Institute for Advanced Sustainability Studies e.V. - 22.02.2019
Kritik an Umsetzung der Energiewende nimmt zu - Bevölkerung will sozialen Ausgleich
Eine große Mehrheit der Bevölkerung steht weiterhin hinter der Energiewende - quer durch alle Bildungs-, Einkommens- und Altersgruppen. Die Befragten schätzen die Energiewende als Gemeinschaftsaufgabe ein, an der sie selbst mitwirken möchten. Kritik gibt es allerdings an der Umsetzung durch die Bundesregierung. Dies sind einige der Ergebnisse des 2018 zum zweiten Mal erstellten Sozialen Nachhaltigkeitsbarometers zur Energiewende, das in Berlin vom Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) vorgestellt wurde. Über 6500 Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sind dafür befragt worden.
Kritik gibt es an der Umsetzung der Energiewende durch die
Bundesregierung, drei Viertel der Befragten bewerten die Energiewende
als "teuer", über die Hälfte als "chaotisch".
Grafik: © IASS/dynamis
Im Vergleich mit dem ersten Sozialen Nachhaltigkeitsbarometer der Energiewende von 2017 ist bemerkenswert, dass mehr Menschen in Deutschland die Energiewende als Gemeinschaftsaufgabe betrachten. Kritisch sehen die Befragten jedoch die Umsetzung der Energiewende durch die Bundesregierung: Drei Viertel der Befragten bewerten die Energiewende als "teuer", über die Hälfte als "chaotisch" und "ungerecht". Die Bevölkerung wünscht sich zudem, dass es beim Klimaschutz schneller vorangeht, aber auch, dass soziale Gerechtigkeit stärker als bisher berücksichtigt wird.
Skepsis gibt es bei der Bereitschaft, mehr für den Klimaschutz zu zahlen, eine relative Mehrheit möchte dafür eine Entlastung. Bei der Zustimmung zur Elektromobilität und der Investition in eine eigene Wind- oder Solaranlage gibt es Zurückhaltung.
Das zweite Soziale Nachhaltigkeitsbarometer zur Energiewende wurde vom Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS), der 100 prozent erneuerbar Stiftung und der innogy Stiftung für Energie und Gesellschaft erstellt, die gemeinsam die Partnerschaft dynamis bilden.
Ortwin Renn, geschäftsführender Direktor am IASS sagt zu den Ergebnissen: "Die Menschen in Deutschland wollen die Energiewende und sie haben ein feines Gespür für ein ökologisches, sozial gerechtes Energiesystem und nachhaltigen Klimaschutz. Mit der Umsetzung der Energiewende verbinden jedoch viele inzwischen ein zu wenig abgestimmtes und geordnetes Vorgehen der Parteien - die kritische Sicht auf die Energiepolitik der Parteien hat stark zugenommen. Bemerkenswert ist, dass es vielen schlicht und ergreifend mit der Energiewende nicht schnell genug vorangeht. Gleichzeitig wollen sie aber, dass diejenigen, die unter den möglichen Belastungen der Energiewende leiden, auch solidarisch von den anderen unterstützt werden."
Daniela Setton, Autorin der Studie und wissenschaftliche Mitarbeiterin am IASS, sagt: "Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Menschen in Deutschland gleichermaßen Klimaschutz wie sozialen Ausgleich wollen. Beide Aspekte müssen in zentralen Bereichen der Energiewende stärker zusammengebracht werden, das ist eine der Kernaufgaben der Bundesregierung. So ist es fast der Hälfte der Befragten wichtig, dass der Windausbau an Land nicht gegen die vor Ort betroffene Bevölkerung durchgesetzt wird. Und die Einführung von CO2-Preisen dürfte nur mit einem für die Mehrheit überzeugenden und sichtbaren Kompensationsmechanismus ausreichend Akzeptanz finden. Eine zentrale politische Aufgabe ist aber auch, für die Menschen im Alltag praktikable, attraktive und bezahlbare Handlungsalternativen zum Verbrauch fossiler Energien zu schaffen, daran fehlt es noch, beispielsweise bei der Mobilität aber auch beim Heizen."
Für René Mono, geschäftsführender Vorstand 100 prozent erneuerbar Stiftung, zeigt das Barometer: "Wir können mit der Energiewende nicht weiter machen wie bisher. Die Menschen fordern eine gerechtere Verteilung der Kosten und einen lösungsorientierten Umgang mit Zielkonflikten. Vor allem aber erscheint ein Aspekt wichtig: Diejenigen, die von der Energiewende betroffen sind, müssen sich als Gewinner der Energiewende fühlen können, nicht als Leidtragende."
Stephan Muschick, Geschäftsführer innogy Stiftung für Energie und Gesellschaft sagt: "Eine dezentrale, auch auf neuen technologischen Lösungen basierende Energiewende kommt ohne Menschen, die offen sind für neue Rollen, nicht aus. Vor diesem Hintergrund sollten einige Ergebnisse des Barometers als Weckruf verstanden werden - mehr zu werben und mehr Vertrauen zu schaffen für heute noch ungewohnte Anwendungen, inklusive einer verantwortungsvollen Nutzung von Daten."
• Zustimmung zur Energiewende weiterhin hoch
In den Augen einer breiten Mehrheit der Bevölkerung ist die
Energiewende grundsätzlich auf dem richtigen Weg. 90 Prozent der
Bevölkerung befürworten die Energiewende, quer durch alle Bildungs-,
Einkommens- und Altersgruppen, gleichermaßen auf dem Land wie in den
Städten. Das sind zwei Prozentpunkte mehr als bei der Befragung 2017.
80 Prozent der Bevölkerung sehen die Energiewende als Gemeinschaftsaufgabe, zu der jeder in der Gesellschaft einen Beitrag leisten sollte. Dies ist eine leichte Steigerung gegenüber dem Vorjahresergebnis (+5). Dem stimmen auch 76 Prozent (+ 6) der einkommensschwächeren Haushalte zu.
• Kritik an der Umsetzung der Energiewende hat zugenommen
Die kritische Sicht auf die Umsetzung der Energiewende hat
deutlich zugenommen. 47 Prozent der Befragten bewerten den Stand
Energiewende in Deutschland unterm Strich mehrheitlich als negativ.
Dies entspricht einer deutlichen Steigerung um 14 Prozentpunkte im
Vergleich zur Vorjahresbefragung, bei der noch eine positive
Einschätzung überwog.
Die Energiewende wird in allen für die Soziale Nachhaltigkeit relevanten Aspekten wie Gerechtigkeit, Bürgernähe, Kosten und politische Steuerung um mehrere Prozentpunkte kritischer gesehen als im Jahr 2017.
• Unzufriedenheit mit der Energiewende-Politik der
Bundesregierung gestiegen
Mehr als die Hälfte der
Bevölkerung (61 Prozent) ist mit der Politik der Bundesregierung im
Hinblick auf die Umsetzung der Energiewende unzufrieden, dies ist eine
deutliche Steigerung um zwölf Prozentpunkte im Vergleich zur Befragung
2017. Auch die Mehrheit der Anhänger der Regierungsparteien ist in
Sachen Energiewende mit der Bundesregierung unzufrieden. Als einen der
wichtigsten Gründe für die Unzufriedenheit mit der Bundesregierung
nennen 58 Prozent derjenigen, die mit der Energiewende unzufrieden
sind, eine zu langsame Umsetzung der Energiewende und damit fehlende
Wirksamkeit beim Klimaschutz. Knapp über die Hälfte (52 Prozent) stört
mit am meisten, dass die soziale Gerechtigkeit nicht ausreichend
Berücksichtigung findet.
• Vertrauen in die Energiewende-Kompetenz der Parteien
gesunken - nur Grüne legen zu
Erneut kann keine der im
Bundestag vertretenen Parteien die Bevölkerung bei der Umsetzung der
Energiewende mit großer Mehrheit von sich einnehmen: Fast jeder Dritte
(31 Prozent) ist von keiner der Parteien überzeugt, wenn es um
Umsetzung der Energiewende geht, dies ist eine Steigerung um acht
Prozentpunkte.
Den höchsten Kompetenzwert bei der Energiewende erreichen Bündnis 90/Die Grünen mit 27 Prozent. Aber auch die Grünen können in Sachen Energiewende nur etwa ein Viertel der Bevölkerung überzeugen.
• Bundesweit unverändert hohe Mehrheit für Kohleausstieg -
aber in Braunkohleländern nimmt Skepsis zu
Bundesweit liegt
die Zustimmung zum Kohleausstieg bei knapp zwei Dritteln der
Bevölkerung (64 Prozent, + 1). Damit hat der Ausstieg aus der Kohle
inzwischen eine gleich hohe Zustimmung wie der Atomausstieg (64
Prozent, -4). Insgesamt 13 Prozent (+2) lehnen den Kohleausstieg ab,
davon 4 Prozent strikt. In den östlichen Bundesländern (inkl. Berlin)
ist die Befürwortung des Kohleausstiegs geringer (51 Prozent zu 67
Prozent West) und die Ablehnung leicht erhöht (18 Prozent zu 11
Prozent West).
In den besonders betroffenen Regionen und Bundesländern zeigt sich ein differenzierteres Bild. Trotz einer weiterhin vorhandenen Mehrheit für den Ausstieg ist die Ablehnung in allen Braunkohleländern gestiegen. In der zweitgrößten deutschen Braunkohleregion, der Lausitz, sind 43 Prozent gegen den Kohleausstieg.
• Mehrheit steht hinter Klimaschutzzielen - aber auch für
Rücksichtnahme auf Industrie und betroffene Regionen
Eine
Mehrheit von 87 Prozent der Bevölkerung steht hinter den deutschen
Klimaschutzzielen bis 2020 und will diese trotz eines
voraussichtlichen Verfehlens nicht aufgeben. Dies gilt einkommens- und
parteiübergreifend.
Die Hälfte (51 Prozent) der Befragten ist jedoch dafür, die Ziele zeitlich aufzuschieben, um den betroffenen Regionen und der Industrie mehr Zeit zur Umstellung zu lassen. Knapp über ein Drittel (36 Prozent) will hingegen, dass die Bundesregierung unbedingte Priorität auf schnellen Klimaschutz legt, auch wenn es in den Regionen zu Belastungen kommt.
• Breite Zustimmung für CO2-Preise - aber Mehrheit will dafür
Entlastung
Eine Mehrheit von 54 Prozent findet moderat
steigende Energiepreise gerechtfertigt. Allerdings ist diese Haltung
bei einkommensstarken Haushalten mit 64 Prozent der Befragten öfter
anzutreffen. Jeder Fünfte hält solche Preisveränderungen für nicht
gerechtfertigt (22 Prozent). Ebenso würden einkommensstärkere
Haushalte mehr für das Autofahren oder Fliegen bezahlen (45 Prozent),
während der Anteil bei einkommensschwächeren Haushalten bei 23 Prozent
rangiert.
In Kombination mit Entlastungen an anderer Stelle akzeptieren fast die Hälfte (46 Prozent) höhere Preise für mehr Klimaschutz bei Wärmeversorgung oder Mobilität. Der Wunsch nach einer Entlastung ist bei Autobesitzern (48 Prozent) am stärksten verbreitet. Unter den Personen ohne eigenes Auto sprachen sich 31 Prozent dafür aus.
• Verhaltene Zustimmung zur Elektromobilität - aber Mehrheit
gegen Verbot von Verbrennungsmotoren bis 2030
Über die
Hälfte der Befragten (55 Prozent) befürwortet den Ausbau der
Elektromobilität in Deutschland, während 15 Prozent dies ablehnen. Vor
allem Jüngere zwischen 18 und 29 Jahren stehen dem Ausbau der
Elektromobilität positiv gegenüber: 67 Prozent dieser Zielgruppe
befürworten dies. Etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung (54
Prozent) lehnt ein Verbot des Verbrennungsmotors bis 2030 ab; dies
gilt weitestgehend parteiübergreifend.
• Solar-Dachanlagen: mit Abstand am beliebtesten unter den
erneuerbaren Technologien
Nur 5 Prozent lehnen den Ausbau
von Solardächern ab, während sich 81 Prozent der Bevölkerung klar für
Solaranlagen auf Dächern aussprechen, selbst in stark besiedelten
Gebieten (80 Prozent). Damit nehmen Dachanlagen den Spitzenplatz unter
den erneuerbaren Technologien ein. Denn im Gegensatz dazu lehnen
wiederum 22 Prozent der Bevölkerung den Ausbau von Windanlagen an Land
ab, sieben Prozent sogar strikt.
• Windausbau an Land: Anzahl der Anlagen im direkten
Wohnumfeld zentraler Faktor für Akzeptanz
Auch bei großer
Betroffenheit von Windanlagen im unmittelbaren Wohnumfeld (unter fünf
Kilometer) fühlen sich die Menschen davon mehrheitlich nicht gestört.
Dies ändert sich aber, wenn sich die Anlagen in geringer Entfernung
vom Wohnhaus stark häufen. Auch sinkt dann die Akzeptanz: 69 Prozent
der Personen, die sich von einer Windanlage in ihrer Nähe gestört
fühlen, lehnen den weiteren Ausbau von Windanlagen an Land ab. Diese
Bevölkerungsgruppe beurteilt die Energiewende zugleich öfter als
ungerecht (80 Prozent) und elitär (69 Prozent) als diejenigen, die
sich nicht gestört fühlen. Eine große Mehrheit von denjenigen (83
Prozent), die sich von Windrädern in der Wohnumgebung gestört fühlen,
kann sich auch vorstellen, gegen weitere geplante Windräder zu
protestieren
• Knappe Mehrheit findet: Bürgerbeteiligung wichtiger als
schneller Windausbau
Eine Mehrheit von 86 Prozent spricht
sich für die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am Planungsprozess
von Windanlagen aus, Betroffene sollen sogar die letzte Entscheidung
darüber haben, ob in einer Region weitere Windanlagen gebaut werden
(55 Prozent). Bezogen auf die Gesamtbevölkerung finden fast die
Hälfte, dass eine Bürgerbeteiligung wichtiger sei als ein schneller
Ausbau.
• Mitwirkung als "Prosumer": Wohnsituation ist entscheidend
Wer bisher in eine Solar- oder Windenergieanlage
investiert hat, ist in der Regel Eigenheimbesitzer (93 Prozent).
Lediglich vier Prozent sind Mieterinnen und Mieter. Jeder Fünfte wäre
grundsätzlich bereit, innerhalb der kommenden zwei Jahre in eine
eigene Solar- oder Windanlage zu investieren, während sich dies mehr
als die Hälfte (62 Prozent) nicht vorstellen können. 41 Prozent
begründen ihre fehlende Investitionsbereitschaft damit, dass sie in
einem Mietverhältnis leben, jeweils 28 Prozent geben an, dass es sich
für Sie nicht lohne oder zu teuer sei.
• Flexibilität beim Stromverbrauch - aber wenig Interesse an
flexiblen Tarifen
Im Hinblick auf die Nutzung von
Waschmaschine und Geschirrspüler gibt eine Mehrheit der Haushalte an,
beim Stromverbrauch flexibel zu sein. Das Interesse an der Nutzung
flexibler Tarife mit schwankenden Strompreisen ist aber gering und
liegt bei nur 8 Prozent der Befragten. Sollte es flexible Stromtarife
geben, dann würden die meisten Befragten (42 Prozent) eine digitale
Anzeige wählen - das sogenannte Ampelmodell - das den Haushalten die
Strompreise anzeigt, aber ihnen die Entscheidung überlässt, ob sie
ihren Stromverbrauch anpassen oder nicht. Etwa drei Viertel (74
Prozent) lehnen es ab, dass der Energieversorger von außen den
Stromverbrauch der Haushaltsgeräte nach der Preisentwicklung steuert.
Originalpublikation:
https://www.iass-potsdam.de/sites/default/files/2019-
02/IASS_Nachhaltigkeitsbarometer.pdf
Weitere Informationen finden Sie unter
https://www.iass-potsdam.de/de/news/soziales-nachhaltigkeitsbarometer-
energiewende-2018
Die gesamte Pressemitteilung inkl. Bilder erhalten Sie unter:
http://idw-online.de/de/news711017
Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution1699
*
Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Institute for Advanced Sustainability Studies e.V. - 22.02.2019
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Februar 2019
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