Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → INTERNATIONALES


KATASTROPHEN/138: Die Atomkatastrophe im Kopf (AGORA - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


AGORA - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 1 - 2016

Die Atomkatastrophe im Kopf

Von Natalia u. Alexander Danzer


In diesem Jahr wird zweier Nuklearkatastrophen gedacht: Zum fünften Mal jährte sich der Reaktorunfall in Fukushima, im April vor 30 Jahren ereignete sich der GAU von Tschernobyl. Bis heute führt er zu einem Wohlfahrtsverlust, der nicht nur unmittelbar auf Strahlung zurückgeht.


Der Reaktorunfall von Tschernobyl am 26. April 1986 gilt als verheerendste Nuklearkatastrophe aller Zeiten. Sie verursachte insbesondere unter stark betroffenen Kindern teils schwerwiegende gesundheitliche Schäden und verseuchte auf lange Frist die Umwelt in der Umgebung des Reaktors. Enorm sind auch die finanziellen Langfristfolgen. Seit der Katastrophe wendet die Ukraine jährlich 5-7% ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf, um das zerstörte Kraftwerk und die Umgebung zu sichern und zu dekontaminieren sowie Betroffene zu kompensieren. Wie wir in einer kürzlich veröffentlichten Studie darstellen, gehen die tatsächlichen Folgen und Kosten jedoch weit über diese Summe hinaus: Das Reaktorunglück von Tschernobyl hat in weiten Teilen der ukrainischen Bevölkerung eine starke Verunsicherung erzeugt, die sich seit nunmehr drei Jahrzehnten negativ auf die Lebenszufriedenheit und die mentale Gesundheit von Millionen Menschen ausgewirkt hat. Erstaunlicherweise trifft dies auch auf die breite Masse der Bevölkerung zu, die nicht von gesundheitlich bedenklichen Strahlenwerten betroffen waren.

Bei der Katastrophe von Tschernobyl wurde die unmittelbare Umgebung radioaktiv so stark verseucht, dass die Strahlungswerte (350-6000 Millisievert, mSv) die durchschnittliche natürliche Strahlendosis, welcher die Bewohner durch terrestrische und kosmische Strahlung normalerweise ausgesetzt sind, um das bis zu 3000-fache überstieg. Im Umkreis von 30 Kilometern um den Reaktor wurde eine Sperrzone errichtet, mehr als 100.000 Bewohner wurden umgesiedelt und weite Teile der Bevölkerung wurden umfangreichen Gesundheitsuntersuchungen und prophylaktischer Jodmedikation unterzogen. Trotz dieser umfangreichen Gegenmaßnahmen wurde die sowjetische Öffentlichkeit nicht über den Katastrophenfall und seine Auswirkungen unterrichtet. Die Diskrepanz zwischen Informationsembargo und entschlossenen staatlichen Gegenmaßnahmen führte zur Verunsicherung in der Bevölkerung und einem idealen Nährboden für Gerüchte über mögliche gesundheitliche Folgen.

Die bisherige medizinische und ökonomische Forschung hat sich fast ausschließlich mit den gesundheitlichen Folgen von unmittelbar Betroffenen beschäftigt: Ersthelfer, Feuerwehrleute, Aufräumarbeiter (sog. Liquidatoren) und Personen, die sich nahe des Unglücksorts aufhielten und im weiteren Verlauf evakuiert wurden. Die ukrainische Regierung hat bis zum Januar 2004 etwa zwei Millionen Menschen offiziell als Opfer der Nuklearkatastrophe anerkannt. Dies entspricht etwa 4% der ukrainischen Bevölkerung. Das gesamte Ausmaß der Katastrophe ist allerdings bis heute nicht aufgeklärt. Die genaue Erfassung aller direkten und indirekten Folgen für Mensch und Natur ist allein schon aus Gründen der Datenverfügbarkeit ein schwieriges Unterfangen. Langzeitfolgen der radioaktiven Verseuchung können in kurzfristigen Schätzungen nicht annähernd abgebildet werden. Die Bestimmung von kausal durch die Nuklearkatastrophe verursachten Erkrankungen, die wie etwa bei Krebs erst Jahrzehnte später auftreten können, ist schwierig.

In einer kürzlich publizierten Forschungsarbeit wenden wir uns einem bislang wenig beachteten Aspekt der Nuklearkatastrophe zu: Den psychologischen Langzeitfolgen in der ukrainischen Bevölkerung. Die der Forschung zugrunde liegende Hypothese lautet, dass die bereits erwähnte Diskrepanz zwischen staatlichen Katastrophenschutzmaßnahmen und gezielter Desinformation der Bevölkerung zu langfristiger Verunsicherung und Verängstigung auch jener geführt hat, die nicht zu den stark betroffenen Gruppen von Arbeitern gehörten. Wäre dies der Fall, sollten auch 20 Jahre nach der Katastrophe in der breiten Bevölkerungsmehrheit noch geringere Lebenszufriedenheit und höhere Depressionsraten zu verzeichnen sein. Für die empirische Überprüfung verwenden wir eine ukrainische Längsschnittbefragung der Jahre 2003-2007 zum psychischen Wohlbefinden, welche mit Informationen über regionale Strahlungsintensitäten nach dem Nuklearunfall verknüpft wurde. Um eine Vermengung von psychologischen und körperlichen Langfristfolgen zu umgehen, schließen wir in unserer Analyse den oben beschriebenen am stärksten betroffenen Teil der Bevölkerung (4%) aus. Unsere Stichprobe enthält damit ausschließlich Personen, die über geringe Strahlungsexposition und keinerlei klinisch nachweisbare körperliche Langzeitfolgen verfügen. In den Monaten nach dem Unfall überstieg die zusätzlich akkumulierte Caesium-137 Strahlendosis in keiner Region in der Stichprobe 2,1 Millisievert (mSv), im Durchschnitt lag sie bei 1 mSv pro Jahr, und damit halb so hoch wie die jährliche Belastung an terrestrischer und kosmischer natürlicher Hintergrundstrahlung in der Ukraine. Zum Vergleich: Ein Umzug von der Nordsee in den Bayerischen Wald erhöht die natürliche Strahlenbelastung um ca. 2-3 mSv pro Jahr.

Die Ergebnisse der statistischen Analyse zeigen, dass sich viele Menschen in der Ukraine - selbst wenn sie keine medizinisch messbaren physischen Folgen erlitten - große Sorgen um Familienangehörige und sich selbst machten. Diese Sorgen entstanden nicht zuletzt aus widersprüchlichem staatlichem Handeln. Viele Ukrainer berichten einen Rückgang ihrer Lebenszufriedenheit. Unwissenheit und Verunsicherung lösten chronische Angstgefühle und Depressionen aus, sogar die eigene Lebenserwartung wird deutlich pessimistischer eingeschätzt. Personen, die einer nur geringen zusätzlichen Strahlenexposition von 2 mSv ausgesetzt waren, erwarten im Durchschnitt immerhin 3 Jahre kürzer zu leben als vergleichbare Personen ohne zusätzliche Bestrahlung durch Tschernobyl.

Der verschlechterte mentale Gesundheitszustand infolge der Katastrophe impliziert einen großen langfristigen Wohlfahrtsverlust für die Ukraine. In unserer Forschung quantifizieren wir die mentalen Folgekosten für die ukrainische Bevölkerung insgesamt. Zum einen führen psychische Krankheiten zu höheren Abhängigkeiten von staatlichen Transferleistungen, die in der Untersuchung mit 0,5% des ukrainischen BIP pro Jahr beziffert werden. Zum anderen ergeben Berechnungen zur gesunkenen Lebenszufriedenheiten einen aggregierten Wohlfahrtsverlust von 2,5-5,5% des BIP pro Jahr für die Ukraine. Mit anderen Worten: Würde die ukrainische Regierung jedes Jahr zwischen 2,5-5,5% des BIP an die vermeintlich nicht-betroffene Bevölkerung ausschütten, würde dieses zusätzliche Einkommen das ursprüngliche Wohlbefinden der Menschen vor der Katastrophe widerherstellen. Trotz ihrer gigantischen Dimension stellen diese Werte lediglich konservative Schätzungen dar, weil in der Untersuchung direkt Betroffene (4% der Bevölkerung) nicht berücksichtigt wurden.

Die wahren gesellschaftlichen Kosten der Nuklearkatastrophe werden bei einer bloßen Betrachtung der direkten Kosten der Katastrophenbewältigung (wie im Falle von Tschernobyl durch die Einrichtung der Sperrzone, Evakuierung und Absicherung der Unfallstelle sowie durch Kompensationszahlungen an geschädigte Liquidatoren) deutlich unterschätzt. Immerhin ergeben unsere Berechnungen, dass die Berücksichtigung der vormals ignorierten mentalen Kosten zu einer Verdoppelung der staatlichen Katastrophenausgaben führen könnte.

Unsere Ergebnisse verweisen auf die immense Bedeutung, welche einem effizienten und glaubwürdigen Katastrophenmanagement zukommt. Regierungen - auch in modernen Demokratien wie etwa in Japan nach Fukushima - neigen dazu, die Risiken von Katastrophen zu untertreiben, um die Bevölkerung zu beruhigen. Diese besänftigende staatliche Informationspolitik kann jedoch mit Glaubwürdigkeitsverlusten einhergehen und bei der Bevölkerung Verunsicherung auslösen. Verlässliche Informationen über die tatsächliche Gefährdungslage und mögliche Folgen der Katastrophe können die Wahrscheinlichkeit von psychischen Langzeitfolgen für die Bevölkerung mindern. Der Staat kann zudem durch den Einsatz von psychologischen Kriseninterventionsteams und das Angebot von geeigneten Hilfsmaßnahmen Depressionen in der Bevölkerung eindämmen.
Unsere Forschung lässt den Schluss zu, dass es zur seriösen Bewertung von (möglichen) Reaktorkatastrophen essentiell ist, alle denkbaren direkten und indirekten Folgekosten zu berücksichtigen. Aufgrund der enormen Ausmaße von Katastrophen wie in Tschernobyl oder Fukushima werden die Gesamtkosten für gewöhnlich sozialisiert und vom Steuerzahler getragen, und das unabhängig davon, ob Atomkraftwerke privat oder staatlich betrieben werden. Soziale Wohlfahrtsverluste im Katastrophenfall müssen daher in realistische und umfassende Kosten-Nutzen-Analysen der Energieerzeugung miteinfließen.


Literatur

Danzer, Alexander M. und Natalia Danzer (2016):
"The Long-Run Consequences of Chernobyl: Evidence on Subjective Well-Being, Mental Health and Welfare",
Journal of Public Economics, Volume 135, March 2016, Pages 47-60, ISSN 0047-2727


Dr. Natalia Danzer ist stellvertretende Leiterin des Ifo Zentrums für Arbeitsmarktforschung und Familienökonomik am Ifo Institut München. Ihr wissenschaftlicher Fokus liegt auf der Evaluierung staatlicher Politik insbesondere an der Schnittstelle von Arbeits- und Familienökonomik sowie der Analyse der Bedeutung von ökonomischer Unsicherheit für die Familie.

Prof. Dr. Alexander Danzer ist an der KU Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre (insbesondere Mikroökonomik). Er forscht vorwiegend im Bereich der empirischen Evaluation von Arbeitsmarktreformen und Sozialpolitik, der Analyse von Einkommen und Armut, sowie der Interaktion von Migration und Integration.

*

Quelle:
AGORA - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2016, Seite 24-25
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU, 85071 Eichstätt
Telefon: 08421 / 93-21594 oder -21248, Fax: 08421 / 93-21594-0
E-Mail: pressestelle@ku.de
Internet: www.ku.de
 
AGORA erscheint einmal pro Semester und kann kostenlos bezogen werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang