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ATOM/1358: Schweizerische Atomaufsicht will 100-fach höhere Strahlenbelastung zulassen (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 752-753 / 32. Jahrgang, 3. Mai 2018 - ISSN 0931-4288

Strahlenschutz
Die schweizerische Atomaufsicht will eine 100-fach höhere Strahlenbelastung zulassen

von Thomas Dersee


Gerichtliche Überprüfung soll unterlaufen werden

Der schweizerische Bundesrat will seine Verordnungen zur AKW-Sicherheit in der Schweiz revidieren, um die Betreiberin des AKW Beznau Axpo und die Atomaufsicht ENSI vor einer möglichen Niederlage vor Gericht zu bewahren. Darauf machen Greenpeace Schweiz, PSR/IPPNW Schweiz, die Schweizerische Energie-Stiftung u.a. aufmerksam. Zu diesem Zweck weiche der Bundesrat den geltenden Strahlenschutz massiv auf und erhöhe damit das nukleare Risiko für die Bevölkerung. Die Organisationen fordern den Bundesrat in ihren Stellungnahmen auf, auf die Revision zu verzichten und die gerichtliche Überprüfung der Atomaufsicht nicht zu unterlaufen.

Seit 2015 führen Anwohner und Umweltorganisationen ein Gerichtsverfahren gegen die schweizerische Atomaufsicht ENSI und die Beznau-Betreiberin Axpo. Der Vorwurf: Das ENSI wende die Sicherheitsbestimmungen für Erdbeben im AKW Beznau falsch an. Die vom Bundesrat eingeleitete Verordnungsrevision übernehme nun exakt den Standpunkt des ENSI vor dem Bundesverwaltungsgericht und unterlaufe damit die gerichtliche Überprüfung.

Die Umweltorganisationen lehnen die Revision der Kernenergieverordnung, der Gefährdungsannahmenverordnung und der Ausserbetriebnahmeverordnung ab. Ihre Kritik bezieht sich dabei speziell auf die Störfallanalyse und die vorläufige Ausserbetriebnahme. Die Revision führe zu geringeren Sicherheitsanforderungen an die Schweizer Atomkraftwerke. Die vorgeschlagenen neuen Anforderungen könnten von den Reaktoren noch jahrzehntelang eingehalten werden, ohne daß nennenswerte Investitionen in die Sicherheit getätigt werden müssten. Diese faktische Laufzeitverlängerung stehe im Widerspruch zur von der Bevölkerung breit getragenen schweizerischen Energiestrategie 2050 und dem Grundsatz "Weiterbetrieb solange sicher", der in der Schweiz für die nukleare Sicherheit gilt. Die Revision sei zudem rechtsstaatlich fragwürdig, weil sie in ein beim Bundesverwaltungsgericht anhängiges Verfahren eingreift. Der Bundesrat insinuiere, die heutige Rechtslage sei unklar, wobei dies genau der Streitpunkt im Verfahren ist. Der Bundesrat ergreife damit ohne sachlichen Grund einseitig Partei für die Interessen der AKW-Betreiber und schwäche zu diesem Zweck den Bevölkerungsschutz vor nuklearen Risiken massiv ab.

Dazu unterbinde er eine wirksame gerichtliche Kontrolle der Atomaufsicht, die vom Bundesgericht für die Erfüllung der grundrechtlichen Schutzaufträge als zentral beurteilt wurde. Die Revision schränke den Anwendungsbereich der sogenannten Ausserbetriebnahmekriterien im Kernenergierecht drastisch ein. Damit werde ein zentrales Element der nuklearen Sicherheit, das bezeichnet, wann ein AKW nicht mehr sicher ist und außer Betrieb genommen werden muss, ausgehöhlt.

Die Revision erhöhe auch die zulässige radioaktive Dosis bei häufigen und seltenen Störfällen um den Faktor 100 und setze damit die Bevölkerung unzumutbaren Strahlenrisiken aus: Der bisherige Grenzwert für eine vorläufige Außerbetriebnahme des AKW soll von aktuell 1 mSv auf 100 mSv erhöht werden. Das bedeutet, dass die Schweizer Grenzwerte im Störfall eine Bestrahlung der Bevölkerung mit bis zu 100 mSv zulassen dürfen, ohne dass das havarierte AKW abgeschaltet werden muss, obwohl die Bevölkerung bisher bereits bei 20 Millisievert pro Jahr evakuiert werden müsste.

Die Revision schränke zudem den Anwendungsbereich der Ausserbetriebnahmekriterien auf ein Versagen der Kernkühlung ein. Damit werden zentrale Lehren aus dem GAU von Fukushima missachtet und entsprechende Bestimmungen aus den heutigen Verordnungen entfernt. Und die Revision erlaube den AKW-Betreibern, die Auswirkungen von sehr seltenen Naturereignissen nicht mehr zu überprüfen.


Die detaillierten Stellungnahmen der Umweltorganisationen sind zu finden unter
https://www.greenpeace.ch/wp-content/uploads/2016/06/180413_Stellungnahme-Teilrevision-KEV_Greenpeace_unterz_.pdf
bzw.
https://www.energiestiftung.ch/files/energiestiftung/publikationen/pdf/20180411_SES_Stellungnahme_KEV.pdf


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
www.strahlentelex.de/Stx_18_752-753_S06.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Mai 2018, Seite 6
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
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Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2018

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