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AKTION/278: Mehr als 100.000 Unterschriften für den Atomausstieg (IPPNWforum)


IPPNWforum | 120 | 09
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Angela die Post ist da!
Mehr als 100.000 Unterschriften für den Atomausstieg

Von Kerstin Schnatz


"Angela, die Post ist da" schallt es der schwarzen Limousine der Kanzlerin entgegen, die Mitte Oktober zum Auftakt der Klausurtagung von FDP und Union vor der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen vorfährt. AktivistInnen von IPPNW, BUND, campact, ausgestrahlt und Naturfreundejugend halten bei Wind und Wetter 100 knall-gelbe Umschläge auf einer langen Wäscheleine im Zick-Zack vor sich in die Höhe. In den gelben Umschlägen, die sich vom tristen Grau des verregneten Tages leuchtend abheben: je 1.000 Unterschriften. Auf dem riesigen Transparent hinter der politisch motivierten Wäscheleine ist zu lesen, worum es hier geht: Schon über 100.000 Menschen kündigen Protest an: Am Atomausstieg nicht rütteln!


Die Anti-Atom-ProtestlerInnen/Protestierenden wissen, welch große Verantwortung an ihrer Leine im kalten Herbstwind baumelt: Exakt 101.237 Menschen haben den offenen Brief "Am Atomausstieg nicht rütteln" von campact, ausgestrahlt, IPPNW, BUND und Naturfreundejugend an Seehofer, Merkel und Westerwelle bis dahin unterschrieben. Diese Forderung ist wichtiger denn je: Denn die Arbeitsgruppen Wirtschaft und Umwelt - jeweils für das Aushandeln der Atomfrage verantwortlich - hatten den KoalitionsführerInnen von FDP und CDU/CSU empfohlen, in den Koalitionsvertrag aufzunehmen, dass sogenannte "sichere" Atomkraftwerke länger laufen dürfen.

Die kleine Menge in gelb weiß genau, dass die Lage zwar schwierig ist, aber noch lange nicht hoffnungslos. Hüpfend, um der Kälte mit eigener Körperwärme zu trotzen , warten sie auf Merkel, Westerwelle und Seehofer. Leider hat keiner der PolitikerInnen im Vorfeld eine Zusage gegeben, die Unterschriften auch tatsächlich entgegen zu nehmen. Doch die Hoffnung ist groß: Vielleicht ergibt sich ja eine Chance, den Brief zuzustecken? Die rote Anti-Atom-Sonne zumindest lacht optimistisch von den gelben T-Shirts der Protestierenden, die über dicke Winterjacken gezogen alle ein wenig schwanger aussehen lassen. Den Kameras der TV-JournalistInnen, die eigentlich auf der gegenüberliegenden Seite am Eingang des Verhandlungsgebäudes auf Merkel und Co. lauern, scheint das zu gefallen. In den Pausen zwischen der Ankunft der Politiker-Limousinen kommen sie immer wieder spontan herübergeeilt, um die rufende Menschenmenge und ihre Wäscheleine abzufilmen.

Vor allem als Guido Westerwelle kommt, sind die Lacher auf unserer Seite: Mit "Guido you have mail" lehnen sich die Protestierenden weit aus dem Fenster. Ob er uns versteht? Wenn nicht, so hofft der ein oder andere, bietet er uns vielleicht wenigstens Tee an? Leider nein - es ist Deutschland hier und da lädt man als FDP-ler keine Anti-Atom-Kritiker zu Heißgetränken ein. Schade, denn langsam frieren vielen die Hände vom Wäscheleine-Halten ein. Trotz kalter Gliedmaßen halten die Menschen tapfer an ihrer Wäscheleine fest und bleiben hartnäckig. Immer wieder rufen und singen sie, was das Zeug hält. Die Neu-Kreation des Tages ist der Song: "Wir warten auf Angela Merkel und haben die Post an Bord. In den Fässern, da rostet Atommüll, doch ihr kriegt uns hier nicht fort."

Leider prallt der Gesang der gelben Menge an den schwarz getönten Scheiben von Merkels Dienstwagen ebenso ab wie an dem von Westerwelle. Sie steigen nacheinander aus und verschwinden zügig im Verhandlungsgebäude, wo sie gemeinsam bis Sonntag die Eckpfeiler für eine neue Regierung aushandeln wollen. Herr Seehofer hatte uns übrigens allen ein Schnippchen geschlagen: Er saß bereits seit neun Uhr in der Landesvertretung - so früh, dass noch keiner von uns da war. Auch ihn hätten wir gerne persönlich begrüßt.

Am Ende dürfen wir unsere Unterschriften doch noch überreichen. Zwar nicht an die Bundeskanzlerin persönlich, aber an ihren Mitarbeiter Berthold Goeke, Ministerialrat Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit im Bundeskanzleramt. Nachdem die Wäscheleine eingepackt ist und sich eine kleine Delegation mit heißem Tee gestärkt hat, geht es mit dem Taxi schnell ins Kanzleramt. Hoffentlich erhält die Kanzlerin die Unterschriften, noch bevor sie ihre eigene unter den Koalitionsvertrag setzt.

Egal wie die Verhandlungen weitergehen werden, eines ist sicher: Merkel, Seehofer und Westerwelle werden es noch des öfteren mit uns zu tun haben, wenn sie tatsächlich den Atomausstieg kippen. Die Menschen im Land wollen keinen Ausstieg aus dem Atomausstieg. Zumindest Angela Merkel ist das klar - deswegen hat sie sich dafür eingesetzt, dass es bis zur Landtagswahl in NRW keine Debatte über Atomkraft geben soll. Augen zu und durch ist ihre Devise.

Der Offene Brief "Am Atomausstieg nicht rütteln!" wurde in der tageszeitung, in der Financial Times Deutschland und im Tagesspiegel veröffentlicht.


Kerstin Schnatz, ist Campaignerin bei campact und hat u.a. den Dokumentarfilm "Uranium - is it a country?" erstellt.


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Quelle:
IPPNWforum | 120 | 09, Dezember 2009, S. 32
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
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IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juni 2010