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FORSCHUNG/344: Klimazeitbombe Permafrost (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 6/10 - Juni 2010

Klimazeitbombe Permafrost

Von Katey Walter Anthony


Der Permafrost in der Arktis taut und bildet Seen, aus denen Methan entweicht. Das starke Treibhausgas könnte die globale Erwärmung dramatisch beschleunigen. Wie groß ist die Gefahr? Und was lässt sich dagegen unternehmen?


In Kürze
Tauender Permafrost am Boden vieler arktischer Seen setzt Methan in die Atmosphäre frei, das als hochpotentes Treibhausgas die globale Erwärmung beschleunigt.
Dadurch kommt ein Teufelskreis in Gang: Die zusätzliche Erwärmung lässt weiteren Permafrost tauen, so dass noch mehr Methan entsteht.
Nach neuesten Untersuchungen vor Ort stehen wir kurz vor dem Einsetzen dieser verhängnisvollen Rückkopplungsschleife.
Die einzige realistische Gegenmaßnahme ist eine drastische Reduktion des Kohlendioxidausstoßes.

Beim Aufsetzen auf der Schotterpiste in Tscherski im Nordosten Sibiriens machte meine Pobacke unangenehme Bekanntschaft mit der Stahlspitze eines Gummistiefels. Der gehörte zu den Ausrüstungsgegenständen, die ich in dem kleinen Propellerflugzeug zwischen mich und meine drei Kollegen gestopft hatte. Mit diesem schmerzhaften Erlebnis endete die letzte Etappe der fünftägigen Reise meines Forschungsteams von der University of Alaska nach Sibirien zur »Nordöstlichen Forschungsstation« im Land der Millionen Seen. Wir besuchten die Gegend zum wiederholten Mal in der Absicht, einen schlafenden Riesen zu überwachen, der die globale Erwärmung rasant beschleunigen könnte, wenn er aufgeweckt wird.

Mit unseren Expeditionen möchten wir herausbekommen, wie viel von dem ganzjährig gefrorenen Boden - dem Permafrost - in Sibirien und der Arktis insgesamt kurz vor oder am Auftauen ist und welche Mengen Methan dabei freigesetzt werden. Diese Frage bewegt uns - sowie viele andere Forscher, aber auch Politiker -, weil Methan ein starkes Treibhausgas ist, das in der Atmosphäre pro Molekül die 25-fache Heizkraft von Kohlendioxid entwickelt. Wenn der Permafrost durch die Erderwärmung rasch taut, könnte sich der Globus schneller erwärmen, als es die meisten Klimamodelle derzeit vorhersagen. Leider lassen unsere Daten in Verbindung mit ergänzenden Analysen weiterer Forscher nichts Gutes erwarten.

Dauerfrost herrscht auf einem Fünftel der Erdoberfläche, und in dem Boden, der Dutzende bis Hunderte von Metern tief gefroren ist, stecken ungefähr 950 Milliarden Tonnen Kohlenstoff. Dieser stammt von toten Pflanzen und Tieren und hat sich über Zehntausende von Jahren angesammelt. Solange er unter und zwischen den zahlreichen, nur im Sommer eisfreien Seen lagert, bleibt er in sicherem Abstand von der Luft weggesperrt.


Wie bei offener Kühlschranktür

Aber sobald der Permafrost taut, wird das zuvor versiegelte organische Material für Mikroben zugänglich, die es rasch zersetzen und dabei Gase produzieren. Das Gleiche passiert, wenn Sie das Gefrierfach Ihres Kühlschranks offen stehen lassen: Nach einer gewissen Zeit taut die Tiefkühlware darin auf und beginnt zu verfaulen. An der Luft zersetzen Bakterien und Pilze das organische Material aerob, wobei Kohlendioxid entsteht. Wassergesättigte Böden und die vollgesogenen Sedimente am Grund von Seen sind jedoch an Sauerstoff verarmt. Unter diesen Bedingungen findet ein anaerober Abbau statt, bei dem Methan entsteht (neben einer geringen Menge Kohlendioxid). Am Seeboden sammelt es sich in Blasen, die aufsteigen und an der Oberfläche zerplatzen.

Die anaerobe Zersetzung ist die Hauptmethanquelle in der Arktis. Wenn Permafrostboden taut, senkt er sich ab; in den Vertiefungen sammelt sich Schmelzwasser und bildet viele neue, kleine Seen. Aus ihnen entweichen zunehmende Methanmengen, während der gefrorene Untergrund weiter taut. Wie narbenartige Senken in der Landschaft zeigen, läuft dieser Vorgang schon seit rund 10.000 Jahren ab - also seit Beginn der jüngsten Warmzeit. Satellitenaufnahmen aus den letzten Jahrzehnten legen allerdings nahe, dass sich das Tauen jüngst stark beschleunigt hat.

Das deckt sich mit Beobachtungen an zahlreichen Überwachungsstationen in Alaska und Sibirien, die Forscher wie mein Kollege Vladimir E. Romanovsky aus Fairbanks betreiben. Demnach erwärmt sich der Permafrostboden an den Messstellen seit den frühen 1970er Jahren. Wie Extrapolationen der vorhandenen Daten nahelegen, liegt bei einem Drittel bis zur Hälfte des dauerhaft gefrorenen Untergrunds in Alaska die Temperatur nur noch ein bis eineinhalb Grad Celsius unter dem Gefrierpunkt; an einigen Orten rund um die Welt hat sie ihn schon erreicht.

Laufende Beobachtungen von weiteren Kollegen und meinem Team bei Reisen nach Tscherski und zu vielen anderen Stationen bestätigen den Eindruck einer drastischen Beschleunigung des Tauens. Zudem lassen sie viel größere Emissionen von Methan erwarten als bisher angenommen. Nach neuesten Schätzungen meiner Gruppe sollte bei einer Fortdauer des momentanen Erwärmungstrends tauender Permafrost bis Ende dieses Jahrhunderts alle anderen natürlichen und menschengemachten Quellen des Treibhausgases weit in den Schatten stellen. Berechnungen von Vladimir Alexeev aus Fairbanks zufolge dürfte das so freigesetzte Methan - einschließlich des Kohlendioxids, das der aufgetaute Boden abgibt - die globale Mitteltemperatur um zusätzliche 0,32 Grad Celsius anheben.

Das mag sich unbedeutend anhören, ist es aber nicht; es würde erheblich zur Beeinträchtigung der Landwirtschaft, zum Anstieg des Meeresspiegels und zur Verbreitung von Krankheiten auf Grund der globalen Erwärmung beitragen. Falls Methan freikäme, das unter dem Permafrost oder am Meeresgrund in so genannten Gashydraten gespeichert ist, könnte die Temperatur sogar um mehrere Grad steigen. Deshalb muss der Menschheit mehr denn je daran gelegen sein, der Erderwärmung energisch entgegenzuwirken, damit nicht weite Bereiche der Arktis auftauen.


BEDROHLICHE ZAHLEN

Permafrost bedeckt ein Fünftel des irdischen Festlands.

Zwischen einem Drittel und der Hälfte des Permafrosts befindet sich nur noch 1 bis 1,5 Grad Celsius unter dem Gefrierpunkt.

Bei unverminderter Erderwärmung wird so viel davon tauen, dass die Methanemissionen bis Ende des Jahrhunderts um 20 bis 40 Prozent steigen dürften.

Methan in der Atmosphäre hat pro Molekül die 25-fache Heizkraft von Kohlendioxid.

Fazit: Die Jahresmitteltemperatur der Erde könnte um zusätzliche 0,32 Grad Celsius steigen.


Erblast in Sibirien Kanada

Regionen wie die bei Tscherski liefern den Schlüssel zur Verifikation unserer Schätzungen - oder zu ihrer Revision. Während ich zusammen mit meinem Kollegen Sergei A. Zimov, dem Gründer der Nordöstlichen Forschungsstation, an einem Flussufer entlanggehe, muss ich aufpassen, wo ich hintrete. Der durchweichte Boden unter meinen Füßen besteht hauptsächlich aus schlammigem, moosbewachsenem Torf. Er reicht nur einen halben Meter tief und sitzt lose auf einer 40 bis 80 Meter dicken, vereisten Schicht. Die verkrüppelten Bäume in diesem »ertrunkenen Wald« neigen sich kreuz und quer, weil sie keine Wurzeln in den gefrorenen Untergrund treiben können und die alljährliche Sommerschmelze starke Frostaufbrüche verursacht. Ein kürzlich umgestürzter Baum hat den dünnen Waldboden aufgerissen, so dass wir einen Blick auf die schwarz glänzende Eisfläche darunter werfen können, während uns der modrige Geruch sich zersetzenden organischen Materials in die Nase steigt. Es ist schwer, nicht über die Unmengen an Knochen zu stolpern, die überall herumliegen und von Wollnashörnern, Mammuts, Säbelzahntigern, Bären und Pferden aus dem Pleistozän stammen.

Aber nicht die Stoßzähne und Schädel aus gestorbener Tiere machen diese Region zu einem Mekka für Zimov. Vielmehr ist es die riesige im Boden gespeicherte Kohlenstoffmenge, die ihn 1989 veranlasste, mit einer Gruppe junger Wissenschaftler die einsame Nordöstliche Forschungsstation zu gründen, um ganzjährig den Permafrost in Tundra und Taiga zu beobachten. In Skiffs (kleinen Ruderbooten) bereisten die Forscher die großen russischen Flüsse und erklommen Permafrostkliffe, um den Kohlenstoffgehalt als Indikator der zu erwartenden Methanemission zu messen. Mit Armeepanzern und Bulldozern simulierten sie äußere Störeinflüsse wie etwa schwere Waldbrände, welche die Humusschicht an der Oberfläche beseitigen können. Ihre Experimente und Messungen enthüllten das Ausmaß des im Permafrost gebundenen Kohlenstoffs und seine Bedeutung für die Erde.

Aber warum hat Zimov - wie meine Gruppe später auch - eine Region zum Schwerpunkt seiner Untersuchungen gemacht, die zuvor nur für die Gulags des Sowjetsystems bekannt war? Die Antwort lautet: Weil der Permafrost nicht überall gleich ist. Per Definition handelt es sich um eine Bodenschicht, deren Jahresmitteltemperatur in mindestens zwei aufeinander folgenden Jahren unter null Grad Celsius bleibt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob Eis vorhanden ist oder nicht. In dem hier betrachteten riesigen Teil Sibiriens findet sich ein bestimmter Typ von Permafrost namens Jedoma. Der enthält nicht nur viel Kohlenstoff, sondern auch jede Menge Eis - was für die Entstehung von Methan wichtig ist. 10 bis 80 Meter hohe Eiskeile und kleinere Eislinsen machen bis zu 90 Prozent des Bodenvolumens aus; der Rest besteht aus Erdsäulen mit hohem Gehalt an organischem Material: den Überresten von pleistozänen Tieren und dem Gras, das sie einst fraßen.

Jedoma hat sich am Ende der letzten Eiszeit auf mehr als 1,8 Millionen Quadratkilometern in Sibirien und in ein paar Arealen in Nordamerika gebildet. Das organische Material ist an Ort und Stelle gefroren, bevor Mikroben es zersetzen konnten. Ein riesiger Nahrungsvorrat wurde so in einer weltumspannenden Tiefkühltruhe eingelagert. Doch nun steht der Truhendeckel auf einmal offen.

Alle globalen Klimamodelle, die der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimawandel der Vereinten Nationen (IPCC) in seinem Bericht von 2007 erwähnt, stimmen darin überein, dass sich die hohen Breiten am stärksten erwärmen werden. Einige sagen einen Temperaturanstieg um sieben bis acht Grad Celsius bis zum Ende dieses Jahrhunderts voraus.

Ein wärmeres Klima aber lässt das Jedoma-Eis schmelzen, wobei sich Seen bilden. Vegetation stürzt in zuvor eisgefüllte Spalten und in Vertiefungen, die der absinkende Boden hinterlässt. Die resultierende Landschaftsform wird als Thermokarst bezeichnet. Heute bedecken Seen bis zu 30 Prozent der Fläche Sibiriens. Weiteres Tauen lässt sie wachsen und sich zu ausgedehnten Methanquellen vereinigen.


BLUBBERNDE BLASEN

In der eiskalten Arktis liegt unter einer dünnen Schicht jüngeren Bodens alter Permafrost, der tiefgefrorenes totes Pflanzen- und Tiermaterial enthält. Doch wenn sich die Atmosphäre erwärmt, taut der vereiste Untergrund auf. Dann beginnen sich die organischen Substanzen zu zersetzen, wobei Methan entsteht.

(im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildungen der Originalpublikation:)

1. Eis im gefrorenen Boden schmilzt, so dass er nachgibt. Dadurch bilden sich Trichter, die sich mit Wasser füllen und zu Teichen werden.

2. Die Teiche vereinigen sich zu Seen. Das Wasser beginnt den Permafrost darunter aufzutauen. Mikroben zersetzen das enthaltene organische Material und erzeugen dabei Methan.

3. Unter den wachsenden und sich vertiefenden Seen taut immer mehr Permafrost auf. Große Mengen an organischem Material werden nun anaerob zersetzt. An vielen Stellen entsteht Methan und steigt in Form von Blasen auf, die an der Oberfläche platzen und das Gas in die Atmosphäre freisetzen.


Gefrorenes Blasenmeer

Seit den 1990er Jahren beobachteten Wissenschaftler an der Nordöstlichen Forschungsstation, wie das ganze Jahr über Methan vom Boden der Seen aufstieg. Doch die globale Bedeutung dieser Emissionen blieb unklar. Das war der Grund für meine - etwas unsanfte - Landung mit dem Flugzeug in Tscherski letzten August: Diese Expedition diente wie die acht früheren dazu, im Reich der rasant expandierenden Thermokarstseen die Veränderungen des Permafrosts und die Freisetzung von Methan zu messen.

Alles hatte 2000 als Doktorarbeit angefangen. Damals war schon bekannt, dass die Menge an Methan - des dritthäufigsten Treibhausgases in der Atmosphäre nach Wasserdampf und Kohlendioxid - in der Luft zunimmt. Nie zuvor in den vergangenen 650.000 Jahren waren, wie Untersuchungen von Luftblasen in polaren Eisbohrkernen belegten, die Emissionen dieses Gases so hoch gewesen und so schnell gestiegen.

Es gibt Indizien dafür, dass der Methangehalt der Atmosphäre in vergangenen Epochen parallel zu natürlichen Klimaschwankungen über Zeiträume von Jahrtausenden hinweg um bis zu 50 Prozent variierte. Dem steht eine Zunahme um fast 160 Prozent seit Mitte des 18. Jahrhunderts gegenüber - von 700 ppb (parts per billion, milliardstel Volumenanteile) vor der industriellen Revolution auf fast 1800 ppb zu Beginn meines Projekts.

Ebenso war bekannt, dass Landwirtschaft, Industrie, Deponien und andere menschliche Einflüsse zu dem jüngsten Anstieg beigetragen haben. Ungefähr die Hälfte des Methans, das jedes Jahr in die Atmosphäre gelangt, stammt allerdings aus natürlichen Quellen. Niemand hatte bisher den genauen Beitrag der wichtigsten darunter ermittelt.

Zwischen 2001 und 2004 pendelte ich zwischen Fairbanks und Tscherski, wo ich bei den wenigen russischen Familien vor Ort lebte. Ich verbrachte lange Nächte in der Bibliothek der Forschungsstation, die sich auf dem Dachboden des kleinen, gelben Holzbaus befand, mit dem Basteln von Plastikflößen, die ich als Geräte zum Auffangen von Methanblasen auf den Seen aussetzen konnte. Um sie zu Wasser zu lassen, beugte ich mich weit über den Rand herrenloser Boote, die ich kurzerhand requiriert hatte. Täglich prüfte ich die Fallen, um das Gasvolumen zu bestimmen, das sich unter ihren großen, quallenartigen Röcken gesammelt hatte. Anfangs war es nicht viel.

Der Winter setzt früh ein in Sibirien. An einem Morgen im Oktober, als das Eis gerade dick genug war, um mich zu tragen, wagte ich mich auf die glänzende Fläche, die das Moor darunter schwärzlich färbte. Nach wenigen Schritten entfuhr mir ein erstauntes »Oh!«. Es war, als ob ich in den Nachthimmel schauen würde. Im dünnen schwarzen Eis waren trau benartig weiß schimmernde Blasen gefangen. Unregelmäßig über die Oberfläche verteilt, zeigten sie an, wo aus dem Seeboden Gas em porperlte. Als ich mit einer Eisenstange in eines dieser weißen Blasennester stach, spürte ich, wie mich ein Lufthauch anwehte. Kaum hatte ich ein Streichholz angezündet, da schoss eine fünf Meter hohe Flamme empor. Obwohl ich instinktiv zurückwich, verbrannte sie mein Gesicht und versengte mir die Augenbrauen. Methan!

Den ganzen Winter hindurch stapfte ich über zugefrorene Seen, um Fallen über diesen Quellen zu platzieren. Mehr als einmal plumpste ich dabei ins eiskalte Wasser, weil ich ahnunglos auf eine Stelle getreten war, an der dem Seeboden so viel Gas entströmte, dass es sich in ausgedehnten Hohlraumsystemen gesammelt hatte, die nur von einer dünnen Haut aus Eis bedeckt waren. An solchen Methan-Hotspots, wie ich sie nannte, bleiben selbst dann, wenn die Lufttemperatur im dunklen sibirischen Winter auf minus 50 Grad Celsius fällt, brüchige Öffnungen in der Größe eines Kanaldeckels. Hier fing ich teils 25 Liter Methan am Tag auf - viel mehr, als Wissenschaftler normalerweise messen.

Ich zeichnete Karten von den Hotspots zahlreicher Seen und führte Buch über ihre Emissionen. Das intensivste Blubbern registrierte ich an den Rändern der Gewässer, wo der Permafrost am stärksten taute. Radiokarbondatierungen ergaben für das Alter des Gases an manchen Stellen 43.000 Jahre, was klar auf Jedoma als Ursprung hindeutete.

Von 2002 bis 2009 machte ich eine Bestandsaufnahme der Methanquellen von 60 Seen unterschiedlicher Größe und Art in Sibirien und Alaska und maß ihre Emissionen. Das Ergebnis überraschte mich selbst und die Fachwelt: Der Methanausstoß in der untersuchten Region nahm um fast 45 Prozent schneller zu als die Ausdehnung der Seen. Die Emission des Treibhausgases pro Wasserfläche stieg also. Aus Extrapolationen über die Seen in der gesamten Arktis erhielt ich als vorläufige Schätzung eine Gesamtmenge von 14 bis 35 Millionen Tonnen Methan, die pro Jahr freigesetzt wurden.

Thermokarstseen haben einen beträchtlichen Beitrag zur plötzlichen Erwärmung vor 10.000 bis 11.000 Jahren geleistet. Polare Eisbohrkerne und Radiokarbondatierungen des Bodens ausgetrockneter Gewässer liefern Anhaltspunkte dafür, dass ihnen bis zu 87 Prozent des Methans entstammten, das damals auf der Nordhalbkugel in die Atmosphäre gelangte und entscheidend mithalf, die Eiszeit zu beenden. Demnach kann die Schmelze des Permafrosts und die Freisetzung von Methan unter den richtigen Bedingungen an Fahrt gewinnen, weil sich beide Prozesse gegenseitig verstärken: Kohlenstoff aus dem Pleistozän wird in Form des Treibhausgases freigesetzt und trägt zur Erwärmung der Atmosphäre bei, was weiteres Tauen und die Freisetzung von noch mehr Methan auslöst.

Die anthropogene Erderwärmung droht diesen Teufelskreis heute wieder in Gang zu setzen. Anhand zahlreicher Analysen prognostizieren meine Kollegen und ich, dass in den nächsten Jahrzehnten bis Jahrhunderten durch das Tauen der Jedoma mindestens 50 Milliarden Tonnen Methan aus Thermokarstseen in Sibirien entweichen werden - zehnmal so viel, wie sich derzeit in der Atmosphäre befinden.


Feinjustierung der Modelle

So sorgfältig unsere derzeitigen Schätzungen sind, brauchen wir für verlässliche Aussagen jedoch ausgefeiltere Modelle. Dabei sollten auch mögliche negative Rückkopplungen einbezogen werden, die hemmend wirken könnten. Zum Beispiel entleeren sich in Alaska momentan so viele Thermokarstseen wie nie zuvor in historischer Zeit. Sofern sie in höheren Lagen entstanden sind, dehnen sie sich aus, bis sie eine Stelle erreichen, wo das Gelände abzufallen beginnt. Dort schwappt dann Wasser über ihren Rand, läuft bergab und gräbt durch Erosion eine sich stetig vertiefende Rinne, über die der See schließlich ausfließt. Dabei werden beim Tauen freigesetzte Sedimente in die Flüsse und schließlich ins Meer gespült. In den entleerten Becken wächst frische Vegetation und lässt Feuchtgebiete entstehen. Diese produzieren zwar Methan, wenn sie im Sommer auftauen, aber die jährlichen Gesamtemissionen sind oft erheblich kleiner als die der früheren Gewässer.

Es ist schwer zu sagen, ob eine solche Verlandung von Thermokarstseen in größerem Rahmen stattfinden und die Freisetzung des Treibhausgases stark oder nur um ein paar Prozentpunkte verringern wird. In zwei Projekten versuche ich seit 2008 gemeinsam mit meinen Kollegen Guido Grosse in Fairbanks, Lawrence Plug von der Dalhousie University in Nova Scotia, Mary Edwards von der University of Southampton (England) und anderen die aktuellen Näherungen erster Ordnung für die positiven und negativen Rückkopplungen zu verbessern. Dazu erstellen wir Karten und eine Klassifizierung der Thermokarstseen sowie des Kohlenstoffkreislaufs für ausgewählte Regionen Sibiriens und Alaskas.

Dieses interdisziplinäre Vorhaben verbindet Ökologie, Geophysik und Fernerkundung und umfasst außer Emissionsmessungen auch die Inkubation von Proben aufgetauten Permafrosts und von Seesedimenten im Labor. Ziel ist die Entwicklung eines quantitativen Modells der Methan- und Kohlendioxidemissionen von Thermokarstseen für die Zeit vom Höhepunkt der letzten Vereisung (vor 21.000 Jahren) bis zur Gegenwart. Damit wollen wir schließlich die Stärke der Rückkopplung zwischen der Erderwärmung und den Methanemissionen dieser Seen für die nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte vorhersagen.

Derzeit entwickeln Plug und unser Postdoc Mark Kessler zwei Computermodelle. Das eine soll die Dynamik eines Thermokarstsees simulieren, das andere die Folgen von Veränderungen des Permafrosts in einer größeren Region berechnen und dabei auch die Vorgänge an Hügelflanken und die Bewegung von Oberflächenwasser berücksichtigen. Zur Validierung der Modelle vergleichen wir ihre Vorhersagen zunächst mit Befunden aus Landschaften, die wir bereits untersuchen.

Später wollen wir Daten von Sedimentbohrkernen aus Sibirien und Alaska, die 15.000 Jahre zurückreichen, und schließlich die Ergebnisse von Klimasimulationen für die jüngsten 21.000 Jahre zum Vergleich heranziehen. Am Ende soll die Kopplung mit dem riesigen Klimamodell des Hadley Centre in Exeter (England) stehen, das die Zirkulation von Ozeanen und Atmosphäre beschreibt und für die Sachstandsberichte des IPCC verwendet wird. Das Ergebnis wird hoffentlich ein Masterprogramm sein, das Ausmaß und Auswirkungen des Tauens von Permafrostböden komplett simulieren kann und uns so in die Lage versetzt, die künftigen Emissionsraten von Methan zu berechnen und deren Einfluss auf die globale Temperatur zu bestimmen.

Weitere Feldstudien werden mit ihren Ergebnissen helfen, unsere Modelle stetig zu verfeinern. So wollen wir demnächst mit einem Luftkissenboot mehrere sibirische Flüsse und die Eismeerküste auf einer Strecke von etwa 1500 Kilometern abfahren, um die angrenzenden Seen zu untersuchen. Geplant ist auch eine groß angelegte Expedition, um Bohrkerne von Seesedimenten zu gewinnen, die sich vor vielen Jahrtausenden abgelagert haben. Die Ergebnisse dieser Feldstudien sowie Daten aus der Fernerkundung werden schließlich in das Programm des Hadley Centre einfließen. Damit sollte es am Ende gelingen, die Entwicklung des Klimas vom Höhepunkt der letzten Eiszeit bis 200 Jahre in die Zukunft zu simulieren. Karten mit Angaben darüber, wo und wann der Permafrost tauen wird und wie viel Methan dabei entsteht, sollen bis April 2011 fertig sein.


Was tun?

Wenn sich, wie alle Indikatoren nahelegen, die Methanemissionen aus dem arktischen Permafrost beschleunigen, lautet die nächste Frage: Was können wir dagegen unternehmen? Vorstellbar wäre, das Gas als relativ sauberen Brennstoff aufzufangen, bevor es entweicht. Doch da Millionen von Thermokarstseen über riesige Flächen verstreut sind, rechnet sich das nicht. Nur kleine Gemeinden, die nah genug an starken Methanquellen liegen, könnten diese Energieressource anzapfen.

Auf der Suche nach Alternativen haben Zimov und sein Sohn Nikita deshalb einen faszinierenden Plan entwickelt, um den Permafrost in Sibirien vor dem Tauen zu bewahren: die Schaffung eines Grasland-Ökosystems, für dessen Erhalt große nördliche Pflanzenfresser sorgen, wie sie vor mehr als 10.000 Jahren in Sibirien lebten. Zu Demonstrationszwecken haben die beiden ein 160 Quadratkilometer großes Gehege im Nordosten Sibiriens eingerichtet und mit Pferden, Elchen, Bären und Wölfen besiedelt. Auch Moschusochsen und Bisons sollen in diesem »Pleistozänpark« erneut eine Heimat finden, sofern die russische Regierung, US-Behörden und private Sponsoren genügend Geld zur Finanzierung bereitstellen.

Zusammen mit dem Mammut schufen solche grasenden Tiere einst ein Steppe-Grasland-Ökosystem, das viel heller ist als die dunklen borealen Wälder, die heute dort wachsen. Dadurch reflektiert es die einfallende Sonnenstrahlung besser und schützt die dauerhaft gefrorene Schicht darunter vor Erwärmung. Außerdem zertrampeln die grasenden Tiere im Winter die Schneedecke und wühlen sie bei der Suche nach Futter auf, so dass die eisige Kälte den Permafrost besser erreicht und kühlt.

Ein Mann und seine Familie allein können die Welt aber nicht vor dem Klimawandel retten. Das verlangt eine globale Anstrengung, bei der jeder Mensch, jede Organisation und jeder Staat sich seiner Verantwortung stellt und alles dafür tut, den eigenen Kohlenstoff-Fußabdruck zu verkleinern. Die Kohlendioxidemissionen zu drosseln ist der einzige Weg für die Menschheit, der wechselseitigen Verstärkung von Erderwärmung und tauendem Permafrost entgegenzuwirken.

Wir sagen klipp und klar: Wenn die CO2-Emissionen mit der momentan projizierten Rate steigen, werden die borealen Seen Ende des Jahrhunderts zwischen 100 und 200 Millionen Tonnen Methan pro Jahr freisetzen - ein Vielfaches der 14 bis 35 Millionen Tonnen heute. Alle Methanquellen weltweit stoßen zusammen etwa 550 Millionen Tonnen dieses Treibhausgases pro Jahr aus, so dass der Permafrost, wenn wir sein Tauen nicht verhindern, weitere 20 bis 40 Prozent beisteuern und die globale Jahresmitteltemperatur um 0,32 Grad Celsius zusätzlich anheben wird. Die Folgen wären fatal. Um den Gehalt der Atmosphäre an Kohlendioxid zu reduzieren und so das Tauen des Permafrosts zu verlangsamen, müssen wir alle dem Elefanten im Porzellanladen entgegentreten: einer Menschheit, die hemmungslos fossile Treibstoffe verbrennt.


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BEDROHUNG AUS DER TIEFE

Nicht nur tauender Permafrost kann zu einem Methanproblem führen. Riesige Mengen des Treibhausgases sind auch in Eiskäfigen gefangen, die sich in weiten Bereichen am Meeresboden oder stellenweise an Land in mehreren hundert Meter Tiefe befinden. Wenn diese »Methanhydrate« schmelzen würden und das enthaltene Gas in die Atmosphäre entwiche, gäbe es sehr wahrscheinlich einen plötzlichen Klimawandel. Indizien in Meeressedimenten weisen darauf hin, dass eine solche Katastrophe vor 55 Millionen Jahren schon einmal stattfand - als Reaktion auf rasch steigende Wassertemperaturen.

Nach Ansicht einiger russischer Wissenschaftler lagern mehr als 1000 Milliarden Tonnen Methan am Grund des Festlandsockels vor Sibirien. Selbst wenn nur zehn Prozent davon entweichen würden, wäre das doppelt so viel wie die 50 Milliarden Tonnen, die der tauende Permafrost nach unserer Schätzung freisetzen könnte (siehe Haupttext). Eine Erwärmung der Tiefsee ist in der nahen Zukunft zwar nicht zu erwarten. Aber in letzter Zeit wurden im Flachwasser des Schelfbereichs hohe Konzentrationen von Methan registriert. Weitere Untersuchungen müssen nun erweisen, was die Quelle ist: Gashydrate oder, was eher zutreffen dürfte, sich zersetzendes organisches Material in Permafrost, der bis in den Festlandsockel hineinreicht.

Auch an Land lagern Linsen aus Methanhydrat unter der Permafrostschicht. Wenn diese am Grund von Thermokarstseen immer weiter taut, kann die Taufront fingerartig bis zu den Hydratvorkommen vordringen und so Kanäle zum Ausgasen schaffen. Meine Arbeitsgruppe untersucht zusammen mit Carolyn Ruppel und John Pohlman vom U.S. Geological Survey diese Möglichkeit.

Falls sich erweisen sollte, dass die Gashydrate eine akute Bedrohung darstellen, könnte man als bescheidene Gegenmaßnahme versuchen, das Methan aufzufangen und als Brennstoff zu nutzen, bevor es unkontrolliert in die Atmosphäre entweicht. In den weltweiten Methanhydratvorkommen steckt mehr Energie als in allen Erdgas-, Erdöl- und Kohlelagerstätten zusammen. Allerdings lassen sich vermutlich nur wenige davon rentabel abbauen, weil sie sehr kleinräumig über große Gebiete verteilt sind, was die Exploration und Gewinnung selbst bei einem Erdölpreis über 100 Dollar pro Barrel zu teuer macht. An einigen Orten aber könnten Methanhydrate in konzentrierter Form vorliegen, so dass sich der Abbau lohnen würde. Länder wie Japan, Südkorea und China, die ihre Ölimporte verringern wollen, investieren in Technologien zur Förderung dieser Vorkommen. Auch ConocoPhillips und BP prüfen, wie rentabel der Abbau bestimmter Gashydrate in den USA wäre.

Derzeit ist das Anzapfen von Methanhydraten noch umstritten. Gäbe es genügend fundierte Hinweise darauf, dass sie demnächst instabil werden und eine unkontrollierte Entgasung bevorsteht, wäre es auch im Interesse des Klimaschutzes, sie vorher gezielt abzubauen. Doch bislang deutet wenig darauf hin. Unter diesen Umständen würde der kommerzielle Abbau den von fossilen Brennstoffen angetriebenen Klimawandel nur verschärfen. Unter dem Aspekt der globalen Erwärmung sollten wir die Methan hydrate also vorerst lassen, wo sie sind.

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation (Kasten):
Umfangreiche Vorkommen von Methanhydraten, bei denen das Gas in Hohlräumen einer speziellen Kristallstruktur von Eis eingeschlossen ist, könnten sich bei Erwärmung plötzlich zersetzen. Dann würden riesige Mengen Methan in die Atmosphäre gelangen. Zwei denkbare Szenarien sind hier dargestellt. An Land könnten Finger aus aufgetautem Permafrost bis zu den Hydratvorkommen hinabreichen und Kanäle für die Entgasung öffnen (1). Über dem Festlandsockel lässt möglicherweise sich erwärmendes Meerwasser die dünne Permafrostdecke tauen, so dass sich die Gashydrate darunter zersetzen (2).


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Katey Walter Anthony ist Research Professor am Water and Environmental Research Center der University of Alaska in Fairbanks. Sie untersucht in Sibirien und Alaska die Freisetzung von Methan und Kohlendioxid aus Seen und tauendem Permafrostboden.


Literaturhinweise

Grosse, G. et al.: Assessing the Spatial and Temporal Dynamics of Thermokarst, Methane Emissions, and Related Carbon Cycling in Siberia and Alaska. NASA Carbon Cycle Sciences Project, April 2008 - März 2011.

Walter, K.M. et al.: Methane Bubbling from Siberian Thaw Lakes as a Positive Feedback to Climate Warming. In: Nature 443, S. 71-75, 7.9.2006.

Walter, K.M. et al.: Thermokarst Lakes as a Source of Atmospheric CH4 during the Last Deglaciation. In: Science 318, S. 633-636, 26.10.2007.

Walter, K.M. et al.: Understanding the Impacts of Icy Permafrost Degradation and Thermokarst-Lake Dynamics in the Arctic on Carbon Cycling, CO2 and CH4 Emissions, and Feedbacks to Climate Change. Project 0732735 for National Science Foundation/International Polar Year, Juli 2008 - Juni 2011.

Weblinks zu diesem Thema finden Sie unter www.spektrum.de/artikel/1030085.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 80-81:
Vom Boden eines arktischen Sees aufgestiegenes Methangas (weiß) ist im Eis eingeschlossen, das den See überzogen hat.

Abb. S. 82:
In weiten Landstrichen wird der Permafrostboden bis 2050 oder spätestens 2100 tauen, wenn die Erderwärmung unvermindert weitergeht. Dabei gelangen riesige Mengen Methan in die Luft, die den Klimawandel beschleunigen dürften.

Abb. S. 83 oben und unten:
Überall in Sibirien bilden sich Seen, weil die sich erwärmende Luft den zuvor gefrorenen Boden auftaut. Auf dem unteren Foto nehmen die Autorin (in der roten Jacke) und ihre Mitarbeiterin Louise Farquharson Proben von aufgeschlossenem Permafrost (blaugrau), der unter einer dünnen Decke nicht gefrorener Erde liegt und oft Dutzende von Metern in die Tiefe hinabreicht.

Abb. S. 85:
Im Rahmen ihrer Untersuchungen zur Bestimmung der Methanemissionen aus tauendem Permafrost sammeln die Autorin und ihr Mitarbeiter Dragos Vas Methan, das aus einem Loch in der Eisdecke eines Sees im Inneren Alaskas austritt. Das Gas ist leicht entzündlich.

Abb. S. 87:
Ein Rentierhirte repariert den Zaun des Pleistozänparks, den Wissenschaftler in Nordostsibirien angelegt haben. Auf einer Fläche von 160 Quadrat kilometern wurden hier grasende Tiere wie Jakuten-Pferde angesiedelt. Sie sollen für die Bewahrung und Ausdehnung des Graslands sorgen und so helfen, den Permafrost vor dem Tauen zu schützen.


© 2010 Katey Walter-Anthony, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 6/10 - Juni 2010, Seite 80 - 89
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veröffentlicht im Schattenblick zum xx. September 2010