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INITIATIVE/522: Gorleben lebt immer noch (Gorleben Rundschau)


Gorleben Rundschau - V-VI/2018, 40. Jahrgang, Ausgabe 1066
Wir sind die Wenden: Energie · Klima · Mobilität · Gesellschaft

Gorleben lebt immer noch
Eine Orientierungshilfe aus dem Dschungel der Geschichten

Gespräch mit Wolfgang Ehmke, Pressesprecher der BI Lüchow-Dannenberg


Analyse
Dass Gorleben zu einem wichtigen Kristallisationspunkt der deutschen Anti-Atom-Bewegung werden konnte, hat vielfältige Ursachen: Sachliche Fehler, Ungeschicklichkeiten der Politik und Härte der Polizei sind Aspekte der einen Seite. Das Zusammenspiel von linken Gruppen und konservativer Landbevölkerung die der anderen. Die Gorleben Rundschau wagt den Versuch einer Erklärung.


Gorleben steht paradigmatisch für die "Demokratie-Frage". Einerseits für das Fehlen an Demokratie bei der Durchsetzung eines nuklearindustriellen Großkomplexes, für eine rigide staatliche Politik, die scheinbar auf Dialog, im Zweifel aber auf Diffamierung und Kriminalisierung ihrer Gegner/-innen und auf Polizeigewalt setzt.

Gorleben steht auf der anderen Seite aber auch für ein starkes zivilgesellschaftliches Engagement breiter Bevölkerungskreise, für basisdemokratische Lernprozesse und "gelebte Demokratie", so wie es das Bundesverfassungsgericht 1985 in seinem Brokdorf-Urteil formulierte: "In einer Gesellschaft, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chance, sich zu äußern, auf wenige beschränkt ist, verbleibt dem Einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im allgemeinen nur eine kollektive Einflussnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen. Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Versammlunsfreiheit die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes. Demonstrativer Protest kann insbesondere notwendig werden, wenn Repräsentativorgane mögliche Missstände und Fehlentwicklungen nicht oder nicht rechtzeitig erkennen oder aus Rücksichtnahme auf andere Interessen hinnehmen."

"Gorleben steht gleichermaßen für das Fehlen wie für das Leben von Demokratie"

Gorleben wird in den 90er-Jahren mit dem Beginn der Castortransporte auch sozialer Ort für das zivilgesellschaftliche Engagement gegen die Nutzung der Atomkraft und die Errichtung einer Atommülldeponie in einem Salzstock, dessen Eignung als nukleares Endlager vielfach widerlegt wurde. Gleichzeitig schaffen staatliche Institutionen weiterhin eine Aktenlage zur Durchsetzung dieses Projekts und vernebeln im Kampf um die Deutungshoheit die wahren Absichten: Eine Plutoniumfabrik wird "Nuklearpark" genannt, statt fehlender Eignung des Salzstocks geht es um die "Eignungshöffigkeit".

Dagegen organisiert sich der Gorleben-Widerstand in Castor- und Bezugsgruppen, lebt den Widerstand als buntes und vielfältiges Gegenprogramm gegen Härte und Willkür und entwickelt basisdemokratische Instrumente, das Konsenprinzip, das "afrikanische Tamtam" zur Meinungsbildung und Strategiefindung.

Die Auseinandersetzung um die Atomkraft ist noch nicht beendet, die Suche nach einem gesellschaftlichen Umgang mit der Hinterlassenschaft des Atomzeitalters, dem Atommüll, ist noch voll im Gange, und trotzdem geht es auch heute schon darum, aus der Geschichte zu lernen, lernende Verfahren und Beteiligungskonzepte zu entwickeln, die das Prädikat "demokratisch" verdienen.

Aktuell fordert die Bürgeriniative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg als "Kern" des Gorleben-Protests ein Denkmal für die verkorkste Atommüllpolitik direkt "vor Ort" - am Erinnerungsort Gorleben. In Planung ist auch ein Seminarprogramm "Rebellisches Wendland", das aufzeigen soll, welche umwälzenden Folgen eine 40-jährige "Heimvolkshochschule" mit ungezählten Veranstaltungen, Seminaren, Demonstrationen und anderen kreativen Widerstandsaktionen für die Beteiligten hatte.

Einer, der den wendländischen Widerstand von Anfang an miterlebt und über Jahrzehnte mit Stift und Tastatur begleitet hat, ist Wolfgang Ehmke. Er engagiert sich seit der Standortbenennung Gorlebens 1977 als so genanntes Nukleares Entsorgungszentrum in der Bürgerinitiative gegen die Nutzung der Atomenergie und ist deren langjähriger Sprecher:


- Wo, wann und wie hast du von der Standortbenennung Gorlebens erfahren?

Wolfgang Ehmke: Das ging ruckzuck - meine Mutter hatte es im Radio gehört und rief sofort an: "Jetzt kannst du mal zu Hause demonstrieren kommen!" Ich war gerade fertig mit der Lehrerausbildung in Hamburg und hatte schon in Brokdorf demonstriert.

- Wie haben die Umweltschützer aus der Region auf die Standortbenennung reagiert und sich organisiert?

Ehmke: Wir hatten alle Dusel, denn am Tag der Standortbenennung, am 22. Februar 1977, hatte die PWK, die Projektgesellschaft Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen, das Landvolk im Lüchower Gildehaus zu einer Desinformationsveranstaltung eingeladen und die Nachricht, dass der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht Gorleben als Standort für ein nukleares Entsorgungszentrum erkoren hatte, so per Handstreich, schlug ein wie eine Bombe. Schon zwei Tage später organisierte die Bürgerinitiative Umweltschutz (BI) eine Sternfahrt nach Gorleben und die Bauern setzten sich Anfang März bereits zum ersten Mal auf die Trecker und demonstrierten in der Kreisstadt Lüchow. Dazu muss man wissen, dass die BI um Marianne Fritzen schon als lockerer Zusammenschluss existierte, denn es gab zuvor schon den Plan, in Langendorf in der Nähe von Dannenberg ein Atomkraftwerk zu bauen. Kurz danach demonstrierten am 13. März bereits Tausende in Gorleben.

- Wie konnte Gorleben zu dem Kristallisationspunkt der Anti-AKW-Bewegung werden?

Ehmke: Da kamen einige Faktoren zusammen: die unglaubliche Verwurzelung des Protests im agrarisch geprägten Wendland von Anfang an, ja, der Widerstand war und ist sehr authentisch. Das Phantasievolle wie zum Beispiel der Treck nach Hannover 1979, dessen Vorbild der Marsch von Bauern aus dem Hochplateau auf dem Larzac in Südfrankreich nach Paris war, unter dem Eiffelturm grasten Schafe. Oder die sechswöchige Platzbesetzung mit dem Hüttendorf 1980, die berühmte "Freie Republik Wendland". Dazu kam die große Empörung über die Polizeieinsätze schon beim ersten Atommülltransport im Orwell-Jahr 1984, und mit dem Beginn der Castortransporte wurde Gorleben der soziale Ort über Jahrzehnte hinweg, wo die Zukunft der Atomkraft auf der Straße und der Schiene ausgehandelt wurde, mit großer Medienbegleitung.

- Warum bezeichnen die AKW-Gegner/-innen Gorleben als Schwarzbau?

Ehmke: Ganz einfach, weil es nicht einmal ein atomrechtliches Genehmigungsverfahren gab; da wurde einfach unter dem Deckmantel der "Erkundung" ein Bergwerk gebaut, gleich in der richtigen Größe für ein Atommüllendlager.

- Wie wurde Gorleben "eignungshöffig" gemacht?

Ehmke: Es gab am Anfang die Aussage, ein Endlager müsse garantieren, dass keine Radioaktivität an die Biosphäre gelangt. Als der Wasserkontakt bekannt wurde - immerhin gibt es auf rund 7,5 Quadratkilometern keine Tonschicht über dem Salzgestein - wurden Wissenschaftler wie Klaus Duphorn, die vor Gorleben warnten, diskreditiert, und von einer doppelten Barriere wurde einfach Abstand genommen.

"Der Widerstand soll schlafen gelegt werden. Aber das gelingt nicht. Wir sind hellwach!"

Der Hammer war die Salzstudie der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) aus dem Jahr 1995. Gorleben wäre dabei rausgefallen, aber Angela Merkel sagte in Interviews - sie war damals Umweltministerin - die Studie beweise, dass Gorleben bestens geeignet sei. Dabei sollte die BGR ausdrücklich Gorleben nicht in ein Ranking mit einbeziehen. Das hatte übrigens Merkels Vorgänger, Prof. Klaus Töpfer, so angeordnet und heute konfrontieren wir ihn, wo er einen der beiden Vorsitze im Nationalen Begleitgremium zur Endlagersuche übernommen hat, mit seiner Weichenstellung und fordern ganz aktuell, dass der Salzstock Gorleben zu genau den damaligen Kriterien und Konditionen mit den anderen Standorten verglichen wird. Geschieht das, wäre es nur fair und wir erhoffen uns davon, dass dann eingeräumt wird, dass Gorleben aus geologischer Sicht nicht geht.

- Das Bergwerk wird schlafen gelegt ("Offenhaltung"). Warum reicht das nicht?

Ehmke: Weil in Gorleben weitergemacht werden kann, wenn unter Tage die Kerninfrastruktur erhalten bleibt. Eigentlich soll ja auch der Widerstand schlafen gelegt werden. Das gelingt aber nicht, wir sind hellwach. Aus der ganzen Geschichte mit dem Lug und Trug auf Seiten der Behörden und Institute, der Kriminalisierung und dem ewigen Hinhalten gibt es nur einen fairen und glaubwürdigen Ausweg: Komplett dichtmachen!


In den Medien seit vierzig Jahren unverzichtbar:
Wolfgang Ehmke ist lanjähriger Pressesprecher der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Im Wendland seit vierzig Jahren unzertrennlich: Bäuerlicher Widerstand und die Anti-Atom-Szene.

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Quelle:
Gorleben Rundschau - Mai/Juni 2018, Seite 11 - 13
Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V.
Rosenstr. 20, 29439 Lüchow
Tel. 05841/46 84
E-Mail: redaktion@gorleben-rundschau.de
Internet: www.gorleben-rundschau.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2018

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