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ATOM/016: Rußland forciert den Bau von Kernkraftwerken - Umweltschützer warnen vor Mängeln (ZLV)


Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek - 9. Juli 2011

Rußland forciert den Bau von Kernkraftwerken
Umweltschützer warnen vor Mängeln russischer AKW

Von Willi Gerns


Zu den Ländern, die trotz der Katastrophe im japanischen Fukushima auf die verstärkte Nutzung der Kernkraft zur Energiegewinnung setzen, gehört auch Rußland. So versicherte Ministerpräsident Putin zwar, aus den Ereignissen in Japan würden Lehren gezogen, zugleich verkündete er jedoch, am russischen Programm zur verstärkten Nutzung der Kernenergie werde es keine Veränderungen geben.

Das bestätigte auch der stellvertretende Generaldirektor des staatlichen russischen Atomenergie-Konzerns Rosatom, Kerill Komarow. In einem Interview erklärte er: »In Rußland wollen wir bis 2030 mindestens 28 neue Reaktoren aufstellen. Für unser Auslandsgeschäft läuft eine konservative Schätzung für die gleiche Periode auf die gleiche Zahl hinaus: 28 bis 30 Einheiten. Unsere wichtigsten Kunden sind China, Indien, Vietnam und Bangladesch. Im Nahen Osten geht es um die Türkei, vielleicht auch Ägypten und Jordanien. In Osteuropa haben wir mit Sicherheit Bulgarien, wo wir jetzt schon zwei Einheiten bauen, dazu die Tschechische Republik, die Slowakei, sicher die Ukraine und Weißrußland, vielleicht Ungarn. Schließlich Lateinamerika: Argentinien, vielleicht Brasilien."

Im Unterschied zu Deutschland und einigen anderen Ländern hat die Kernenergie in Rußland noch immer eine relativ hohe Akzeptanz in der Bevölkerung, auch wenn diese nach den Ereignissen in Fukushima dramatisch abgenommen hat. Hatten sich 2010 bei einer soziologischen Umfrage noch 37,3% der Befragten für die aktive Förderung der Atomenergie und etwa 37,5% für die Beibehaltung des aktuellen Niveaus ausgesprochen, so befürworteten bei einer Umfrage vom 2011, also nach den Ereignissen, nur noch knapp 23% die aktive Förderung und 30,5 Prozent die Beibehaltung des aktuellen Niveaus. Umgekehrt stieg der Prozentsatz derjenigen Befragten, die für die Abkehr von der Atomenergie bzw. ihre vollständige Aufgabe eintraten von etwa 14% in 2010 auf knapp 40 Prozent im März 2011.

In einem Beitrag »Rußland und Fukushima«, in den »Rußland-Analysen« untersucht Wladimir Sliwjak, Co-Vorsitzender der russischen Umweltorganisation »Ekosaschtschita«, die gravierenden Mängel russischer Kernkraftwerke.

Der Autor stellt fest, daß 22 von 32 russischen Reaktoren alt und unsicher sind und sich entweder am Ende der von den Planern festgelegten Nutzungsfrist befinden oder diese bereits überschritten haben. Dennoch soll die Nutzungszeit aller Reaktoren um 15 Jahre verlängert werden. Als Beleg für die Unsicherheit der russischen AKW weist er darauf hin, daß allein 2009 491 Norm- und Rechtsübertretungen in den Strukturen, die für die Projektierung und Herstellung von Anlagen für Kernkraftwerke zuständig sind, von Inspektoren der Aufsichtsbehörde festgestellt wurden. Weiter wird angeführt, daß die russische Atomindustrie z.B. mehr als 3.000 Mängelrügen wegen der ungenügenden Qualität der Anlagen erhalten habe, die beim Bau des AKW Tyanvan in China geliefert wurden.

Wladimir Sliwjak verweist auf einen Bericht, den seine Organisation für eine Sitzung des Staatsrats angefertigt hatte, die am 9. Juni in Anwesenheit von Präsident Medwedjew stattfinden sollte. Die am Vorabend der Sitzung aus dem Bericht von der Organisation verbreiteten Informationen seien durch die Präsidialadministration weder bestätigt noch dementiert worden. Der Bericht enthalte Daten über die Mängel russischer Kernkraftwerke, die sich während des Streßtest gezeigt hätten. Unter anderem werden folgende Mängel genannt:

- Die Stabilität der Baukonstruktionen einer Mehrheit der AKW entspricht nicht den geltenden Richtlinien bezüglich der Belastungen, die bei extremen Umwelteinflüssen auftreten können.

- Nicht bei allen Kernkraftwerken ist die automatische Notfallabschaltung im Falle eines Erdbebens einer gegebenen Intensität gewährleistet.

- Bauteile einer Reihe von Reaktorblöcken (...) zeigen Materialermüdung sowie unzulässige Schwankungen von Druck und Temperatur, was zu ihrer Zerstörung führen kann...

- Die Kontrollsysteme für die Konzentration von Wasserstoff, die Systeme und Elemente, die Wasserstoffexplosionen verhindern sollen, entsprechen nicht den Vorschriften zur Gewährleistung der Verhinderung von Wasserstoffexplosionen bei Atomkraftwerken.

Am 20. Juni hat der Chef von Rosatom, Sergej Kirijenko, erklärt, daß es sich angesichts der Resultate des Streßtests russischer AKW anbietet, neue Technik im Bereich Notfallkühlung der Reaktoren und Notfall­energieversorgung zu installieren. Wladimir Sliwjak kritisiert daran, daß »diese Maßnahme in keinster Weise das Problem der Stabilitätsmängel verschiedener Bauteile russischer AKW, die einem Erdbeben nicht standhalten würden«, löse. Gleichfalls habe diese Maßnahme »keine Auswirkung darauf, daß nicht bei allen russischen Anlagen Systeme existieren, die im Falle eines Erdbebens eine Notabschaltung der Reaktoren ermöglichen«.

Als Resümee kommt der Umweltschützer zu dem Schluß, »daß die Entscheidungen, die in Rußland nach Fukushima getroffen wurden, eher kosmetischen Charakters sind. Sie sind bei weitem nicht ausreichend, um die Sicherheit der Kraftwerke zu erhöhen und existierende Probleme alter Reaktoren der 1. und 2. Generation zu lösen. Auch 25 Jahre nach Tschernobyl stellen russische AKW nach wie vor eine Bedrohung für Mensch und Umwelt dar und die russischen Behörden scheinen der Meinung zu sein, daß dieses Risiko auch zukünftig einzugehen ist.«


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Quelle:
Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2012