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ATOM/1246: Kugelhaufenreaktoren - Status nach unabhängiger Expertenstudie zum AVR Jülich (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 664-665 / 28. Jahrgang, 4. September 2014 - ISSN 0931-4288

Atomforschung und Politik
Kugelhaufenreaktoren - Status nach Erscheinen einer unabhängigen Expertenstudie zum AVR Jülich

von Rainer Moormann und Jürgen Streich (*)



Nach dreijähriger Arbeit erschien Ende April 2014 ein Bericht unabhängiger Experten zum Kugelhaufenreaktor AVR (Jülich), welcher in wesentlichen Punkten die seit 2006 geäußerten Vermutungen über verheimlichte schwere Zwischenfälle und Probleme bestätigt und Zweifel am Kugelhaufenreaktorkonzept artikuliert. Die Vorgeschichte dieses Expertenberichtes und seine wichtigsten Ergebnisse werden hier dargestellt und Schlussfolgerungen diskutiert. Die durch diesen Expertenbericht verursachte Diskussion veranlasste das Forschungszentrum Jülich (FZJ) im Mai 2014, die Einstellung der noch laufenden Arbeiten zu Kugelhaufenreaktoren und zur Unterstützung des chinesischen Kugelhaufenreaktorprojektes anzukündigen.

Hintergrund

Der AVR (Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor) war der erste Kugelhaufenreaktor, ein Versuchs-AKW von 15 Megawatt elektrischer Nettoleistung. Kugelhaufenreaktoren, die zu den Hochtemperaturreaktoren (HTR) gehören, gelten noch vielfach als ein in Deutschland erfundenes AKW-Konzept; tatsächlich wurden sie jedoch schon in den 1940er Jahren in den USA erdacht [7], aber bald zugunsten von Leichtwasserreaktoren (LWR) aufgegeben. Der AVR, der viel Ähnlichkeit zu dem von Farrington Daniels 1945 zum US-Patent angemeldeten Pebble bed reactor [7] aufweist, wurde in Nachbarschaft zum Forschungszentrum Jülich (FZJ) von BBC/Krupp in den Jahren 1960 bis 1966 gebaut und von einem Konsortium aus diversen kleineren und mittelgroßen Elektrizitätsversorgern von 1967 bis 1988 betrieben. Das FZJ betreute das Projekt wissenschaftlich und glich die beim Betrieb entstehenden finanziellen Defizite, wie später bekannt wurde, großenteils aus. Ursprünglich war ein AVR-Betrieb nur für wenige Jahre vorgesehen, um die Machbarkeit einer Energieerzeugung mit Kugelhaufenreaktoren zu demonstrieren. Da sich aber der Nachfolgereaktor THTR-300 (in Hamm) um mehr als zehn Jahre verzögerte und schon in der Inbetriebnahmephase schwerste Probleme zeigte, wurde der AVR-Betrieb erheblich verlängert. Das wurde unter anderem damit gerechtfertigt, dass der AVR als Prototypreaktor für die ab 1980 entwickelten kleinen modularen Kugelhaufenreaktoren zur Verfügung stehen müsse.

Da der Rückbau ab 1989 außergewöhnliche Schwierigkeiten bereitete und der Bundesrechnungshof wegen enormer Kostensteigerungen (1989 geplant: 39 Millionen DM, bis heute verbraucht: circa 700 Millionen Euro; heute geschätzte Gesamtentsorgungskosten: 1,5 bis 2 Milliarden Euro) ein warnendes Gutachten verfasste, wurde der AVR 2003 vollständig von der öffentlichen Hand übernommen: Das FZJ übernahm die Verantwortung für die Brennelemente, die bundeseigenen Energiewerke Nord (EWN) den Reaktor. Die Entsorgungskosten, denen nur geringe Rückstellungen gegenüberstanden, hätten die früheren Betreiber weit überfordert.

Eine Beschreibung des Reaktors mit Abbildungen findet sich in Kapitel 3 von [1], daher soll hier nur kurz auf den Aufbau eingegangen werden. Der Reaktorkern bestand aus circa 100.000 tennisballgroßen Brennelementen, welche ihrerseits je circa 10.000 beschichtete Brennstoffteilchen (coated particles, Durchmesser circa 0,9 Millimeter) eingebettet in Graphit enthielten. Im Unterschied zu normalen Reaktorbrennelementen bilden Moderator (Graphit) und Brennstoff hier also eine Einheit, was das Abfallvolumen der Brennelemente sehr stark vergrößert. Gekühlt werden Kugelhaufenreaktoren nicht mit Wasser, das in Standardreaktoren als Kühlmittel und Moderator dient, sondern mit dem Edelgas Helium. Im Sekundärkreis, der die Turbine enthält, befindet sich aber Wasser bzw. Dampf unter hohem Druck. Ein Dampferzeuger, welcher über dem Kern angeordnet ist, übergibt die Wärme des Primärkühlmittels Helium an das Sekundärkühlmittel Wasser. Die Brennelemente werden über dem Kern an verschiedenen Positionen zugegeben und wandern langsam (4 Monate bis über 5 Jahre) aufgrund der Schwerkraft durch den Reaktor. Wenn sie unten angekommen verbraucht sind, werden sie entnommen, ansonsten oben wieder zurückgegeben. Ab 1974 wurde die Kühlmitteltemperatur des AVR auf 950°C angehoben, um die prinzipielle Eignung für Kohlevergasung (nukleare Prozesswärme) nachzuweisen.

Das Störfallspektrum eines Kugelhaufenreaktors unterscheidet sich wesentlich von demjenigen eines LWR und weist einige Ähnlichkeiten zu dem vom RBMK (Tschernobyl-Typ, ebenfalls graphitmoderiert) auf. Nicht Kühlmittelverlust oder Kühlungsausfall mit Kernschmelze bestimmen das Risiko, sondern Lufteinbruch mit Graphitbrand nach Leckagen und Wassereinbruch durch Lecks im Dampferzeuger: Wassereinbruch kann zu nuklearen Instabilitäten (Durchgehen des Reaktors) und durch chemische Reaktionen des Wasserdampfs mit dem Graphit bei höheren Temperaturen zur Bildung explosionsfähiger Gasgemische führen - beides mit Potential zur Zerstörung des Reaktors. Wassereinbrüche sind als Auslegungsstörfälle (früher als Größter anzunehmender Unfall, GaU, bezeichnet) von Kugelhaufenreaktoren definiert, das heißt, dass die Beherrschbarkeit bestimmter Sequenzen von Wassereinbrüchen der Aufsichtsbehörde im Genehmigungsverfahren sowie bei jeder größeren Änderung des Betriebszustandes nachzuweisen ist. Von einigen Befürwortern des Kugelhaufenreaktors werden das Ausbleiben einer Kernschmelze und die Selbstabschaltung bei Temperatursteigerung immer noch als Beweis für seine "Katastrophenfreiheit" propagiert, nicht ohne damit einen gewissen Erfolg in der öffentlichen Diskussion zu erzielen. Allerdings wiesen schon 1977 LWR-Vertreter darauf hin, dass der Kugelhaufenreaktor "andere schwere Störfälle kennt als der LWR" und die angeblich generell höhere Sicherheit damit in Zweifel zu ziehen ist. Lothar Hahn, einer der Autoren des AVR-Expertenberichts, schrieb schon 1986: "Seit den Anfängen der Hochtemperaturreaktor-Entwicklung wird von interessierter Seite versucht, der Öffentlichkeit zu suggerieren, der HTR sei "inhärent" sicher. Diese geschickt eingefädelte Werbestrategie hat ohne Zweifel einen gewissen Erfolg gehabt, denn sie hat zu einer - selbst in der Atomenergiedebatte - beispiellosen Desinformation geführt. Wie kaum eine andere Behauptung der Atomindustrie beruht sie auf wissenschaftlich nicht haltbaren Annahmen und auf unzutreffenden Schlussfolgerungen. [12]"

Im Betrieb des AVR kam es zu mehreren gravierenden Ereignissen, die stark verspätet bzw. nur unvollständig kommuniziert wurden. Nur die wichtigsten seien hier genannt:

1. Ab 1974 wurden große Mengen an besonders toxischen Spaltprodukten (Strontium-90, Cäsium-137) aus den Brennelementen in den Primärkreis freigesetzt (je circa 100 Terabecquerel (TBq; 1 TBq = 1012 Bq = 1 Billion Bq)), wo sie sich heute noch befinden, da es für Kugelhaufenreaktoren - anders als bei LWR - kein wirksames Verfahren zur Reinigung von Primärkreis/Kühlmittel gibt. Diese extreme Kontamination des Primärkreislaufs stellt ein wesentliches Hindernis beim Reaktorrückbau dar. Nach Angaben des Betreibers im Jahr 2000 ist der AVR die am stärksten mit Strontium kontaminierte Nuklearanlage weltweit, wobei das Strontium in der ungünstigsten Form, nämlich staubgebunden, vorliegt [2].

2. Im Mai 1978 kam es zu einer Leckage im Dampferzeuger des AVR, wobei 25 bis 30 Tonnen Wasser in den Primärkreis eindrangen. Der Vorgang wurde als Ereignis von untergeordneter sicherheitstechnischer Bedeutung heruntergespielt und durfte im FZJ damals nicht als Störfall bezeichnet werden (sondern nur als Störung, Vorfall, Ereignis o.ä.). 1999 wurde entdeckt, dass Grundwasser und Boden unter dem AVR, vermutlich als Folge dieses Störfalls, mit Strontium-90 kontaminiert sind, was zu enormen Mehrkosten beim Rückbau führt. Das Rückbaukonzept musste daraufhin nämlich geändert werden: Um Grundwasser und Boden zu sanieren, muss der Reaktor entfernt werden. Da der Reaktorbehälter wegen seiner extremen Kontamination aber nicht zerlegt werden kann, muss er als Ganzes (betonverfüllt, 2.100 Tonnen schwer) in ein eigens gebautes Zwischenlager im FZJ transportiert werden - eine weltweit bisher einmalige Aktion, die nach mehrjähriger Verzögerung nun im Herbst 2014 beginnen soll.

3. Ende 1987 wurde durch 1986 begonnene Messungen mit Monitorkugeln, die Schmelzdrähte enthielten, klar, dass die Temperaturen im Reaktorkern sehr viel höher waren, als berechnet. Da in vielen Monitorkugeln alle Schmelzdrähte geschmolzen waren, lässt sich das jedoch nicht gesichert quantifizieren. Normale Messsonden, die eine kontinuierliche Messungen von Temperaturen oder Neutronenflussdichte gestatten, sind im Kern von Kugelhaufenreaktoren nicht anwendbar, da sie durch den sich bewegenden Kugelhaufen zerdrückt werden. Als Folge dieser Ergebnisse wurde der Reaktorbetrieb im letzten Betriebsjahr 1988 stark eingeschränkt, vermutlich weil die notwendige Beherrschbarkeit eines Auslegungsstörfalls "Wassereinbruch" wegen Bildung explosionsfähiger Gase nicht mehr gegeben war.

Bereits Anfang 1988 hatte ein Münchener Expertenteam um Jochen Benecke in einem Gutachten für die nordrheinwestfälische Landesregierung vor erheblichen Kritikalitätsproblemen bei Wassereinbruchstörfällen in Kugelhaufenreaktoren gewarnt und gewisse Parallelen zum Tschernobyl-Reaktor gesehen [3]. Das Gutachten wurde damals von der Landesregierung nicht veröffentlicht. Eine offene Diskussion dieses Gutachtens unterblieb daher bis 2007. Es darf aber vermutet werden, dass dieses Gutachten eine Ursache für den unerwarteten Beschluss war, den AVR zum 31.12.1988 außer Betrieb zu nehmen. Ab 2006 führte eine kritische Interpretation der vorgenannten Fakten durch Rainer Moormann [4, 5] zu intensiven Auseinandersetzungen [8]. Moormann sieht die Ursache der extremen und für zukünftige Nuklearanlagen unakzeptablen AVR-Primärkreiskontamination einerseits in den erhöhten Kerntemperaturen, andererseits in einer weit überschätzten Rückhaltefähigkeit für Spaltprodukte auch neuerer Kugelbrennelemente. Er erkennt zwar eine deutlich verbesserte Strontiumrückhaltung in neueren Brennelementen, weist aber auf eine markante Verschlechterung der Cäsiumrückhaltung hin.

Moormann sieht zudem die Ursachen der überhitzten AVR-Kernbereiche als ungeklärt an und hält es für wahrscheinlich, dass sie in Kugelhaufenreaktoren generell auftreten können. Die Kugelhaufenbefürworter bestreiten die oben skizzierten drei Problemfelder im AVR zwar nicht mehr, interpretieren sie aber als AVR-spezifisch und schließen eine Wiederholung in eventuellen zukünftigen Reaktoren aus. Die extreme Kontamination soll auf angeblich schlechte Brennelemente zurückzuführen sein, da man erst seit 1980 gute Brennelemente habe herstellen können. Eine nennenswerte Radioaktivitätsfreisetzung aus modernen Brennelementen wird für Temperaturen unterhalb von 1.600°C weiter ausgeschlossen. Die Ursachen der erhöhten Kerntemperaturen sollen auf unbeabsichtigte Kühlgasbypässe zurückzuführen sein, die sich in zukünftigen Reaktoren vermeiden lassen [10]. Die von Benecke und Moormann unterstellte Unterschätzung des realen Wassereinbruchs 1978 und des hohen Risikos von Wassereinbruchstörfällen allgemein wurden von den Kugelhaufenreaktorbefürwortern zurückgewiesen, während an der Version eines unbedeutenden Ereignisses 1978 und an der These vom grundsätzlich geringen Risiko von Wassereinbruchstörfällen im Kugelhaufenreaktor festgehalten wurde.

Zur Klärung dieser Auseinandersetzung wurde frühzeitig eine unabhängige Untersuchung gefordert, was das FZJ aber zurückwies. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass das FZJ seit den 1990er Jahren den Bau eines Kugelhaufenreaktors (PBMR) in Südafrika unterstützte und dieses Projekt durch die aufkommende Sicherheitsdiskussion zum AVR erheblich beeinträchtigt wurde, da der AVR in vielen entscheidenden Punkten als Vorbild für den südafrikanischen Reaktor diente. Es ist zu vermuten, dass das FZJ durch eine Expertengruppe zum AVR das südafrikanische Reaktorprojekt nicht noch weiter beeinträchtigen wollte, da das Projekt die wichtigste Stütze der Jülicher Reaktorentwicklung darstellte.

Erst als die designierte neue Landesregierung von Nordrhein-Westfalen im Sommer 2010 die Klärung dieser AVR-Probleme im Koalitionsvertrag festschrieb, das südafrikanische Reaktorprojekt im September 2010 zusammenbrach und durch den Fukushima-Unfall im März 2011 weiterer Druck auf das FZJ ausgeübt wurde, richteten das FZJ und die AVR/EWN im April 2011 eine entsprechende Expertengruppe ein. Dieser gehörten insgesamt vier - sowohl AKW-kritische als auch AKW-freundliche - Mitglieder an. Diese Expertengruppe hörte die verschiedenen Positionen an und veröffentlichte ihren Bericht nach dreijähriger Arbeit am 26. April 2014. Das Votum erfolgte einstimmig. Aus Kapazitätsgründen konnten nur ausgewählte Themenkreise bearbeitet werden. Beispielsweise wird auf die möglicherweise undurchsichtige Rolle der Atomaufsicht im Abschlussbericht nicht näher eingegangen. Auch Moormann wird im Expertenbericht ausdrücklich für seine Unterstützung gedankt; das dürfte nach Einschätzung der Autoren dieses Artikels so zu interpretieren sein, dass von Seiten der AVR/des FZJ wichtige Informationen zu Problemen des AVR-Betriebes zurückgehalten wurden und nur über Moormann an die Expertengruppe gelangten.

Wesentliche Ergebnisse des Expertenberichtes

Die Expertengruppe

• sieht bei den Kugelhaufenreaktorentwicklern eine Überschätzung der eigenen Fähigkeiten ("ausgeprägtes Überlegenheitsgefühl", "Unfähigkeit zur Selbstkritik", s. S. 14); das könnte eine mögliche Ursache der Reaktorprobleme sein;

• hält die Vermutung von Moormann für plausibel, dass die überhitzten Kernbereiche ursächlich für die hohe Primärkreiskontamination im AVR sind. Details lassen sich angesichts der unbefriedigenden Datenlage nach ihrer Meinung jedoch nicht ableiten;

• hält es für unverständlich, dass nicht unmittelbar nach Entdeckung des drastischen Anstiegs der Primärkreiskontamination Maßnahmen ergriffen wurden (s. S. 80);

• hält die Ursachen der überhitzten AVR-Kernbereiche - im Unterschied zu Behauptungen der Kugelhaufenreaktorbefürworter und in Einklang mit der Position von Moormann - für ungeklärt;

• verweist darauf, dass erste Temperaturmessungen im Kern bereits Anfang der 1970er Jahre auf Unregelmäßigkeiten hindeuteten und dass es schon 1977 Vermutungen gab, welche den drastischen Anstieg der Spaltproduktfreisetzung aus den Brennelementen mit Kernüberhitzungen in Verbindung brachten. Vor diesem Hintergrund äußert sie Unverständnis darüber, dass mit weiteren Temperaturmessungen zehn Jahre gewartet wurde;

• äußert Zweifel daran, dass die von den Kugelhaufenbefürwortern behaupteten überlegenen Rückhalteeigenschaften moderner Kugelbrennelemente für radioaktive Spaltprodukte als nachgewiesen gelten können. Da nach ihrer Meinung diese behaupteten Rückhalteeigenschaften die Basis des Sicherheitskonzeptes von Kugelhaufenreaktoren darstellen, beziehen sich diese Zweifel auch auf die Sicherheit dieses Reaktortyps im Allgemeinen;

• hält die Einordnung des realen Wassereinbruchstörfalls 1978 in die ungefährlichste Kategorie (damals C) für unangemessen; sie hält eine Einordnung mindestens in Kategorie B, eventuell sogar in die höchste Kategorie A für erforderlich;

• verweist auf eine relativ geringe Anzahl von der Behörde gemeldeten AVR-Betriebsstörungen und listet einige Vorkommnisse auf, die hätten gemeldet werden müssen;

• hält die Einschätzungen von Benecke und Moormann zum hohen Gefährdungspotential von Wassereinbruchstörfällen für nicht widerlegt. Ihr wurden vom FZJ und der AVR keine belastbaren Unterlagen zu diesem Problemkreis vorgelegt und sie forderte nochmals dazu auf, entsprechende Dokumente, sofern verfügbar, nachzureichen (S. 59);

• bestätigt die Vermutung, dass die Betriebsmannschaft während des Wassereinbruchstörfalls 1978 das Reaktorschutzsystem mehrfach unzulässig manipuliert hat, um den Reaktor trotz des Störfalls wieder in Betrieb nehmen zu können;

• verweist auf eine auch nach dem damaligen Stand unzureichende Umgebungsüberwachung hinsichtlich radioaktiver Emissionen. So wurde abfließendes Grund- und Trinkwasser erst ab 1995 auf Tritium hin überwacht. Messungen zu eventuellen Kontaminationen im mit Grundwasser gefüllten Keller unter dem Reaktor wurden bis 1999 (als eher zufällig Strontium im Regenwasserkanal entdeckt wurde) nie durchgeführt. Damit konnte die Boden-/Grundwasserkontamination aufgrund des Störfalls 1978 ihr problematisches Ausmaß annehmen. Von 1966 bis 1973 funktionierte der Tritiumfilter im Abgasstrom nicht, was wegen unterbliebener Messungen lange unentdeckt blieb. Die Direktstrahlung aus dem Reaktor war am Zaun zeitweise zu hoch.

Kommentare und Schlussfolgerungen

Der Expertenbericht begnügt sich weitgehend mit Tatsachenfeststellungen und überlässt es meist dem Leser, Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Zwei Ausnahmen sollen kurz angesprochen werden. Die eine betrifft die Qualität auch moderner Kugelbrennelemente, die als unzureichend nachgewiesen dargestellt wird mit entsprechenden Folgen für die sicherheitstechnische Gesamtbewertung. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Zum anderen werden radiologische Gesundheitsfolgen des AVR-Betriebs ausgeschlossen. Dieses erscheint uns angesichts der im Bericht dargestellten Unzulänglichkeiten als zu weitgehend und soll - vor dem Hintergrund des in der Jülicher Umgebung aufgetretenen Clusters von Kinderleukämie 1990-92 [6] - hier diskutiert werden. Das Ausbleiben radiologischer Folgen wird im Expertenbericht mit einer Dosisberechnung untermauert, die versucht, durch Annahme möglichst ungünstiger Messwerte zu einer Obergrenze für die radiologische Dosis zu gelangen. Methodisch problematisch ist dieses eigentlich sinnvolle Vorgehen im Falle der Tritiuminkorporation über Grund- und Trinkwasser. Mangels Messwerten für die Zeit vor 1995 wird der höchste danach gemessene verwendet, ein Wert vom November 1997. Es ist aber offensichtlich, dass in den Jahren nach 1978, als höchstwahrscheinlich zusammen mit Strontium (noch vorhanden) große Mengen an Tritium in das Grundwasser unter dem Reaktor gelangten, die Belastungen durch Tritiuminkorporation viel höher gewesen sein müssen. Das beim Wassereinbruch 1978 in den Reaktor gelangte Wasser enthielt nämlich im Vergleich zu Strontium etwa die 100fache Tritiumaktivität. Da Tritium sich chemisch wie Wasser verhält, und das Grundwasser hier mit einer Geschwindigkeit von etwa fünf Metern pro Tag fließt, ist dieses Tritium nach einigen Jahren nicht mehr nachweisbar. Hinzu kommt, dass eine zuverlässige Tritiumgesamtbilanz für den AVR nicht existiert. Hätte es weitere, bisher unbekannte Emissionen über den Grundwasser-/Trinkwasserpfad gegeben, so ließen sich diese heute nicht mehr identifizieren. Angesichts des insgesamt eher sorglosen AVR-Betriebs darf man Letzteres aber nicht ausschließen, zumal undichte erdverlegte Rohre am AVR 1999 entdeckt wurden, die noch zehn Jahre nach Betriebsende Tritium emittierten. Diese Argumente dürfen nicht so verstanden werden, als sei der AVR mit Sicherheit für das Leukämiecluster verantwortlich. Die Frage nach den Ursachen ist heute angesichts der skizzierten Unzulänglichkeiten schlicht nicht mehr klärbar, aber für einen sicheren Ausschluss des AVR als Ursache, wie im Expertenbericht angegeben, fehlt damit ebenso die Basis.

Wichtige Schlussfolgerungen, die aus dem Expertenbericht gezogen werden können, aber nicht oder nicht deutlich artikuliert werden, sind:

• Die Kugelhaufenreaktortechnologie ist nicht annähernd
anwendungsreif.

• Das Kugelbrennelement wird hinsichtlich seiner Rückhalteeigenschaften für Spaltprodukte überschätzt.

• Das noch aktive chinesische, vom FZJ unterstützte Reaktorprojekt HTR-PM ist damit auch sicherheitstechnisch als problematisch einzustufen, zumal dieser Reaktor nicht einmal ein Volldruckcontainment besitzen soll und auf eine Billigentsorgung der Brennelemente setzt. [13]

• Die jahrzehntelange äußerst kostenintensive Kugelhaufenreaktorentwicklung in Deutschland war nur möglich, weil entscheidende Schwachstellen lange gezielt verheimlicht werden konnten (u.a. überhitzte Kernbereiche, Folgen des Wassereinbruchs, extreme Reaktorkontamination). In Kenntnis dieser Schwachstellen wäre der Zufluss staatlicher Entwicklungsgelder höchstwahrscheinlich viel früher beendet worden und die Kugelhaufenreaktortechnologie hätte ein ähnlich frühes Ende gefunden wie andere zeitgleich begonnene deutsche Reaktorentwicklungen (z.B. Grosswelzheim, Niederaibach).

• Die Jülicher Reaktorentwicklung genügt in der Gesamtdarstellung sowie in einzelnen Teildisziplinen (Brennelemententwicklung) nicht den Mindestanforderungen wissenschaftlicher Redlichkeit. Zwar hat das FZJ das auch für die fernere Vergangenheit eingeräumt [9], aber die Veröffentlichungen der Jülicher Reaktorentwickler aus der jüngeren Zeit lassen unserer Meinung nach noch nicht erkennen, dass diese Grundregeln wissenschaftlicher Ehrlichkeit jetzt ausreichend beherzigt werden, denn weiterhin bleiben hochproblematische Aspekte zum Kugelhaufenreaktor unerwähnt oder werden grob verharmlost [10, 11].

• Der AVR-Betrieb genügte wahrscheinlich nicht den Mindestanforderungen, die damals für den sicheren Betrieb eines AKW gefordert wurden. Das mit dem Betrieb verbundene Risiko war daher ungewöhnlich hoch.

• Zu einigen entscheidenden AVR-Problemen (Wassereinbruch 1978, überhöhte Temperaturen usw.) hat die Expertengruppe, wie im Bericht dargestellt, zusätzliche Dokumente angefordert, aber trotz mehrfacher Aufforderung nicht erhalten. Da es sich hierbei um hochbrisante und sogar (vor mittlerweile eingetretener Verjährung) strafrechtlich relevante Aspekte handelt, ist es wenig wahrscheinlich, dass hierzu bei der AVR und dem FZJ keinerlei zusätzliche Informationen vorliegen. Vielmehr ist zu vermuten, dass die AVR und das FZJ nur die Probleme eingeräumt haben, die nicht mehr abzustreiten waren, aber ansonsten keine echte Aufklärung betrieben haben. Es darf daher bezweifelt werden, dass der AVR-Expertenbericht alle wesentlichen Probleme enthält.

• Der AVR-Betrieb erfolgte ohne ausreichende Rücksicht auf die Sicherheit; Hauptziel war vielmehr die Demonstration eines Dauerbetriebs unter extremen Bedingungen. Dieser Umstand ist zu einem wesentlichen Teil für die enormen Entsorgungskosten verantwortlich.

• Die FZJ-Leitung hat eklatant versagt, da sie den frühzeitigen Hinweisen auf grobe Unregelmäßigkeiten in der FZJ-Reaktorentwicklung nicht rechtzeitig, spätestens 2007, nachging. Bei pflichtgemäßem Verhalten der FZJ-Leitung wären dem Schwellenland Südafrika HTR-Entwicklungskosten in dreistelliger Millionenhöhe wohl erspart geblieben.

• Die undurchsichtige Rolle der NRW-Atomaufsicht, die dieses Debakel hätte verhindern können und müssen, bleibt noch aufzuklären.

Auswirkungen des Berichtes

Das FZJ bedauerte bei Erscheinen des Berichtes, dass im Jülicher Reaktorbereich in der Vergangenheit die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis nicht immer eingehalten wurden [9]. Als wichtige unmittelbare Auswirkung des Berichtes ist die auf der Aufsichtsratssitzung des FZJ am 14. Mai 2014 auf Druck der FZJ-Gesellschafter angekündigte Beendigung der Entwicklungsarbeiten zu Kugelhaufenreaktoren zu nennen. Diese Entwicklungsarbeiten für zukünftige Reaktoren wurden, getarnt als Sicherheitsforschung, zeitweise entgegen dem Willen der FZJ-Gesellschafter unverändert fortgeführt. Höhepunkt war die umfangreiche, mehr als ein Jahrzehnt andauernde Jülicher Zuarbeit zum mittlerweile gescheiterten südafrikanischen Reaktorprojekt PBMR, für das unter anderem die Kernauslegung überwiegend im FZJ erstellt wurde. Auch wurden FZJ-Beiträge zum noch andauernden chinesischen Reaktorprojekt HTR-PM geliefert. Im Gegensatz zu diesen intensiven Entwicklungsarbeiten wurden in Jülich keine ausreichenden Untersuchungen zu den spezifischen Entsorgungsproblemen von Kugelhaufen-HTR ausgeführt, was das aktuelle Entsorgungsdebakel beim AVR und THTR-300 sicher verstärkt hat. Für die wegfallende Kugelhaufen-HTR-Entwicklung soll in Jülich nun LWR-Forschung betrieben werden, die eigentlich notwendige Entsorgungsforschung für Kugelhaufen-HTR unterbleibt allerdings weiter.

Als weniger offensichtliche Folge ist der sich beschleunigende Bedeutungsverlust der Kugelhaufenreaktortechnologie in der internationalen AKW-Diskussion zu nennen. In den Jahren 2000 bis 2010 hatte die Kugelhaufenreaktortechnologie eine auffällige Renaissance erlebt.

Schlussbemerkung

Insgesamt darf der Expertenbericht zum AVR als Erfolg gewertet werden. Für andere als problematisch bekannte deutsche AKW bietet sich also eine unabhängige Expertenuntersuchung ebenfalls an. Es wäre bei zukünftigen Untersuchungen aber sinnvoll, unabhängige staatliche Stellen als Auftraggeber der Untersuchungen zu wählen.

Aktuell ist geplant, die 455 Castoren mit Brennelementen aus AVR und THTR-300 in die USA abzugeben. In Savannah River soll eine Wiederaufarbeitung für diese Brennelemente entwickelt werden. Mit von Deutschland zu übernehmenden Kosten von circa einer Milliarde US-Dollar wird gerechnet. Das entspricht etwa dem vierfachen Wert der aus diesen Kugeln gewonnenen Elektrizität und unterstreicht damit den Tenor des Expertenberichts, dass die Kugelhaufen-HTR-Technologie als gescheitert anzusehen ist. Von der Umweltbewegung werden diese Pläne als rechtlich unzulässig und unverantwortlich abgelehnt, da es einen Freikauf von der Entsorgungsverantwortung zu Lasten der schon mit erheblichen Atommüllproblemen kämpfenden US-Region South Carolina darstellt und eine unnötige Finanzierung von gefährlicher nuklearer Wiederaufarbeitungstechnik bedeutet.

Die Autoren dieses Beitrags arbeiten derzeit an einem Buch zur deutschen Kugelhaufenreaktorentwicklung und ihren Problemen.

(*) Dr. Rainer Moormann, Aachen,
rainer.moormann@t-online.de
Jürgen Streich, Frechen-Königsdorf,
j.streich@aussichtenonline.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Das AVR-Gebäude. Die obere Umhüllung ist Teil des "sicheren Einschlusses", die in die dahinterliegende Sicherheitsschleuse übergeht, durch die der herausgehobene Reaktor auf ein Spezialfahrzeug abgelegt werden soll. (Foto: © Jürgen Streich)

Auf der oberen Etage der Sicherheitsschleuse, in der Luft-Unterdruck herrscht. Auf Schienen befindet sich der Kran (hinten), der das mit einem Spezialbeton verfüllte, 2.100 Tonnen schwere Reaktordruckgefäß, in dem sich noch 197 zerborstene Brennelemente befinden, in einem Stück auf einem 81-achsigen Spezialfahrzeug ablegen soll. (Foto: © Jürgen Streich)

Hier geschah der Wassereinbruch. Oberhalb des Schraubenkranzes befindet sich der Wärmetauscher, aus dem über 25 Tonnen Wasser in den darunterliegenden Reaktor gelangten. (Foto: © Jürgen Streich)

Das AVR-Zwischenlager, in dem der Reaktor mehrere Jahrzehnte abklingen soll, bevor er zerlegt und endgelagert werden kann. (Foto: © Jürgen Streich)


1. Der Versuchsreaktor AVR: Entstehung, Betrieb, Störfälle. Abschlussbericht der AVR-Expertengruppe. C. Küppers, L. Hahn, V. Heinzel, L. Weil, April 2014.
http://www.fzjuelich.de/portal/DE/UeberUns/selbstverstaendnis/verantwortung/a vr/Aktuelles/bericht-avrexpertengruppe_lang.pdf

2. E. Wahlen et al.: Status of the AVR decommissioning project with special regard to the inspection of the core cavity for residual fuel. Waste Management Symp. 2000, Tuscon,
http://www.wmsym.org/archives/2000/pdf/36/36-5.pdf

3. J. Benecke et al.: Kritik der Sicherheitseinrichtungen und Sicherheitskonzepte des THTR 300 in Hamm und des Versuchsreaktors Jülich (AVR). Gutachten für die NRW-Landesregierung (1988);
http://www.westcastor.de/Benecke_THTR_AVR_komplett.pdf

4. R. Moormann: A safety reevaluation of the AVR pebble bed reactor operation and its consequences for future HTR concepts. Bericht Jül-4275 (2008)
http://juwel.fzjuelich.de:8080/dspace/bitstream/2128/3136/1/Juel_4275_Moormann.pdf

5. R. Moormann: AVR prototype pebble bed reactor. Kerntechnik (2009)
http://juwel.fzjuelich.de:8080/dspace/bitstream/2128/3585/1/MoormannJuwel.pdf

6. H. Kuni: A cluster of childhood leukaemia in the vicinity of the German Research reactor Jülich. In Schmitz-Feuerhake, I., Schmidt, M. (Ed), Radiation exposures by nuclear facilities. Ges. f. Strahlenschutz, Berlin 1998, p. 251-255. ISBN 3-9805260-1-1
http://www.kuni.org/h/neues/beitrag/6

7. F. Daniels: Neutronic reactor system, Patent US2809931, angemeldet Oktober 1945,
http://www.freepatentsonline.com/2809931.pdf

8. D. Deiseroth, A. Falter: Whistleblowing im nuklear-industriellen Komplex: Preisverleihung 2011 - Dr. Rainer Moormann. Berlin, BWV (2012), ISBN 9783-8305-3021-3

9. Stellungnahme des FZJ zum Expertenbericht. 26. April 2014
http://www.fzjuelich.de/portal/DE/UeberUns/selbstverstaendnis/verantwortung/avr/Aktuelles/fz-stellungnahmebericht-avr-expertengruppe.html

10. K. Verfondern: Consequences from the AVR Meltwire Experiments. (2012) 
http://www.iaea.org/NuclearPowe r/Downloadable/Meetings/2012/2012-07-10-07-12-TMNPTD/12_meltwire.pdf

11. H. Nabielek: Cs release from AVR: the "Moormann problem" (2013)
http://www.iaea.org/NuclearPower/Downloadable/Meetings/2013/2013-06-10-06-12-TMNPTD/24_cs_release.pdf

12. L. Hahn: Grundsätzliche Sicherheitsprobleme beim Hochtemperaturreaktor und besondere Defizite beim THTR-300. Juni 1986
http://www.reaktorpleite.de/htrsicherheit-1986-l-hahn.html

13. K. Bradsher: A radical kind of reactor. NY Times, 25.03.2011
http://www.nytimes.com/2011/03/25/business/energyenvironment/25chinanuke.html


Der Artikel mit Fotos ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_14_664-665_S01-07.pdf

Anmerkung der Redaktion Schattenblick:
siehe auch den Artikel "Die Leukämiefälle bei Jülich: Jetzt kennen wir die Ursache" - Ein Nachtrag zum vorstehenden Bericht von Rainer Moormann und Jürgen Streich, von Inge Schmitz-Feuerhake
im Schattenblick unter
ATOM/1247: Die Leukämiefälle bei Jülich - Jetzt kennen wir die Ursache (Strahlentelex)
www.schattenblick.de/infopool/industri/unia1247.html
und auf der Seite des Strahlentelex unter:
http://www.strahlentelex.de/Stx_14_664-665_S01-07.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, September 2014, Seite 6-7
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2014