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ATOM/1307: AKW Abriss - Einschluss oder Rückbau? (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 700-701 / 30. Jahrgang, 3. März 2016 - ISSN 0931-4288

Atommüll
AKW Abriss - Einschluss oder Rückbau?

Von Dr. Werner Neumann(1)


Die deutsche Sektion der Internationalen Ärzte-Vereinigung IPPNW hat im Januar 2016 eine neue Ausgabe ihrer "Akzente" mit dem Titel "Freigabe radioaktiven Materials beim AKW-Abriss - Dauerhafter Einschluss statt Rückbau?" herausgegeben. Ihre Antwort lautet "dauerhafter Einschluss".(2)

Die Stellungnahme der IPPNW setzt an den immensen Mengen radioaktiv belasteten Materials aus dem Abriss von Atomkraftwerken an. Kernpunkt der Kritik ist das sogenannte "10 µSv-Konzept". Die IPPNW betont, dass solche Niedrigstrahlung, der Menschen durch die Freigaben von als "nicht radioaktiv" deklarierten Abriss-Müll ausgesetzt sein können, nicht zu verantworten ist. Man hätte auch erwähnen können, dass die Vorgabe der zu akzeptierenden Strahlenbelastung von der IAEA stammt. Hinzu kommt, dass die nach Strahlenschutz-Verordnung (StrlSchV) geltenden Grenzwerte auf völlig veralteten Risikofaktoren der ICRP beruhen und das komplexe Modellsystem zur Ableitung der Freigabe-Grenzwerte auf zahlreichen Annahmen und Voraussetzungen beruht, die schlicht nicht haltbar oder nicht mehr gültig sind.

Wie auch immer, die IPPNW Autoren kommen zum gleichen Ergebnis wie der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND), der schon im Jahr 2000 die Freigabe unter Bezugnahme auf die damalige Novelle der StrlSchV grundlegend abgelehnt hat, da hierdurch keine Beschränkung der gesundheitlichen Belastung verbunden sei und kein Klagerecht bestehen würde. Das der Bevölkerung mit der Freigaberegelung willkürlich durch die IAEA, Strahlenschutzkommission und die Bundesregierung ohne demokratische Legitimation zugemutete Risiko ist nicht akzeptabel. Da es keine Schwelle einer "trivialen" Dosis gibt, müsste das FreigabeSystem auch den Strahlenschutzanforderungen der Rechtfertigung, der Suche nach Alternativen und der Minimierung unterliegen. Diese Grundsätze hätte man in den "Akzenten" etwas akzentuierter darstellen können.

IPPNW empfiehlt unbefristeten Einschluss der AKWs auf Dauer

Die Frage ist jedoch, was die Alternative zur Freigabe von Abrissmaterial sein kann. Die Antwort von IPPNW lautet: "Der unbefristete und auf Dauer angelegte Einschluss". Dies hört sich so an wie der "sichere Einschluss", der im Atomgesetz als zweite Möglichkeit anstelle des Abrisses genannt wird. Hier geht die IPPNW fehl, wenn gefordert wird, dies ins Atomgesetz (AtG) aufzunehmen. "Einschluss" ist in Paragraph 7(3) AtG aufgeführt sowie in den "Stilllegungs-Leitlinien" des Bundesumweltministeriums.

Das Problem ist vielmehr, dass in den Genehmigungsverfahren, diese Alternative nicht geprüft wird. Ein klarer Verstoß gegen das Gesetz zur Umweltverträglichkeitsprüfung.

Für den Vergleich müssten Informationen zum Beispiel über den physikalischen und radiologischen Zustand der Reaktoren vorgelegt werden, doch genau dies erfolgt nicht. Oft haben die AKW-Betreiber auch nur grobe Informationen über den radiologischen Zustand oder aus Computer-Simulationen. In Hessen wurden dem BUND vom Umweltministerium wenige Unterlagen hierzu übermittelt und diese an den entscheidenden Passagen komplett geschwärzt.

In der Forderung nach Transparenz, um Vergleiche zwischen Abriss und Einschluss durchführen zu können, besteht Einigkeit. Ohne jedoch über entsprechende generelle und reaktorspezifische Informationen zu verfügen, fordern die IPPNW-Autoren überraschenderweise, man solle auf den "AKW-Rückbau verzichten". Ein "unbefristeter und auf Dauer angelegter Einschluss der AKWs würde die Bevölkerung und die Beschäftigten der Atom- und Entsorgungsindustrie am ehesten vor Radioaktivität schützen und Erkrankungen als Folge ionisierender Strahlung vermeiden".

Einschluss auf Dauer ohne Konzept

Dies hört sich plausibel an, jedoch gibt es von der IPPNW keine Studie und kein Modell, wie dieser Dauereinschluss durchgeführt werden soll, welche Alterungseffekte in den AKWs über 10, 100, 1.000 Jahre stattfinden, nichts zur Frage, wann dann doch ein Abriss erfolgen sollte und welche radioaktiven Belastungen eben mit Verspätung erfolgen. Ob diese geringer sind als bei einem zielgerichteten und zügigen Abriss, muss da offen bleiben, da auch der IPPNW keine Informationen über den Zustand der Reaktoren vorliegen. Sinnvoll wäre es zudem, die Schritte der Zerlegung von Komponenten der Reaktoren, Konditionierung und Verpackung von der Frage der Lagerung, am Reaktorgelände oder anderswo, zu trennen. Auch ein Einschluss erfordert Störfallanalysen. Erst ein Vergleich auf Grundlage detaillierter Informationen kann diese Frage aus Sicht des Strahlenschutzes entscheiden.

Für den Abriss liegen die Modelle der Ableitung der Freigabegrenzwerte schon vor, sind zum Teil jedoch weiter geheim.(3) Diese halten allerdings einer Prüfung nicht stand. Für den "dauerhaften Einschluss" liegen solche Modelle schlicht nicht vor, zumal die IPPNW diese Anforderungen an die "Sicherheit" nicht spezifiziert hatte. Und ob ein späterer Abriss tatsächlich einfacher und mit geringerer Strahlenbelastung verbunden ist, müsste erst begründet werden. Der Umkehrschluss, dass man für einen "dauerhaften Einschluss" ohne nähere Rahmenbedingungen eintreten müsse, wenn man gegen Freigabe ist, ist fachlich nicht begründet. Und die IPPNW hätte erwähnen müssen, dass ihr Vorschlag auf 18 neue "unbefristete" Dauerlager an den AKW Standorten hinausläuft - zusammen mit den bestehenden Castor-Zwischenlagern. Und die sind bekanntlich schon heute nicht sicher.

Haftpflicht oder Freistellung für Atomkonzerne

Die IPPNW argumentiert aber nicht nur mit den Zielen des Gesundheitsschutzes. Abriss heißt es, sei zu teuer, die Rückstellungen für atomare Entsorgung würden durch den Abriss aufgezehrt und stünden dann für die "Endlagerung" des Atommülls nicht mehr zur Verfügung.

Die Atomwirtschaft und die "Entsorgungsindustrie" werden kritisiert, am Abriss auch noch Geld zu verdienen. Das Ergebnis passt allerdings nicht in die aktuelle politische Debatte. Während die Atommüll-Finanzkommission unter Beteiligung der früheren Konstrukteure des "Atomkonsens" Trittin und Hennenhöfer den AKW-Betreibern eine deutliche Milliarden-Subvention zu Lasten der Steuerzahler einräumen möchte, schlägt die IPPNW vor, die Atomkonzerne schlicht ganz aus der Verantwortung zu entlassen und "gegebenenfalls auf den AKW-Rückbau zu verzichten". Das Geld, das durch Nicht-Abriss gespart werde, solle für das "Endlager" verwendet werden.

Das Argument, die Steuerzahler würden sonst die Endlagerkosten zahlen müssen, passt deswegen nicht, weil die Rückstellungen für Abriss plus Endlager ohnehin nicht reichen werden. Es geht gerade darum, die steuerbefreiten Rückstellungen aus den Atomkonzernen herauszuholen, obwohl diese nicht oder nur noch schwach durch Unternehmenswerte gedeckt sind und die Atomkonzerne für die Zukunft nicht aus der Haftung zu entlassen.

Und aus Angst vor einem Billig-Abriss oder steigenden Kosten bei konsequentem Strahlenschutz "auf den Rückbau zu verzichten", würde jedoch die Konzerne von ihrer Verantwortung freistellen. Die Folgekosten der in ihr eigenes Endlager verwandelten AKWs würden auf viele spätere Generationen verschoben werden. Die Argumentation der IPPNW konterkariert die vom BUND und der Anti-AKW-Bewegung aufgestellten Forderung, endlich die atomaren Rückstellungen der Atomkonzerne vollständig in einen öffentlichen Fonds und mit der Verpflichtung auf Nachschuss zu überführen. Ein Erlass jeglicher Rückbaumaßnahmen gemäß dem IPPNW-Vorschlag käme den klammen Atomkonzernen da durchaus entgegen.

Wer zahlt, wer ist beteiligt, wer kontrolliert?

Die IPPNW ist gegen Abriss und für Dauereinschluss, weil "die Industrie den Abriss will", weil sie "ihre Abriss-Erfahrungen vermarkten und sich für Jahrzehnte ein internationales Folge-Geschäft erschließen will". Und weil man der Industrie nicht folgen will, ist man daher für Dauereinschluss. Damit will die IPPNW die Atomindustrie entlasten und ihr den Abriss erlassen.

Politisch ist dies nicht unbedingt konsistent. Denn was soll man gegen bessere Abriss-Technologien einwenden, wenn hierdurch die Strahlenbelastung für Bevölkerung und Arbeiter verringert würde? Haben wir uns nicht irgendwann eine AtomabrissIndustrie gewünscht, die weltweit zeigt, wie man das Atomzeitalter beenden kann? Was ist denn anrüchig, wenn die Atomindustrie selbst auch Geld daran verdient, ihre eigenen Altlasten zu beseitigen?

Entscheidend ist doch, dass dies nicht nochmals durch die Stromkunden oder Steuerzahler bezahlt wird und dass dieses Verfahren transparent und mit öffentlicher Beteiligung und Kontrolle erfolgt. Nur so kann die betroffene Öffentlichkeit erst entscheiden, welche Varianten von Abriss und Einschluss beziehungsweise Zwischenvarianten heute und in Zukunft den besten Strahlenschutz bewirken.

Aktuell ist vielmehr gefordert, in den Genehmigungsverfahren für den beantragten Abriss der Reaktoren eben diese Transparenz einzufordern und aufzuzeigen, dass die gemäß Atomgesetz und Stilllegungsleitlinien mögliche Abwägung verschiedener Varianten entgegen dem UVP-Gesetz nicht erfolgte. Das kann man auch einklagen. Es gilt zugleich die Freigabe immenser Mengen von radioaktivem Abrissmüll zu verhindern. Die Freigabe-Modelle sind fehlerhaft. Die Risikofaktoren sind überholt. Grenzwerte wurden willkürlich erhöht. Ohnehin gibt es keine Rechtfertigung für die Verteilung von Radioaktivität in die Umwelt, wogegen die Bevölkerung sich nicht schützen kann, da das Material nicht als radioaktiv gekennzeichnet ist. Diese richtige Kritik an der Freigabe von AKW-Abrissmüll rechtfertigt jedoch nicht, einem Dauereinschluss der AKWs das Wort zu reden, wenn dies fachlich nicht gestützt ist und politisch kontraproduktiv ist.


Anmerkungen

(1) Dr. Werner Neumann, Sprecher des Arbeitskreis Energie im wissenschaftlichen Beirat des BUND e.V. und Mitglied im Landesvorstand des BUND Hessen e.V., werner.neumann@bund.net

(2) www.kurzlink.de/AKW-Abriss; s.a. IPPNW plädiert für Prüfung eines unbefristeten, dauerhaften Einschlusses von Atomkraftwerken, in Strahlentelex 698-699 v. 4.2.2016, S. 8,
www.strahlentelex.de/Stx_16_698-699_S08.pdf

(3) Fünf Anfragen des Autors beim BMU nach der Freigabe-Studie Thierfeldt et.al. BMU StrSch 4279 wurden bisher nicht beantwortet.


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_16_700-701_S07-09.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, März 2016, Seite 7 - 9
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2016

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