Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2019
Die Geister, die wir riefen
Chemikalien belasten zunehmend Mensch und Umwelt - Zeit zu handeln!
Hochgefährliche Pestizide im Fokus von SAICM Über die Notwendigkeit, hochgefährliche Pestizide durch agrarökologische Maßnahmen zu ersetzen
von Susan Haffmans
Pestizide sind Substanzen, die designt wurden, um unerwünschte
Organismen zu schädigen oder abzutöten. Als einzige Chemikaliengruppe
werden sie gezielt in großen Mengen in die Umwelt ausgebracht. Längst
lassen sich Pestizide überall auf der Welt in Böden, Gewässern und
selbst im Menschen nachweisen. Besonders problematisch sind die
sogenannten "Highly hazardous Pestizides (HHPs)" - zu Deutsch "sehr
gefährliche" beziehunggsweise "hochgefährliche" Pestizide,
insbesondere, wenn diese unter Armutsbedingungen angewandt werden. Das
internationale Chemikalienmanagement SAICM (Strategic Approach to
International Chemicals Amanagement) hat HHPs und die mit ihnen
verbundene Gefährdung von Menschen und ihrer Umwelt als ein globales
Problem anerkannt und benennt Lösungswege: Der Ersatz von HHPs soll
durch agrarökologische Maßnahmen erfolgen. Jetzt gilt es, den Worten
auch Taten folgen zu lassen.
Obgleich das Problem von Pestizidvergiftungen seit Jahrzehnten
bekannt ist, gibt es hierüber keine aktuelle Statistik. Basierend auf
den letzten offiziellen Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
von 1990 muss von derzeit schätzungsweise 41 Millionen
Pestizidvergiftungen jährlich ausgegangen werden. Wie viele davon
tödlich enden und wie viele Menschen an Langzeitfolgen wie Krebs,
Fruchtbarkeitsstörungen, neurologische Erkrankungen und
Hormonstörungen leiden oder daran sterben, ist nicht oder nur
lückenhaft dokumentiert. Auch gibt es nur wenige Informationen über
pestizidbedingte Veränderungen von Ökosystemen und darüber, was es für
nachfolgende Generationen bedeutet, in einer pestizidbelasteten Umwelt
aufzuwachsen. Durch neueste Daten der Weltgesundheitsorganisation
(World Health Organization, WHO) ist hingegen belegt, dass weltweit
ein Fünftel aller Suizide mit Pestiziden verübt werden und seit 1960
schätzungsweise 15 Millionen Menschen durch Selbsttötung mit
Pestiziden gestorben sind. Bekannt ist auch, dass ein Verbot von HHPs
nachweislich die Anzahl an Selbsttötungen reduziert. Ein Beispiel
hierzu kommt aus Sri Lanka. Dort haben Pestizid-Verbote dazu
beigetragen, dass es zwischen 1995 und 2015 93.000 weniger
Selbstmordopfer gab.
Besonders gefährdet: Länder des globalen Südens
Insbesondere in Ländern, in denen ein soziales, ökologisches und
arbeitsrechtliches Schutzsystem nur schwach ausgebildet ist, sind die
Anwendung, Lagerung und Entsorgung von Pestiziden mit erheblichen
Risiken verbunden. Obgleich in Entwicklungsländern lediglich rund 25
Prozent der globalen Pestizidmenge eingesetzt wird, ereignen sich dort
nach Aussage der WHO 99 Prozent aller tödlichen
Pestizid-Vergiftungsfälle. Jüngste Befragungen in sieben asiatischen
Ländern durch die Welternährungsorganisation (Food and Agricultural
Organization, FAO), das Pesticides Action Network und der Hanoi
National University zeigen, dass dort 70 Prozent der
PestizidanwenderInnen in ländlichen Gebieten unter akuten
Pestizidvergiftungen leiden.(1) Zu den Vergiftungen kam es u. a. durch
HHPs wie Paraquat, Lambda-Cyhalothrin, Chlorpyrifos und Glyphosat.
Ähnlich hohe Vergiftungszahlen werden aus Lateinamerika berichtet. Das
brasilianische Gesundheitsministerium meldete 15.018 Fälle von
Pestizidvergiftungen in 2018, geht aber von einer tatsächlich viel
höheren Zahl aus. Auch in den Industriestaaten kommt es zu akuten
Vergiftungen und chronische Erkrankungen durch Pestizide. Außerdem
tragen umweltgefährliche Pestizide zur Verunreinigung von Gewässern
und Böden und zum Verlust der Artenvielfalt bei.
Krebserregend? Fruchtbarkeitsschädigend? Umweltgefährdend?
Nach FAO/WHO sind Pestizide dann "hochgefährlich", wenn sie ein
besonders hohes Potenzial haben, akute oder chronische Gefahren für
Gesundheit und Umwelt mit sich zu bringen. Die PAN International List
of Highly Hazardous Pesticides basiert auf den FAO/WHO-Kriterien und
konkretisiert beziehungsweise erweitert diese.(2) Die Liste ermöglicht
es Ländern, Kommunen, Anbauorganisationen und anderen Beteiligten,
HHPs zu identifizieren und bildet eine Grundlage für deren
schrittweises Verbot beziehungsweise deren Ersatz durch umwelt- und
sozialverträgliche Alternativen. Derzeit sind in der PAN HHP-Liste 310
Pestizidwirkstoffe als hochgefährlich gelistet. Das ist ein Drittel
der rund 1.000 weltweit angewandten Pestizidwirkstoffe. Nur 34 davon
sind derzeit international durch verbindliche Übereinkommen im Handel
strenger reguliert oder gänzlich verboten. Dies zeigt einen Mangel an
verpflichtenden Regelungen und verdeutlicht zudem die Verantwortung
des internationalen Chemikalienmanagements, zu Lösungen des weltweiten
Pestizidproblems beizutragen.
Menschenrechtsverletzungen, Krankheit und vergiftete Umwelt - Das
Leid hinter den Zahlen
Hilal Elver, die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Nahrung
stellte in ihrem Bericht 2017 klar, dass gefährliche Pestizide
katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt, die menschliche Gesundheit
und Gesellschaften haben und dass für bestimmte Gruppen ein erhöhtes
Risiko für Menschenrechtsverletzungen vorläge. Wie richtig sie damit
liegt, verdeutlichte im August das Urteil des
UN-Menschenrechtsausschusses. Er machte Paraguay für
Menschenrechtsverletzungen durch die großflächige Besprühung von
Sojafeldern mit Pestiziden verantwortlich. Hierdurch erlitt die
Bevölkerung, einschließlich dort lebender Kinder, Vergiftungen.
Wasserressourcen und Grundwasserleiter wurden so verunreinigt, dass
sie nicht mehr genutzt werden konnten, Böden und Lebensmittel wurden
kontaminiert und es kam zum Verlust von Obstbäumen und zu
Ernteausfällen.(3)
Doppelstandards im Pestizid-Handel tragen zum Leid bei
Es ist allgemein bekannt, dass in Ländern mit mittlerem und niedrigem
Einkommen Millionen von BäuerInnen und LandarbeiterInnen Pestizide
ohne Schutzkleidung versprühen, weil das Klima zu heiß, die
Schutzkleidung zu teuer oder nicht zu bekommen ist. Bekannt ist auch,
dass Pestizide dort oft im Wohnhaus gelagert und die vermeintlich
leeren Pestizid-Verpackungen wegen fehlender Rücknahmesysteme einfach
in die Natur entsorgt werden, wo sie Böden und Gewässer verunreinigen.
Dennoch ist es gängige Praxis, dass Länder und Regionen wie die
Europäische Union (EU) oder die Schweiz hochgefährliche Pestizide
exportieren, die aufgrund ihrer besonderen Gefährlichkeit hier längst
verboten sind. Diese Doppelstandards im Pestizidhandel stehen
international zunehmend in der Kritik. PAN Germany zeigte in seinem
jüngsten Report 'Giftige Exporte', dass Firmen aus Deutschland im Jahr
2017 insgesamt 62 HHPs exportiert haben, von denen neun in der EU
keine Genehmigung (mehr) hatten.(4) Darunter waren bis zu 10.000
Tonnen des hochgefährlichen Wachstumsregulators Cyanamid, der in der
EU schon seit 2008 aufgrund der Gefährdung von AnwenderInnen verboten
ist. Cyanamid ist giftig beim Verschlucken, gesundheitsschädlich bei
Hautkontakt, kann schwere Augenschäden, allergische Hautreaktionen und
Atemnot hervorrufen und hatte in der EU zu erheblichen Vergiftungen
bei italienischen Weinbauern und -bäuerinnen geführt. Die EU und die
US-amerikanische Zulassungsbehörde EPA stuften den Wirkstoff zudem als
möglicherweise krebserregend beim Menschen ein. Doch ungeachtet dessen
werden mit dem Export von Cyanamid gute Geschäfte gemacht und das ganz
legal. Noch gibt es weder in Deutschland noch EU-weit ein Gesetz, das
Doppelstandards im Pestizidhandel verbietet.
Was muss sich ändern?
Sicher ist: Die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung von 2015 können
nicht erreicht werden, wenn der Einsatz hochgefährlicher Pestizide in
der Landwirtschaft so weitergeht. Schon im Gründungsdokument für den
Strategischen Ansatz zum Internationalen Chemikalienmanagement
(Strategic Approach to International Chemicals Management, SAICM)
wurde 2006 auf die Pestizidproblematik verwiesen und gefordert, dass
Maßnahmen ergriffen werden, um hochtoxische Pestizide schrittweise aus
dem Verkehr zu ziehen. Dabei hat SAICM das Engagement aller im Prozess
Beteiligten eingefordert und auf der vierten Internationalen
Chemikalienmanagement-Konferenz 2015 den Ersatz von HHPs durch
agroökologische Praktiken gefordert. Derzeit wird an der neuen
Rahmenvereinbarung für ein SAICM-Folgeabkommen gearbeitet. Ein solches
'SAICM Beyond 2020' wird daran gemessen, wie erfolgreich es dazu
beiträgt, die Anzahl und das Ausmaß von Pestizidvergiftungen und
Umweltkontaminationen zukünftig zu reduzieren.
Autorin Susan Haffmans ist Referentin beim Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN Germany) und Mitglied im Leitungsgremium von PAN International.
Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für
Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der
deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger
Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring,
Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR)
e.V.
Anmerkungen
1) PAN Asia Pacific (2018): Of Rights and Poisons: Accountability of
the Agrochemical Industry. Penang.
https://panap.net/2018/10/of-rights-and-poisons-accountability-of-the-agrochemical-industry/.
2) FAO/WHO (2016): International Code of Conduct on Pesticide
Management. Guidelines on Highly Hazardous
Pesticides. Rom/Genf.
http://www.fao.org/3/a-i5566e.pdf.
3) https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=24890&LangID=E.
4) PAN Germany (2019): Giftige Exporte. Die Ausfuhr hochgefährlicher
Pestizide von Deutschland in die Welt.
Hamburg.
https://pan-germany.org/download/giftige-exporte-ausfuhr-hochgefaehrlicher-pestizide-von-deutschland-in-die-welt/.
*
Quelle:
Rundbrief 4/2019, Seite 10 - 11
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 910
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 11. März 2020
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