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VERKEHR/1076: Zwischen Blechlawine und S-Bahn-Chaos... Notizen zum Berliner Nahverkehr (ROBIN WOOD magazin)


ROBIN WOOD magazin - Nr. 129/2.2016

verkehr

Notizen zum Berliner Nahverkehr
Zwischen Blechlawine und S-Bahn-Chaos

von Helge Groß und Alexander Valerius
Regionalgruppe Berlin


Wer in Berlin Bahn fährt, braucht Nerven. Und Geld. Das ist für die Berliner*innen langsam nichts Neues mehr, nach 7 Jahren S-Bahn-"Krise" haben wir uns mehr oder weniger an den schlechten Normalzustand gewöhnt. Er ist längst Teil vieler persönlicher Armutsund Umweltkrisen geworden. Klar, schimpfen könn wa, da sind auch wir in der Berliner ROBIN WOOD-Gruppe keine Ausnahme. Zum Beispiel wenn die S-Bahn auf dem Weg zur Baumbesetzung gegen den Ausbau der A100 wegen ein paar Schneeflocken kollabiert. Anfang des Jahres, als dann die - wievielte eigentlich? - Fahrpreiserhöhung der letzten Jahre ihre Spuren in unseren Portmonees und Diskussionen hinterließ, wollten wir es noch genauer als bisher wissen. Das Ergebnis war ein Vortragsabend mit viel "ach richtig" und "ach so", Wut und schwarzen Humor und einigen Ideen, was sich ändern kann und muss.

Leben in einer Autostadt

Berlin wird von Autos dominiert. Diese zur Selbstverständlichkeit gewordene Erkenntnis ist ebenso simpel wie frappierend. Schaut Mensch nämlich einmal genauer auf das zur Gewohnheit gewordene Stadtbild, wird klar: Autos sind allgegenwärtig. Kinder müssen an die Hand genommen werden, damit sie nicht unter die Räder kommen. Nirgendwo ist der Verkehr nicht zu hören und die Abgase sind überall. 30% der Wege werden in Berlin mit dem Auto zurückgelegt - immer noch mehr als mit den Öffentlichen, die auf knapp 27% kommen. Paradoxerweise sind die mit dem PKW zurückgelegten Strecken mit 7,4 km deutlich kürzer als die des ÖPNV - bei Durchschnittsgeschwindigkeiten von 21 km/h. Hier wird deutlich, dass die meisten Fahrten auch bequem mit dem Fahrrad zurückgelegt werden könnten, das mit 12,5% einen nur geringen Anteil an der Wegehäufigkeit hat. Besonders unnötig ist auch, dass in einem Berliner Auto meist nur eine Person sitzt (im Schnitt 1,3 Personen).

Wie verhält es sich mit den Auswirkungen des Verkehrs auf die Gesundheit der Hauptstädter*innen? In Berlin liegt an vielen Stellen die Feinstaubbelastung deutlich über den EU-Grenzwerten. Die Folgen sind direkt spürbar: Acht Prozent der lungenkrebsbedingten Todesfälle werden durch Feinstaub verursacht. Im Jahr 2050 wird die Luftverschmutzung durch Feinstaub die Hauptursache für umweltbedingte Todesfälle sein. Auch beim Stickstoffdioxid, das in Berlin zu vier Fünfteln mit dem Verkehr zusammen hängt, liegen die Messwerte viel zu hoch. Ähnlich sieht es beim Thema Lärm aus: 300.000 Einwohner in Berlin geben an, unter Straßenlärm zu leiden. Und lärmbedingte Schlafstörungen führen erwiesenermaßen zu Belastungen des Herz-Kreislauf-Systems. Unmittelbar tödlich zeigt sich der Verkehr in der Unfallstatistik - im Jahr 2013 gab es beispielsweise 15 tödlich verunglückte Fahrradfahrer*innen. Zusätzlich zu der genannten Luftverschmutzung ist der Straßenverkehr an den Treibhausgasemissionen und damit am Klimawandel wesentlich beteiligt. Die durchschnittlichen Emissionen von PKW sind pro Person und Strecke etwa viermal so hoch wie bei Bus oder Zug. Pro Tag sind die Treibhausgasemissionen des motorisierten Individualverkehrs in Berlin sogar etwa doppelt so hoch wie die von Bus, U-Bahn, Straßenbahn und Bahn zusammengenommen (siehe Grafik).


Säulendiagramm: Treibhausgasemissionen des Berliner Personenverkehrs (zu Fuß, Fahrrad, Pkw, Bus, U+Tram, Zug) - Grafik: © Robin Wood

Grafik: © Robin Wood

Ausweg Elektroauto?

Angesichts dieser schwerwiegenden Negativfolgen des PKW-Verkehrs wird die individualisierte Elektromobilität vielerorts als Lösung für zukünftige Verkehrsentwicklung diskutiert. Elektroautos sind das Aushängeschild für eine angebliche Entwicklung der Autokonzerne hin zu Nachhaltigkeit. Sie repräsentieren die Idee des grünen Wachstums. E-Autos sind leise, nachhaltig und umweltfreundlich, so das Credo. Beispielsweise bewirbt Renault seine Produkte mit dem Slogan "100% elektrisch. 0% Emissionen". Was ist da dran?

Der Behauptung von Null-Emissionen liegt die Annahme zugrunde, die Energie für Elektroautos käme zu 100% aus erneuerbaren Energiequellen und es entstünden keinerlei Emissionen durch den Bau und Erhalt der Kraftwerke und Infrastruktur. Werden jedoch die tatsächlichen Energiequellen sowie die Emissionen beim Bau berücksichtigt, so ist der Zahlentrick schnell entlarvt. Unter Berücksichtigung des aktuellen Strommixes in Deutschland färbt sich das Grün ins Kohleschwarz: Mit 0,24 kg CO2-Äquivalent pro Kilometer und Person sind die Emissionen eines Elektroautos in Deutschland 1,4-mal höher als die eines im letzten Jahr neu zugelassenen PKW. Wird der polnische Strommix herangezogen, der noch stärker von Kohlekraft dominiert wird, so emittiert ein Elektroauto auf indirektem Wege etwa doppelt so viel Treibhausgase wie der neu zugelassene PKW. Im Vergleich zum Personentransport mit dem Zug sind die PKW-Emissionen sogar mehr als sieben mal höher. Ähnliche Überlegungen sind auch bei der Betrachtung von Biokraftstoffen vonnöten. Individuelle Elektromobilität bedeutet also hohe Emissionen und hohen Energie-bzw Ressourcenverbrauch bei gleichzeitig hohem Platzbedarf. Das ist also keine Lösung für die Probleme der Autostadt!

Rationalität, Gerechtigkeit und die autogerechte Stadt

Es sollte deutlich geworden sein, dass die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs das Leben an der Spree deutlich unschöner und ungesünder macht und den weltweiten Klimawandel vorantreibt. Und auch das Elektroauto wird daran nichts ändern. Wieso werden dann aber nicht mehr Kilometer mit dem ÖPNV oder dem Fahrrad zurückgelegt? Die Antwort lautet schlicht: Weil es kein Anliegen der von privatwirtschaftlichen Interessen dominierten Stadtpolitik ist. Die aktuelle Verkehrsplanung ist nicht rational städteplanerisch begründet, sondern das Ergebnis von kapitalistischer bzw. neoliberaler Ideologie, Lobbyismus und Politik. Die großen Unterschiede in Sachen Besitz und Teilhabe, die der Kapitalismus mit sich bringt, finden auch im PKW-Verkehr ihren konkreten Ausdruck.

Das Auto ist das Symbol individueller Freiheit und gilt als der Liebling besonders der deutschen Männer. Wie steht es mit der Gleichheit bzw Gerechtigkeit in Sachen Mobilität? Eine Studie für das Jahr 2003 zeigt eine starke Relation zwischen Netto-Haushaltseinkommen und dem Besitz eines PKW: Bei einem Einkommen von unter 900 EUR haben fast 65% der Bevölkerung kein Auto - liegt das Einkommen über 2000 EUR, besitzen dagegen nur 6% kein Auto. Die verringerte Mobilität mit fallendem Einkommen trifft Haushalte von Alleinerziehenden besonders hart. Hier ist erkennbar, dass die gelebte Vision Auto die persönliche Freiheit Einzelner gegenüber dem Wohlstand Aller bevorzugt. Besonders traurige Absurdität erlangt die soziale Benachteiligung im Fall der Strafverfolgung beim Fahren ohne Fahrschein auch in Berlin: Bis zu einen von drei Prozessen betrifft das Fahren ohne Fahrschein in der Hauptstadt und knapp ein Drittel der Insassen der JVA Plötzensee sitzen aus diesem Grund ein. Eine Ungerechtigkeit, die noch weiter an Brisanz gewinnt, wenn Mensch sich die Fahrpreisentwicklung der letzten Jahre anschaut.

Bahnpolitik in der Autostadt - Der Wahnsinn hat Methode

Berlin gehört zu den Regionen, die von den Privatisierungsplänen der Deutschen Bahn besonders hart getroffen wurden. Bei der Berliner S-Bahn wurden in der ersten Hälfte der Nuller-Jahre die Weichen für eine Unternehmenspolitik gestellt, die bis zum Zeitpunkt des Börsengangs maximale Profite aus der DB-Tochter herausschlagen sollte. Erreicht wurde das, indem die Fahrpreise erhöht und die Infrastruktur gnadenlos auf Verschleiß gefahren wurde. Während die Fahrgastzahlen stiegen, wurden Wägen verschrottet, Personal entlassen, Werkstätten geschlossen und Wartungsintervalle stark gestreckt. Während einerseits für unnötige aber repräsentative Großprojekte wie dem Neubau des Stadtschlosses, den Ausbauten der Stadtautobahnen und den Pannenflughafen BER Bundesmittel in großem Stil in die Hauptstadt gepumpt wurden, presste die DB als Staatskonzern den BerlinerInnen das Maximum an Profit ab. Und die Strategie ging auf: Zwar war es um die Pünktlichkeit immer schlechter bestellt, aber die Gewinne stiegen. Warnungen des Betriebsrats, Unfälle und andere Warnzeichen, dass es nicht unbegrenzt so weitergehen konnte, wurden geflissentlich übersehen. Bis das DB-Management von der Realität eingeholt wurde.

2009 war die Berliner S-Bahn bundesweit in den Schlagzeilen, als der Verkehr mehrfach spektakulär kollabierte. Das Ausmaß war historisch einmalig, selbst 1945 funktionierte der Berliner Nahverkehr wesentlich zuverlässiger. Ab 2010 wurden die schlimmsten Folgen des Sparkurses langsam rückgängig gemacht. Trotzdem wird bis heute nicht genug in die Infrastruktur investiert, um insbesondere im Winter einen auch nur halbwegs reibungslosen Betrieb zu gewährleisten. Ob es nun an fehlenden Zügen, zuwenig Fahrer*innen oder ausfallenden Weichen liegt - in sechs der letzten sieben Winter kam es in Berlin zu schmerzhaften Einschränkungen des S-Bahn-Betriebs.

Trotz ihres schlechten Angebots macht die S-Bahn inzwischen aber wieder satte Gewinne. 2008, auf dem Höhepunkt des Raubzugs auf Kosten ihrer Infrastruktur, waren es 56 Millionen Euro - 2014 konnten wieder über 54 Millionen Euro Profit an den Mutterkonzern abgeführt werden. Der Grund liegt in den seit Jahren massiv steigenden Fahrpreisen. Inzwischen liegen die Berliner Fahrpreise gemessen an der lokalen Kaufkraft deutschlandweit im vorderen Drittel. Die dahinter stehenden Entscheidungen zulasten von Bevölkerung und Umwelt sollen künftig noch weiter entpolitisiert werden: Für Berlin und Brandenburg trat dieses Jahr ein Mechanismus für automatische Fahrpreiserhöhungen in Kraft. Er berücksichtigt vor allem die regionale Preisentwicklung, aber weder das regionale Einkommensniveau, noch die von den Verkehrsbetrieben getätigten Investitionen und ihre millionenschweren Profite.

Die dringend nötige Abkehr vom motorisierten Individualverkehr wird mit diesem profitorientierten und unterfinanzierten öffentlichen Nahverkehr nicht zu machen sein. Aber wie kann eine echte Alternative aussehen? Welche Rolle kann dabei das Konzept des kostenlosen ÖPNV spielen? Diese Fragen diskutieren wir im zweiten Teil des Artikels, der im nächsten ROBIN WOOD-Magazin erscheinen wird. Wer bis dahin schon mal nach Aktionsideen suchen will, dem empfehlen wir:

ticketteilen.org
schwarzstrafen.de.vu/

Die Quellen und weitere Hintergrundinfos zu diesem
Artikel finden sich unter: robinwood.de/berlin


Kleine Chronologie der Berliner S-Bahn-Krise
  • Anfang/Mitte der Nuller-Jahre: Beginn des Sparkurses bei der S-Bahn.
  • 2002/2003: Beschluss zum Wiederaufbau des Stadtschlosses. Die Kosten dürften die 600 Millionen Euro Marke übersteigen.
  • 2003: Fahrpreiserhöhung.
  • 2004: Abschaffung der Arbeitslosen- und Seniorentickets, dafür wird der Normalfahrschein (AB-Ticket) etwas billiger.
  • 2005: Fahrpreiserhöhung. Das AB-Ticket kostet 2,10EUR.
  • 2006: Offizieller Baubeginn am Hauptstadtflughafen BER. Die Kosten sind bis heute auf fast 6 Milliarden gestiegen, keine Ende in Sicht.
  • 2008: Fahrpreiserhöhung.
  • Winter 2008/09: Starke Einschränkungen bei der S-Bahn.
  • Juli 2009: Nach einer Zugentgleisung in Folge schwerer Wartungsmängel werden dreiviertel aller Züge aus dem Verkehr genommen. Notfallfahrplan, u.a. wird einer der wichtigsten innerstädtischen Streckenabschnitte wochenlang nicht bedient.
  • September 2009: Es tauchen erneut schwere Wartungsmängel auf, der Zugverkehr wird wieder stark ausgedünnt oder ganz eingestellt.
  • Winter 2009/10: Erneut zahlreiche Zugausfälle, nur die Hälfte der benötigten S-Bahn-Wägen sind einsatzbereit.
  • Ab 2010: Der Sparkurs wird schrittweise zurückgenommen.
  • Winter 2010/11: Trotz angekündigter intensiver Wintervorbereitungen wieder erhebliche Einschränkungen.
  • 2011: Fahrpreiserhöhung. Das AB-Ticket kostet 2,30 EUR.
  • Winter 2011/12: Wieder zahlreiche Zugausfälle.
  • 2012: Fahrpreiserhöhung. Das AB-Ticket kostet 2,40 EUR.
  • Winter 2012/13: Wieder starke Einschränkungen.
  • 2013: Fahrpreiserhöhung. Das AB-Ticket kostet 2,60 EUR.
  • 2013: Baubeginn des 16. Bauabschnitts der A100. Geplante Kosten: Knapp 500 Millionen EUR.
  • Winter 2014/15: Trotz angekündigter intensiver Wintervorbereitungen wieder Verspätungen, Zugausfälle und stundenweise Stilllegung einzelner Strecken.
  • Januar 2015: Fahrpreiserhöhung. Das AB-Ticket kostet jetzt 2,70 EUR.
  • Winter 2015/16: Die S-Bahn erklärt, "voll und ganz auf Winter eingestellt" zu sein. Verspätungen, Zugausfälle, zeitweise Stilllegung von Streckenabschnitten.
  • 2016: Fahrpreiserhöhung.

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Quelle:
ROBIN WOOD-Magazin Nr. 129/2.2016, Seite 26-28
Zeitschrift für Umweltschutz und Ökologie
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. August 2016

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