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SOZIALES/002: "Fukushima hat meine Familie getrennt" - Gespräch mit Masahi Kanno (.ausgestrahlt)


.ausgestrahlt / gemeinsam gegen atomenergie - Rundbrief 13 / Herbst 2011

"Fukushima hat meine Familie getrennt"

Koriyama liegt weit außerhalb der Evakuierungszone. Die Strahlenwerte sind trotzdem hoch. Wer kann, schickt zumindest seine Kinder woanders hin. So wie Masashi Kanno


Herr Kanno, Ihr Haus steht 70 Kilometer vom AKW Fukushima entfernt - weit außerhalb der Evakuierungszone. Wohnen Sie da noch?

Masashi Kanno: Ich schon. Aber meine Frau und meine beiden Töchter, sieben und ein Jahr alt, sind Mitte August nach Niigata umgezogen, 160 Kilometer weiter westlich.

Warum?

Um die Kinder vor Verstrahlung zu schützen. Keine leichte Entscheidung vermutlich. Meine Frau und ich sind in der Provinz Fukushima geboren und aufgewachsen. Wir sind davon ausgegangen, dass wir selbstverständlich das ganze Leben hier wohnen würden. Die Atomkatastrophe hat meine Familie gezwungen, sich zu trennen. Das macht mein Leben von Grund auf anders.

Und Ihre Kinder?

Die leiden auch. Sie fragen immer, warum sie nicht mit Papa leben können. Im September gab es ein verlängertes Wochenende, aber ich musste arbeiten. Statt mir haben meine Eltern meine Familie in Niigata besucht. Als sie wieder gefahren sind, hat meine siebenjährige Tochter viel geweint: Sie wollte mit ihnen zurück. Das hat auch meine Frau traurig gemacht. Warum ziehen Sie nicht zu Ihnen? Ich muss ja weiter arbeiten hier. Japanische Medien berichten über sowas nicht: wie groß die seelische Belastung ist, wenn man so ein zerrissenes Leben führen muss.

Haben Sie eine Entschädigung bekommen?

Nein. Nur das Rote Kreuz, das hat uns ein paar Haushaltsgeräte für die neue Wohnung gegeben. Bald werde ich bei einer Hilfsorganisation nach finanzieller Unterstützung fragen.

Einige Tage nach Beginn der Atomkatastrophe hatten Sie Ihr Zuhause schon einmal verlassen.

Ja, da ging das Gerücht um, dass es doch zu einer Kernschmelze kommen könnte. Da sind wir nach Nagaoka geflohen. Aber nur für zwei Wochen - warum? Im April fing die Schule für meine Tochter an. Und ich habe der Regierung und den Medien vertraut: Die Menschen in Koriyama wurden nicht darüber informiert, dass ihre Stadt bereits verstrahlt war.

Als Sie von der Kontamination erfahren haben - wie haben Sie sich und Ihre Kinder geschützt?

Unsere ältere Tochter durfte nur mit Gesichtsmaske, Hut und langärmliger Kleidung in die Schule gehen. Und sie musste ihre Hände waschen und gurgeln. Unsere einjährige Tochter habe ich gar nicht ins Freie gelassen. An den Wochenenden haben wir Ausflüge gemacht, weg von hier, damit die Kinder im Freien spielen konnten. Außerdem haben wir auf die Herkunft unserer Lebensmitteln geachtet.

Immer wieder tauchen radioaktiv belastete Lebensmittel auf. Wie verlässlich sind die Kontrollen?

Ich traue ihnen nicht. Wir haben schon viel Strahlung abbekommen, trotzdem haben sie die Grenzwerte erhöht. Auch den offiziellen Strahlenmesswerten traue ich nicht. Vielleicht ist der Wert richtig, aber die Messmethode ist falsch. Manche Stationen messen in 20 Metern Höhe.

Wie lange wird Ihre Familie nun in Niigata bleiben?

Ich glaube, dass ich meine Töchter niemals mehr in die Provinz Fukushima zurückkehren lassen sollte, also auch nicht nach Koriyama. Aber wenn sie erwachsen sind, vielleicht kehrt meine Frau dann nach Koriyama zurück.

Wie haben denn Ihre Nachbarn auf Ihren Wegzug reagiert?

Einige sind auch weggezogen, aber weniger als ich erwartet habe. Es gibt viele Menschen hier, die gerne wegziehen würden, es aber nicht können: weil sie nicht genug Geld haben, gerade ein eigenes Haus gebaut haben und so weiter. Wenn sie ältere Kinder haben, wollen die sich oft auch nicht von ihren Klassenkameraden trennen.

Was soll mit dem verstrahlten Koriyama nun geschehen?

Die Stadt hat die Erde auf den Schulhöfen abgegraben. Sonst weiß ich von keiner Aktion. Die Regierung lässt uns im Stich. Regierung, TEPCO (der Betreiber des AKW Fukushima), Präfektur und Stadtverwaltung - wir können ihnen allen nicht trauen. Die vertuschen immer nur. Die Bevölkerung ist machtlos. Und die japanischen Medien können wegen der Macht von TEPCO die Wahrheit nicht berichten. AtomkraftgegnerInnen warnen seit Jahrzehnten vor der Gefahr eines schweren Atomunfalls. Hat Sie das vor dem 11. März 2011 je beunruhigt? Nein, gar nicht. Das war damals für mich kein Thema.

Interview: H. Rodemann-Higashi, A. Simon


Masashi Kanno, 37, Techniker, wohnt in Koriyama, 70 Kilometer westlichdes havarierten AKW Fukushima-Daiichi, und engagiert sich im Fukushima Netzwerk zum Schutz von Kindern vor radioaktiver Strahlung. Das Foto entstand Mitte August am Strand in Niigata, direkt nach dem Umzug seiner Familie dorthin. Kanno kehrte ein paar Tage später allein nach Koriyama zurück.


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Quelle:
Rundbrief 14, Herbst 2011, S. 10
Herausgeber: .ausgestrahlt
Normannenweg 17-21, 20537 Hamburg
E-Mail: info@ausgestrahlt.de
Internet: www.ausgestrahlt.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2011