Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2022
Rio plus 30: und sie bewegt sich doch ...
Zivilgesellschaft und Kommunen treiben Nachhaltigkeit voran
von Gerd Oelsner
Mit dem 'Erdgipfel' erhält vor dreißig Jahren das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung Einzug in die politische Arena. Es hat seitdem vor Ort viele Gesichter bekommen, besonders Zivilgesellschaft und Kommunen haben sich als wichtige Nachhaltigkeitstreiber erwiesen. Mit immer neuen Initiativen sind sie seitdem die Motoren einer sozial-ökologischen Transformation. Die folgenden Ausführungen lehnen sich eng an das neu im oekom-Verlag erschienene Buch "Nachhaltigkeitstreiber - Lokale Agenda 21, Kommunen und Zivilgesellschaft als Pioniere des Wandels" an.
Die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (United Nations Conference on Environment and Development - UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 in Rio de Janeiro markiert eine entscheidende historische Wegmarke für das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung. Außer den VertreterInnen von über 170 Staaten nehmen zahlreiche NGOs an der Konferenz teil. Neben völkerrechtlich verbindlichen Konventionen zu Klima und biologischer Vielfalt wird mit der 'Agenda 21' ein umfassendes Aktionsprogramm für nachhaltige Entwicklung für das 21. Jahrhundert verabschiedet. NGOs, Zivilgesellschaft und Kommunen nehmen in diesem als Akteure und Partner eine zentrale Rolle ein. Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung wird darin nicht genauer erläutert, sondern in der 'Rio-Deklaration' nur als Recht auf Entwicklung umschrieben. Dies erfolgt in enger Anlehnung an den die Konferenz vorbereitenden und 1987 erschienenen 'Brundtland-Bericht', für den eine nachhaltige Entwicklung den Entwicklungs- und Umweltbedürfnissen heutiger und künftiger Generationen in gerechter Weise entsprechen muss.
Bei der Umsetzung der Agenda 21 auf nationaler Ebene übernehmen die
NGOs in Deutschland eine Vorreiterrolle. Ein halbes Jahr nach der
Rio-Konferenz gründen 35 Verbände im Dezember 1992 das 'Forum Umwelt &
Entwicklung', das seitdem die Umsetzung der Rio-Beschlüsse begleitet
und vorantreibt. Den wichtigsten Impuls für die deutsche
Nachhaltigkeitsdiskussion nach der Rio-Konferenz und weit darüber
hinaus setzt 1995 die Studie 'Zukunftsfähiges Deutschland - Ein
Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung', die vom Bund für
Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und Misereor in Auftrag
gegeben wurde. Die Studie präzisiert den in Rio unklar gebliebenen
Begriff einer nachhaltigen Entwicklung: "Mit diesem Leitbegriff
verbindet sich die Erkenntnis, dass umweltpolitische Probleme nicht
isoliert von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung betrachtet
werden können, sondern ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich ist.
Umwelt und Entwicklung sind zwei Seiten einer Medaille."[1]
Methodisch baut die Studie auf dem aus den Niederlanden stammenden
Konzept des 'Umweltraums' auf, den Menschen in der natürlichen Umwelt
nutzen können, ohne ihn zu beinträchtigen. Damit werden auch die
'Grenzen des Wachstums' operationalisiert. Der notwendige Wandel ist
für die Studie nicht das Ergebnis einer umfassenden Strategie, sondern
kommt durch eine Vielzahl von Akteuren im Kleinen und Großen zustande.
Die insgesamt acht Leitbilder greifen Ideen und Initiativen von
Akteuren auf und umfassen Schwerpunkte wie Konsum oder Städte als
Lebensraum. Die Studie findet breite Resonanz in der Öffentlichkeit.
Allein im ersten Jahr nach dem Erscheinen finden dazu über tausend
Veranstaltungen statt.[2]
Anfang Texteinschub
Stockholm 1972: 'Nur eine Erde'
Schon 20 Jahre vor der Rio-Konferenz findet im Juni 1972 auf
Initiative Schwedens eine internationale "Konferenz der Vereinten
Nationen über die Umwelt des Menschen" in Stockholm statt. "Only one
earth - nur eine Erde" lautet das Motto der Veranstaltung, an der neben
VertreterInnen aus 113 Ländern als Novum in der UN-Geschichte auch
zahlreiche NGOs teilnehmen. Die indische Ministerpräsidentin Indira
Gandhi eröffnet dort mit ihrem Beitrag die globale Debatte über den
Zusammenhang von Armutsbekämpfung und Umweltschutz. Dieser schlägt
sich auch in der verabschiedeten Deklaration nieder. Die Erklärung
verbindet einleitend das fundamentale Recht auf ein Leben in Würde und
Wohlbefinden mit dem Schutz der Umwelt für gegenwärtige und künftige
Generationen. Auch ein zentrales Motto künftiger
Nachhaltigkeitsaktivitäten wird in Stockholm geprägt: "Think globally,
act locally - Global denken, lokal handeln".[2] Ebenfalls 1972 stößt
ein Bericht an den Club of Rome die Diskussion über "Die Grenzen des
Wachstums" an.
Ende Texteinschub
Unterstützt durch Landes- und Bundes-Agenda-Büros beschließt jede
fünfte Kommune in Deutschland eine Lokale Agenda 21 zur Umsetzung der
Agenda 21. Sie setzt als Türöffner eine nachhaltige Entwicklung auf
die politische Tagesordnung und verbreitet sie als Multiplikatorin in
die Fläche. Die in der Agenda 21 recht allgemein gehaltenen Vorschläge
für eine Lokale Agenda 21 werden in den Kommunen als großes
Realexperiment mit Leben erfüllt. Im Mittelpunkt steht ein neues
Partizipationsund Kooperationsmodell, das die verschiedenen Akteure in
den Kommunen zusammenbringt. Verwaltung, Gemeinderat und
Zivilgesellschaft werden zum 'AgendaDreieck' der Zusammenarbeit. Wo
dieses gelingt, ist die Lokale Agenda 21 erfolgreich. Treibende
Elemente der Prozesse sind eigenständig arbeitende bürgerschaftliche
Arbeitskreise mit dort entstehenden Projekten, die mit Unterstützung
der Verwaltung umgesetzt werden. Sie stoßen als 'Agenda-Schneebälle'
weitere Aktivitäten an, beispielsweise viele BürgerInnensolaranlagen.
Über die etablierten Verbände hinaus wird vor allem die nicht
organisierte Zivilgesellschaft, also örtliche Gruppen und BürgerInnen
aktiviert. "Ohne jeden Zweifel sind die vielen Projekte zur
Entwicklung einer 'Local Agenda 21' eine der wirklichen
Erfolgsgeschichten des Rio-Prozesses", bilanziert der frühere
Umweltminister und Exekutivdirektor des UN-Umweltprogramms Klaus
Töpfer.[3] Auf Dauer brauchen solche Prozesse als Gemeinschaftswerk
der Akteure stabile organisatorische und finanzielle Strukturen,
politische Unterstützung und Rahmensetzungen für eine
zukunftsgerichtete Perspektive. Deren Fehlen führt zum Einschlafen
vieler Prozesse, wobei viele einzelne Projekte fortgesetzt werden und
die Lokale Agenda 21 oft in anderen Strukturen aufgeht. Auf Landes-
und Bundesebene werden die geschaffenen Unterstützungsstrukturen nicht
weitergeführt, was auch zur Schwächung der örtlichen Prozesse
beiträgt.
So wie für erfolgreiche Lokale Agenda 21-Prozesse die Schnittstelle von Kommune und Zivilgesellschaft kennzeichnend ist, wird jetzt die Schnittstelle von Zivilgesellschaft und Wirtschaft zum neuen Markenzeichen.
Auch im Umfeld der Postwachstumsdebatte nach der Jahrtausendwende kommen viele neue zivilgesellschaftliche Initiativen und Impulse aus dem Ausland nach Deutschland: Repair-Cafés aus den Niederlanden, Transition- und Fairtrade Towns aus England oder die Gemeinwohl-Ökonomie aus Österreich. Gemeinschaftsgärten zeigen anschaulich, wie Nachhaltigkeit in der Praxis ökologisch und sozial aussieht. Ansätze des Teilens oder Tauschens verbreiten vielerorts eine 'Sharing Economy'. Verbesserte gesetzliche Rahmenbedingungen führen zu einem Boom von BürgerInnenenergiegenossenschaften als Energiewende von unten und einer Renaissance der Genossenschaften. Im Unterschied zur Lokalen Agenda 21 entstehen die meisten Initiativen 'bottom up' und nicht 'top down'. Sie zeichnet eine stärker unabhängige und selbsttragende Struktur aus. So wie für erfolgreiche Lokale Agenda 21-Prozesse die Schnittstelle von Kommune und Zivilgesellschaft kennzeichnend ist, wird jetzt die Schnittstelle von Zivilgesellschaft und Wirtschaft zum neuen Markenzeichen. Für die propagierte und auch praktizierte nachhaltige Lebensweise verschmilzt dabei oft die bisher getrennte Rolle von ProduzentInnen und KonsumentInnen zum neuen Typ der ProsumentInnen wie die vielen BürgerInnensolaranlagen zeigen. Viele Ansätze etablieren sich und finden schneeballartig große Verbreitung.
Für diese Initiativen sind Kommunen und Regionen der zentrale Aktionsraum. Auch eigenständige zivilgesellschaftliche Nachhaltigkeitsinitiativen sind irgendwann auf die Zusammenarbeit mit der Kommune und oft auch deren Unterstützung angewiesen. Dies wird seit der Lokalen Agenda 21 zum beiderseitigen Nutzen bereits oft und erfolgreich praktiziert: Räumlichkeiten für Initiativen und nachhaltige Start-ups, Flächen für Gemeinschaftsgärten, Dächer für BürgerInnensolaranlagen oder Kleinprojektefonds und BürgerInnenbudgets zur finanziellen Unterstützung sowie Internet-Plattformen mit allen örtlichen und regionalen Angeboten für ein nachhaltiges Leben sollten flächendeckend zum Standard werden. Damit können vor Ort gemeinsam nachhaltige Lösungen für eine sozial-ökologische Transformation realisiert werden.
Gerd Oelsner leitete das Agenda- und Nachhaltigkeitsbüro des Landes Baden-Württemberg seit der Gründung 1998 bis zum Jahr 2020.
Anmerkungen:
[1] BUND Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland/Misereor (Hrsg.) (1996): Zukunftsfähiges Deutschland - Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung. Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Basel/Schweiz. Zitat S. 24.
[2] Grober, Ulrich (2010): Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. Mün-chen. Seite 229 ff.
[3] Töpfer, Klaus (2006): Vom Rhein nach Rio - Umweltpolitik wird global. In: Vahrenholt, Fritz (Hrsg.) (2006): Die Umweltmacher. 20 Jahre BMU - Geschichte und Zukunft der Umweltpolitik. Hamburg. S.23-33, Zitat S.29.
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Quelle:
Rundbrief 2/2022, Seite 57-59
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 920
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 1. Oktober 2022
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