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ATOM/316: Sicherheitsrisiko - Forschungsreaktor Berlin-Wannsee seit März wieder in Betrieb (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 168 - Juni/Juli 2012
Die Berliner Umweltzeitung

Berlin
Atom-Forschungsreaktor Berlin-Wannsee
"Strukturelle Verantwortungslosigkeit" der Physiker und Politiker

von Hauke Benner



Nach mehr als einem Jahr Stillstand wurde der älteste Atom-Forschungsreaktor in Deutschland am 28. März wieder in Betrieb genommen. Der Forschungsreaktor BER II in Berlin-Wannsee ist zwar klein und hat nur wenige Kilogramm Brennelemente als radioaktives Inventar, aber dennoch bildet er ein hohes Gefahrenpotential: Denn er besitzt keine Schutzmaßnahmen (Containment) und ist technisch völlig veraltet. Gegen die Wiederinbetriebnahme des Reaktors wehrt sich das Berlin/Potsdamer Anti-Atom-Bündnis.

Aufgrund einer kleinen Anfrage der Piratenpartei zur Sicherheit des Forschungsreaktors, die im Berliner Abgeordnetenhaus im Januar behandelt wurde, kam es im März zu Anhörungen von Sachverständigen im Umweltausschuss. Dabei kamen einige neue interessante Details ans Tageslicht.

Der Gutachter des Anti-AtomBündnisses, Alf Jarosch, fasste die Expertise, die er gemeinsam mit Udo Holländer erstellt hatte, zusammen: Bei einer möglichen Kernschmelze des Reaktors werden bis zu 72.000 Terabequerel (TBq) freigesetzt. "Nach der siebenstufigen internationalen Bewertungsskala für bedeutsame Ereignisse in kerntechnischen Anlagen (INES) wäre dieser Unfall dann mindestens der Stufe 6 "Schwerer Unfall" zuzuordnen, deren Kriterien sind: Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umgebung in einem Ausmaß, das radiologisch einigen Tausend bis einigen Zehntausend TBq Jod 131 entspricht," so Jarosch.

Um Gesundheitsschäden in Grenzen zu halten, wären Katastrophenschutzmaßnahmen in vollem Umfang erforderlich. Mehrere Hunderttausend Menschen wären vom GAU Stufe 6 betroffen. "Bemerkenswert ist, dass bei einer Kernschmelze des BER II immerhin fast 10 Prozent der Radioaktivität freigesetzt würde, die bei der Kernschmelze in drei Reaktoren in Fukushima im März 2011 in die Umgebung gelangte. Dies ist damit zu erklären, dass der Atomreaktor BER II über keinerlei Schutzmaßnahmen verfügt, weil diese im Normalbetrieb auch nicht erforderlich sind."

Als zweiter Sachverständiger kam der ehemalige Konstruktionsleiter des BER II, Thilo Scholz, zu Wort. Er verwies auf drei technische Schwachpunkte des Reaktors:

  1. Es gibt einen Riss in einer Kühlmittelleitung, das Rohr ist aus versprödetem Material. Dieser Riss, der zunächst vom Helmholtz-Zentrum Berlin (HZB) geheim gehalten wurde, ist nur sehr schwer und kostenintensiv zu reparieren.
  2. Was passiert nun, wenn der Druck auf diese schadhafte Leitung infolge eines Absinkens des Wasserspiegels in einem der beiden Kühlbecken steigt? Die Rissbildung im Kühlmittelrohr könnte sich schlagartig fortsetzen, das Rohr abreißen und das andere Kühlbecken ebenfalls leer laufen. Folge: Die Brennstäbe wären in beiden Becken ohne Kühlung und eine Kernschmelze unvermeidlich.
  3. Das ausgetauschte konische Strahlrohr für die Neutronenexperimente ist aus einem technisch veralteten Aluminiumschmiedematerial hergestellt worden. Es ist kein moderner, hochvergüteter Aluminiumguss, dazu noch ist die Verschraubung noch unsachgemäß und gegen zu geringen Explosionsdruck ausgelegt. Der Vorteil des verwendeten alten Materials für den Betreiber war dabei, dass ein Genehmigungsverfahren vermieden und der Austausch als Reparatur kaschiert wurde.

Als dritter Sachverständiger war der Physiker Wolfgang Liebert von der Technischen Universität Darmstadt geladen. Auch er warnte vor den Folgen der Wiederinbetriebnahme: das Schutzkonzept von BER II sei veraltet. Zudem gebe es in Wannsee, anders als etwa beim Forschungsreaktor Garching bei München, keinen Schutz vor Flugzeugabstürzen. Liebert sprach sich indirekt für die Stilllegung aus: "Dieser Reaktor wäre heute nicht mehr genehmigungsfähig." Wenn im BER II doch etwas schief gehe, könne dies dramatische Folgen sowohl für die Bevölkerung als auch für die Wissenschaft haben, die sich häufig zu wenig um die Folgen ihres Tuns kümmere: "Man könnte auch fragen: Gibt es hier nicht eine strukturelle Verantwortungslosigkeit der Physiker?"


Politische Befürworter und Skeptiker

Die Grünen haben sich von Befürwortern im letzten Wahlkampf zu Skeptikern des Weiterbetriebs gewandelt. Die Abgeordnete der Grünen, Felicitas Kubala, warnte vor einer vorschnellen Inbetriebnahme und verlangte eine stärkere Einflussnahme des Senats.

Wie sehr diese schwerwiegenden Sicherheitsbedenken bei den Befürwortern abprallen, zeigt sich in der Stellungnahme der Sprecher der Partei "Die Linke" Albers und Lompscher, vom 7. März zu einem Aufruf des Anti-Atom-Bündnisses für die sofortige Stilllegung des Reaktors. Sie weisen alle Kritikpunkte zurück, plädieren für eine rationale Diskussion und warnen vor einer "Emotionalisierung". "Die Linke" hingegen bagatellisiert wie der Berliner Senat und die Atombetreiber hingegen das Problem: "In dem Aufruf wird weiterhin behauptet, radioaktive Abfälle seien auf dem Gelände des HZB unter unzureichenden Bedingungen gelagert. Das ist falsch."

Der Forschungsreaktor selber verbraucht im Jahr etwa 14 Brennelemente. Dabei fallen etwa 168 Gramm Plutonium an. Diese werden nicht in der Zentralen Sammelstelle gelagert, sondern verbleiben bis zu ihrem Abtransport in einem Absetzbecken unter dem eigentlichen Reaktorbecken. Der Abtransport der ausgebrannten Elemente findet alle drei bis vier Jahre statt. In der erwähnten Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Grünen ist von 830 Gramm Plutonium die Rede - das ist waffenfähiges Plutonium - eine ungeheure Menge! Schon wenige Milligramm reichen aus, um einen Menschen tödlich zu vergiften.

Für die Partei "Die Linke" ist trotzdem alles, was auf dem Gelände des BER II passiert, sicher: "In den letzten fünf Jahren war es unsere linke Senatorin Katrin Lompscher, die für diesen Reaktor politisch verantwortlich war. Sie ist ihrer Aufsichtspflicht sorgfältig nachgekommen. Die Sicherheit der Anwohnerinnen und Anwohner stand dabei immer an erster Stelle."

Doch diese Sicherheit ist relativ: Dass das HZB Störfälle im Forschungsreaktor verschwiegen beziehungsweise zu spät gemeldet hat, übersieht die 'Linke'. Sie setzt ein hohes Vertrauen in den Betreiber, der der gleichen Forschungsgemeinschaft angehört wie jenes Münchner Helmholtz-Zentrum, das die Vertuschungen, Fälschungen von Protokollen etc. in der Asse II zu verantworten hat.

Auch im Jahresbericht des Bundesumweltministeriums (BMU) "Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung" von 2009 stehen Zahlen zum Forschungsreaktor, die es in sich haben: Am Helmholtz-Zentrum Berlin wurden 72 Gigabecquerel Tritium im Jahr frei, im AKW Philippsburg 1 nur 38 Gigabecqerel Tritium, Philippsburg 2 nur 19 Gigabecquerel Tritium.

Tritium, ein radioaktiver Wasserstoff, ist biologisch hochwirksam. Mit der Fortluft werden pro Jahr 460 Gigabecquerel (= Milliarden Becquerel) radioaktive Edelgase freigesetzt, fast doppelt so viel wie in Garching, dem Reaktor mit der doppelten Leistung, der auf einem freien Feld steht.

Keine andere deutsche Großstadt leistet sich solch ein Strahlenrisiko für die Bevölkerung! Hat die frühere Senatorin Katrin Lompscher diese Zahlen jemals zur Kenntnis genommen? Steht die Sicherheit der Bevölkerung wirklich an erster Stelle? Mittlerweile ist es eigentlich common sense, dass es keinen Grenzwert für eine ungefährliche Strahlung gibt. Das hat selbst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2011 anerkannt.

Auch für die Partei "Die Linke" gilt: Profit und Wissenschaftsrenommée gehen vor Sicherheit. Beim Thema Atomforschung sind offenbar nicht nur die Physiker vom Bazillus der "strukturellen Verantwortungslosigkeit" befallen.

Weitere Informationen: www.antiatomberlin.de

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Quelle:
DER RABE RALF - 22. Jahrgang, Nr. 168 - Juni/Juli 2012, Seite 6
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juli 2012