "Fukushima Response" zusammengeschlossen haben und regelmäßig Strahlenmessungen durchführen, wird darüber berichtet, daß die US-Regierungsbehörde National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) zwischen Januar und Mai 2013 mehr als 1400 verhungerte Seelöwen gezählt hat, die an die südkalifornischen Strände geschwemmt wurden. Das sei ein Zuwachs um 75 Prozent gegenüber dem Durchschnitt. Die NOAA wisse nicht, wie es zu diesem "ungewöhnlichen tödlichen Ereignis", wie sie es bezeichnet, gekommen ist. [7]

Abgesehen davon, daß daraus nicht automatisch folgen würde, daß Radioaktivität aus Fukushima die Ursache des Seelöwensterbens sein muß, trifft die pauschale Behauptung, die NOAA wisse nicht, wie es zu dem Phänomen gekommen ist, nicht zu. Die Forscher berichten vielmehr, daß normalerweise eine von einem kräftigen Wind angetriebene Aufwärtsströmung (upwelling) nährstoffreiches Wasser aus größeren Tiefen an die Oberfläche gebracht hat. Dieser Wind sei aber zwischen Ende April und Juni 2013 versiegt und damit auch die Nährstoffzufuhr für das pflanzliche Plankton ausgeblieben. Der Mangel setzte sich entlang der Nahrungskette bis zu den Seelöwen fort. Rätselhaft blieb für die Forscher dagegen etwas ganz anderes: "NOAA-Wissenschaftler untersuchen noch, was dazu geführt hat, daß die Winde zu einer Zeit ausblieben, in der sie sehr kräftig sein sollten." [8]

Man sollte doch von denen, die den Forscherinnen und Forschern, die die oben aufgeführten Phänomene im Tier- und Pflanzenreich näher untersuchen, unausgesprochen Betriebsblindheit unterstellen, indem sie ihre Überlegungen und Resultate durch die eigene Mutmaßung, Fukushima sei dafür verantwortlich, ergänzen und dies verbreiten, erwarten, daß sie sich etwas mehr Mühe geben und ihre Meinung begründen.

Die hier beispielhaft erwähnten Phänomene und die Wirkung radioaktiver Strahlung durch den Fukushima-Unfall in einen wie auch immer gearteten Kausalzusammenhang zu stellen, zeugt von einem ausgeprägten Wunsch nach Lösungen und Antworten. Wenn die Fukushima-Havarie pauschal für alles verantwortlich gemacht wird, kann es leicht geschehen, daß der Blick auf andere Entwicklungen, deren Zerstörungspotential noch wesentlich größer sein könnte als der bislang schwerwiegendste Nuklearunfall des Atomzeitalters, verloren geht.

Beispielsweise wird das Massensterben unter den Seelöwen von den Wissenschaftlern ebenso mit klimatischen Veränderungen in Verbindung gebracht wie der kräftige Meeres-Rotz-Ausbruch. Die diesjährige schwere Kältewelle in Japan und Nordamerika, die gewaltigen Sturmfluten in Irland, dem Vereinigten Königreich und Frankreich und der relativ milde Winter in Deutschland haben gezeigt, wie empfindlich die Ökosysteme und damit letztlich die Überlebensvoraussetzungen des Menschen auf Veränderungen in der Natur reagieren.

Doch ungeachtet der kritischen Betrachung einer eher nachlässig zu nennenden Berichterstattung über Merkwürdigkeiten in der Tier- und Pflanzenwelt steht fest: Der radioaktive Fallout der dreifachen Kernschmelze des Akw Fukushima-Daiichi und die permanente Kontamination des Pazifischen Ozeans durch verstrahltes Grundwasser erzeugen Opfer, die bis jetzt noch nicht das Licht der Welt erblickt haben. Das gilt für Menschen ebenso wie für Tiere und Pflanzen.


Fußnoten:

[1] http://www3.nhk.or.jp/nhkworld/english/news/20140220_22.html

[2] http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2014/01/20/fukushima-mysterioese-erscheinungen-an-amerikanischer-west-kueste/

[3] http://newswatch.nationalgeographic.com/2013/11/22/sea-snot-explosions-feed-deep-sea-creatures/

[4] http://www.pnas.org/content/early/2013/11/05/1315447110.full.pdf?with-ds=yes

[5] http://www.smh.com.au/technology/sci-tech/freakish-disease-is-turning-starfish-into-goo-20131126-2y7ha.html

[6] http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2014/01/03/mysterioes-millionen-toter-seesterne-an-der-westkueste-der-usa-angeschwemmt/

[7] http://www.aljazeera.com/humanrights/2014/01/us-residents-monitor-fukushima-radiation-201411911450378232.html

[8] http://www.noaa.gov/features/04_resources/sealions.html

24. Februar 2014