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ATOM/030: Japan - Leben mit Cäsium 137, Fukushima-Anwohner misstrauen offiziellen Messwerten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 28. Februar 2012

Japan: Leben mit Cäsium 137 - Fukushima-Anwohner misstrauen offiziellen Messwerten

von Suvendrini Kakuchi


Tokio, 28. Februar (IPS) - Zehn Tage nach der Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima im März 2011 nahm sich der Bio-Bauer Hisashi Tarukawa das Leben. Wegen der atomaren Verstrahlung der Region hatte der 74-Jährige weder für den eigenen Betrieb noch für Japans Landwirtschaft eine Zukunft gesehen. Inzwischen kämpft sein Sohn Kazuya wie viele andere Betroffene um den Erhalt der Gemüsefarm. Seinen sicheren Job in Tokio hat der 36-Jährige aufgegeben.

Seit acht Generationen bewirtschaftet Tarukawas Familie den Betrieb und baut Gemüse an. In den vergangenen zehn Jahren hatte sich Vater Tarukawa auch auf Bio-Produkte verlegt. "Der Unfall im Atomreaktor hat unsere ganze Arbeit zunichte gemacht", stellt Kazuya Tarukawa fest. Auch er hat bisweilen Mühe, seine Verzweiflung niederzukämpfen.

Auch andere Bauern im Umfeld des atomaren Supergaus in Fukushima versuchen mit den Folgen der Katastrophe fertig zu werden. Durch die hohe Strahlenbelastung der Region steht Japans gesamte Nahrungsmittelindustrie auf dem Spiel, deren Qualitätsstandards zuvor weltweit geschätzt wurden. "Japans Agrar- und Fischereiprodukte sind auf einheimischen und internationalen Märkten nicht mehr gefragt", stellte der Lebensmittelexperte Ryota Koyama von der Universität in Fukushima fest.


Neue Messungen in Aussicht gestellt

Japans Regierung lässt seit Monaten die verseuchten Böden abtragen und bemüht sich, das allgemeine Vertrauen in die Landwirtschaft in Fukushima und den umliegenden Gebieten zurück zu gewinnen. Sie verspricht auch neue Testmessungen von Cäsium 137. Der gefährliche, Krebs erregende radioaktive Stoff, dessen Halbwertszeit etwa 30 Jahre beträgt, soll ab April auf mehr als 25.000 Agrarbetrieben und in Vorratslagern gemessen werden. Auch von der Etablierung strengerer Sicherheitsbewertungen ist die Rede.

Auch soll auf Vorschlag des Gesundheitsministeriums der zulässige Höchstwert für Milch und Kindernahrung bei 50 Becquerel (Bq) pro Kilo liegen. Ein Wissenschaftlergremium hat sich bereits für diesen Grenzwert ausgesprochen und in einer Veröffentlichung versichert, man habe die neuen Messwerte für sämtliche Lebensmittel besonders im Hinblick auf die Sicherheit für Kinder festgelegt.

Doch Atomkraftgegner und um den Schutz ihrer Kinder in Fukushima besorgte Eltern bestehen darauf, dass die Regierung die gesamte junge Generation in sicherere Gebiete evakuiert. Bislang sind über 100.000 meist junge Menschen aus Furcht vor der Strahlenbelastung aus Fukushima weggezogen.

Nach Schätzungen der angesehenen japanischen Tageszeitung 'Asahi Shimbun' vom September 2011 ist ein Gebiet von mehr als 8.000 Quadratkilometern mit 30.000 Bq Cäsium 137 pro Quadratmeter belastet. Danach war fast die Hälfte des 13.782 Quadratkilometer großen Verwaltungsbezirks von Fukushima kontaminiert. Auch die angrenzenden Bezirke Tochigi (1.370 Quadratkilometer), Miyagi (380 Quadratkilometer) und Ibaraki (260 Quadratkilometer) waren stark mit Cäsium belastet.

Grundlage dieser Schätzungen waren die vom Flugzeug aus gemessenen Cäsium 137-Werte, die Japans Wissenschaftsministerium am 8. September 2011 veröffentlicht hatte.


Versäumnisse rächen sich

"Die Menschen haben kein Vertrauen in die Behörden. Es waren Bauern vor Ort und nicht die Regierung, die als Erste die Höhe der Kontaminierung gemessen haben", berichtete Masai Shiina, Sprecherin des in Fukushima eingerichteten Mütternetzwerks zum Schutz der Kinder.

Auch Koyama kritisierte das Versäumnis von Regierung und Wissenschaft, die Zivilgesellschaft in die Überlegungen über bessere Sicherheitsstandards zum Schutz vor Strahlenbelastung mit einzubeziehen. Er selbst konzentriert sich bei seinen Forschungen über kontaminierte Lebensmittel auf verschiedene Höchstbelastungswerte für unterschiedliche Lebensmittel. Sie sollen die derzeit geltende Höchstbelastung für Lebensmittel von 100 Bq ersetzen. Er empfiehlt nach dem Beispiel der Ukraine strengere Standards für Grundnahrungsmittel wie Reis. Dagegen genüge für Obst der derzeitige allgemeine Höchstwert.

Der Landwirt Kitaburo Tanno aus dem 45 Kilometer von Fukushima entfernten Nihonmatsu, der kurz nach der Havarie des Reaktors seine acht Hektar große Farm aufgegeben hatte und weggezogen war, sagte IPS: "Nur mit vertrauenswürdigen Informationen wird es der Regierung gelingen, Japans Landwirtschaft zu retten." (Ende/IPS/mp/2012)


Links:
http://fukushima.greenaction-japan.org/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=106852

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Februar 2012