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SOZIALES/064: Indien - Mangroven und Inklusion, positive Entwicklung nach dem Tsunami für die Irula (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 14. November 2014

Indien: Entwicklung nach Tsunami - Inklusion und das Wissen um den Wert von Mangroven verhelfen Volk der Irula zu einem besseren Leben

von Malini Shankar


Bild: © Malini Shankar/IPS

Ein Irula-Paar im Pichavaram-Mangrovenwald in Tamil Nadu beim Fischfang
Bild: © Malini Shankar/IPS

Pichavaram, Indien, 14. November (IPS) - Bald 14 Jahre ist es her, dass der Tsunami den Anrainern des Indischen Ozeans Tod und Verderben brachte. 230.000 Menschen starben und Millionen weitere wurden ihrer Existenzgrundlagen beraubt. Während viele Betroffene bis heute mit den Folgen der Tragödie vom 26. Dezember 2004 zu kämpfen haben, gibt es eine kleine Volksgruppe im Süden Indiens, die der Riesenwelle ein besseres Leben verdankt.

Die rund 25.000 ethnischen Irula lebten lange in den Nilgiri-Bergen in den indischen Bundessstaaten Tamil Nadu und Kerala. Traditionell boten sie sich den Bauern als Ratten- und Schlangenfänger an oder aber sie verdingten sich als Tagelöhner, um ihre mageren Einkommen zu verbessern.

Die Irula sind das beste Beispiel dafür, wie ein nachhaltiges Katastrophen-Management die Armut bekämpfen und gleichzeitig traditionelle Lebensweisen bewahren kann. Bis 2004 mussten die Angehörigen der indigenen Gemeinschaft für monatliche Hungerlöhne von höchstens 3.000 Rupien (50 US-Dollar) schuften. Auch litten sie unter Mangelernährung, schlechten Wohn- und Sanitärverhältnissen.

Doch nach dem Ende des Tsunamis und der Ankunft ganzer Heerscharen von Helfern in die südindische Küstenregion wurden die Irula mit mehr als nur Almosen bedacht. G. S. Bedi, einem aus dem Krisenbezirk Cuddalore in Tamil Nadu stammenden Regierungsbeamten, haben sie ihre Aufnahme in die Liste der registrierten Volksgruppen ('Scheduled Tribes') zu verdanken. Das bedeutet, dass sie staatliche Fördermaßnahmen in Anspruch nehmen können. Außerdem profitieren sie vom Gesetz für Waldrechte und von nachhaltigen Fischereiinitiativen. Dadurch hat sich ihre Wohn-, Ernährungs- und Einkommenssituation erheblich verbessert.


Beginn einer neuen Zeit

Die Mitglieder der Gemeinschaft sehen in der Post-Tsunami-Zeit den Beginn ihrer eigenen Renaissance. Unter der Federführung der M.-S.-Swaminathan-Forschungsstiftung (MSSRF) nehmen sie nun an einem Programm zum Schutz des von ihnen bewohnten Pichavaram-Mangrovenwaldes teil. Auf diese Weise hat sich ihr monatliches Durchschnittseinkommen auf 21.000 Rupien beziehungsweise 350 Dollar versiebenfacht.

Etwa 180 Irula-Familien profitieren direkt von den Schulungsprogrammen und Fördergeldern, die ihren Selbsthilfegruppen gezahlt werden. Sie konnten sich in den Bereichen Fischerei, nachhaltige Aquakultur und Krabbenzucht fortbilden und aus den sklavenähnlichen Verhältnissen lösen, in denen sie als Landarbeiter gefangen waren.

Und was vielleicht noch wichtiger ist: Die Irula haben inzwischen den Mangrovenschutz in ihr Alltagsleben integriert. Denn schließlich war es der Pichavaram-Mangrovenwald in der Nähe der Stadt Chidambaram in Tamil Nadu gewesen, der die Wucht des Tsunamis abgemildert und somit die Schäden für die dort lebenden 4.500 Irula vergleichsweise klein gehalten hatte.

Zwischen dem Vellar-Mündungsarm im Norden und der Flussmündung des Coleroon im Süden erstreckt sich der Pichavaram-Wald über eine Fläche von 1.100 Hektar. Mit seinem komplexen Wurzelsystem und brandungsgeschützten Gezeitenzonen bietet das Ökosystem eine stabile natürliche Barriere gegen das Eindringen von Seewasser, gegen Wellen und Überflutungen.

Wie Untersuchungen von A. Sivakumar, einem Meeresbiologen am MSSRF in Chennai, ergaben, war den wenigen Todesopfern unter den Irula zum Verhängnis geworden, dass sie außerhalb des Mangrovenwaldes lebten. Es starben sieben Mitglieder der Volksgruppe der Dörfer Kannagi Nagar und Pillumedu sowie 64 aus dem Küstengebiet MGR Thittu. Diese Erfahrung hat den Irula die Augen geöffnet, was den Wert der Mangroven als Wellenbrecher angeht.

"Bevor wir in die Liste der registrierten Volksgruppen aufgenommen wurden, hatten wir keine Ahnung von unseren Rechten. Wir waren erfolglose Jäger und ebenso glücklose Landarbeiter", erzählt der 55-jährige Pichakanna, der seinen schlecht bezahlten Job in der Landwirtschaft aufgegeben hat, um sich dem Fischfang und der Aquakultur zu widmen. Diese neuen Aktivitäten ermöglichen es ihm, am Mangrovenschutz in Tamil Nadu teilzunehmen.


Alternative Einnahmequellen

Sein monatliches Gehalt verdankt er der Garnelenzucht in den artenreichen Mangrovenwäldern. Dem MSSRF-Vorsitzenden M. S. Swaminathan zufolge zielen die Anstrengungen auf den Schutz des wohl wertvollsten Küsten-Ökosystems, das für ein Auskommen und für ökologische Sicherheit sorgt. "Biologische Schutzwälle sind ein unverzichtbarer Beitrag zur Resilienz vor Katastrophenrisiken", sagt er.

Wie der 33-jährige Nagamuthu berichtet, haben die Irula auf staatlichem Land eine Mangrovenplantage eingerichtet. Das Gesetz für Waldrechte erlaubt ihnen ferner, im Pichavaram-Mangrovenschutzgebiet zu fischen. "Wären wir nicht in die Liste der registrierten Volksgruppen aufgenommen worden, hätten wir nie von den Entwicklungsprojekten profitieren können", sagt er. "Wie wären nach wie vor Jäger, die sich von Ratten ernähren."

Die Aktivitäten zum Schutz der Mangroven sind gerade in einer Zeit, in der diese besonderen Feuchtgebiete schwinden, wichtig. So geht aus einer neuen Studie des UN-Umweltprogramms UNEP hervor, dass die Geschwindigkeit, mit der Mangroven im Vergleich zu anderen Wäldern zerstört werden, drei bis fünf Mal höher ist. Bis 2050 könnte Südasien bis zu 35 Prozent seiner Mangroven verloren haben, die es im Jahr 2000 besaß, heißt es in dem Bericht.

Die Irula sind inzwischen dazu übergegangen, kleinere Mengen der extrem proteinhaltigen Perlenmuscheln für den Eigenverzehr zu fangen. "Wir haben darüber hinaus gelernt, wie man Krabben fängt und in nahe gelegenen Mangrovenbuchten für den Verkauf mästet", berichtet Nagamuthu. Ebenso wurde den Menschen gezeigt, wie sie Kanäle nach dem ökologisch nachhaltigen Fischgrätenmuster anlegen können, damit die Gezeitenflüsse bis vor die Haustür gelangen, um zum Frühstück frischen Fisch fangen zu können.

Dieses künstlich geschaffene System aus Kanälen, das die indische Regierung empfiehlt, trägt ferner dazu bei, den Salzgehalt im Boden zu verringern, die Mangroven vor der Degradation zu schützen und die Fischereierträge zu steigern. Für die Menschen bedeuten diese Auswirkungen eine größere Ernährungssicherheit. Mit dem Erwerb von neuen und verbesserten Ausrüstungen wie Netzen, Booten, Rudern, Motoren, Haken und Fallen hat sich das Leben vieler Fischerfamilien zum Besseren gewandelt.


Kollektivfonds

Die Dorfbewohner von Killai, Pillumedu, Kannaginagar, Kalaingar, Vadakku, T.S. Pettai, and Pichavaram haben inzwischen einen Fonds eingerichtet, den sie monatlich mit jeweils 30 Prozent ihrer Einkommen bestücken. Die Spareinlagen wurden für den Bau eines Tempels, einer Schule und einem Wasseranschluss für 900 Familien in den sieben Ortschaften ausgegeben.

Wie Pichakanna, der derzeitige Dorfälteste des neu entstandenen Townships MGR Nagar, berichtet, wurden die Gelder aus dem Gemeindefonds auch für den Aufbau einer Frühwarn-Hotline verwendet, die über die Voice-SMS-Technologie Fischer mit Informationen über Wellengang und Winde versorgt. Auch werden Wetteraussichten und -warnungen herausgegeben.

Ein weiterer Voice-SMS-Service richtet sich an die Frauen, die über Gesundheit, Hygiene, Schwangerschaftshilfen und Mindestlöhne informiert werden.

Während Staats- und Regierungschefs durch die Welt fliegen, um über die künftigen Nachhaltigkeitsziele ab 2016 zu diskutieren, gibt es in Pichavaram ein vergessenes Volk, das einen alternativen und zukunftsweisenden Lebensweg eingeschlagen hat. (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/11/how-a-small-tribe-turned-tragedy-into-opportunity/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 14. November 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2014