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FORSCHUNG/628: Nachtaktive Waschmittel mit Nebenwirkungen (FZJ)


Forschungszentrum Jülich GmbH - 24. Oktober 2016

Nachtaktive Waschmittel mit Nebenwirkungen


Jülich, 24. Oktober 2016 - Nitratradikale in der Luft reinigen nachts die Atmosphäre. Jülicher Atmosphärenforscher haben, gemeinsam mit Kollegen aus zwanzig internationalen Forschungseinrichtungen, jetzt entdeckt, dass dies wahrscheinlich ungeahnte Nebenwirkungen zur Folge hat. Anders als bisher vermutet, führt die Reaktion der Nitratradikale mit Kohlenwasserstoffen dazu, dass sich verstärkt Partikel in der bodennahen Troposphäre bilden. Da auf diesem Gebiet bisher kaum systematische Untersuchungen existieren, sind die möglichen Auswirkungen auf Luftqualität und Klima schwer einzuschätzen. Die Ergebnisse ihrer Studie veröffentlichten die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift Geophysical Research Letters.


Das Bild zeigt eine mehrspurige Fahrbahn bei Nacht mit einigen Autos, rechts und links eine Mauer entlang der Straße, dahinter Häuser und Bäume - Foto: © Forschungszentrum Jülich

Eine von Jülicher Atmosphärenforschern initiierte Studie hat gezeigt, dass die nächtliche Atmosphärenreinigung durch Nitratradikale wahrscheinlich ungeahnte Nebenwirkungen hat. Anders als bisher vermutet, führt sie zu verstärkter Partikelbildung in der bodennahen Troposphäre. Insbesondere in Regionen mit viel Industrie ist die Masse an organischen Nitraten im Aerosol höher.
Foto: © Forschungszentrum Jülich

Das kleine Molekül heißt Nitrat und besteht aus einem Stickstoffatom und drei Sauerstoffatomen. In der Luft findet es sich in einer besonderen Form, mit einem ungepaarten Elektron. Das macht es sehr reaktionsfreudig: ein sogenanntes Radikal. Das Nitratradikal ist enorm wichtig für die chemische Zusammensetzung der Luft - allerdings nur in der Nacht. Tagsüber wird es durch den ultravioletten Anteil des Sonnenlichts zerlegt. In der Dunkelheit jedoch sammelt es sich in der Atmosphäre an und reagiert mit Kohlenwasserstoffen - es "wäscht" sie aus der Atmosphäre. Zusammen mit Ozon und den Hydroxyl-Radikalen, die die gleiche Aufgabe bei Tageslicht übernehmen, verhindert es so, dass sich Spurengase in der Luft anhäufen.

Eine von Jülicher Forschern initiierte internationale Studie hat nun herausgefunden, dass die nächtliche Atmosphärenreinigung wahrscheinlich Nebenwirkungen von bisher ungeahntem Ausmaß hat: Die von den Nitratradikalen und Kohlenwasserstoffen gebildeten Verbindungen, quasi die Abfallprodukte der Reinigung, sorgen dafür, dass sich mehr Partikel in der Luft bilden. "Die Studie zeigt, dass organische Nitrate einen bedeutenden Anteil des Feinstaubs in der bodennahen Atmosphäre ausmachen", erklärt Troposphärenforscherin Prof. Astrid Kiendler-Scharr vom Jülicher Institut für Energie- und Klimaforschung. "Etwa vierzig Prozent der gemessenen sogenannten Submikron-Nitrat-Aerosole sind organische Nitrate."

Erste Studie dieser Art

Für die Studie erfassten Wissenschaftler von zwanzig internationalen Forschungseinrichtungen Daten über Aerosole in der Troposphäre, der untersten Schicht der Atmosphäre. In drei Messphasen von jeweils mehreren Wochen sammelten sie an insgesamt 18 Messorten in ganz Europa mit speziellen Massenspektrometern zeitlich hochaufgelöste Informationen über deren Zusammensetzung. So konnten sie zeigen, dass organische Nitrate häufig Bestandteil der Aerosole sind.

Die Studie ist in ihrem Umfang die erste ihrer Art. Denn bis vor ein paar Jahren galt als sicher, dass organische Nitrate nicht zur Partikelbildung in der Atmosphäre beitragen. Der Grund dafür: Nitratradikale und Kohlenwasserstoffe sollten eigentlich gar nicht aufeinandertreffen. Nitratradikale in der Atmosphäre entstehen aus Stickstoffdioxid, dessen Hauptquelle die Verbrennung fossiler Energieträger ist - Benzin, Gas, Kohle und Öl. Atmosphärische Nitratradikale sind also menschengemacht, eine Folge der modernen Zivilisation. Die Kohlenwasserstoffe dagegen sind hauptsächlich biogenen Ursprungs, Abfallprodukte des pflanzlichen Stoffwechsels. "Jetzt verdichten sich allerdings Hinweise darauf, dass diese Luftmassen sehr wohl aufeinandertreffen, insbesondere in Europa, wo die Siedlungsdichte größer ist", so Kiendler-Scharr. "Das hat zur Folge dass komplexere Situationen erfasst werden müssen um Luftqualität zu verstehen."

Mögliche Auswirkungen auf Klima und Luftqualität

Die konkreten Auswirkungen dieser Entdeckung sind schwer einzuschätzen. Bis jetzt haben sich Laboruntersuchungen und Simulationsexperimente auf andere Partikelquellen konzentriert. Über den Einfluss von organischen Nitraten auf Klima- und Gesundheitseffekte von Aerosolen weiß man deshalb nur wenig. "Und alle Messungen haben am Boden stattgefunden, daher lassen sich nur Aussagen über bodennahe Luftmassen machen", so Kiendler-Scharr. "Sowohl die Lebensdauer der gebildeten Substanzen als auch ihr Vordringen in die höhere Troposphäre sind nicht sicher bekannt, deshalb sind klimarelevante Auswirkungen nur schwer vorherzusagen."

Über ortsabhängige Modellierungen analysierten die Wissenschaftler auch, wie repräsentativ ihre Messungen sind. Sie fanden ein generelles Muster: In Regionen mit viel Industrie, wo man Stickoxidemissionen erwartet, ist die Masse an organischen Nitraten im Aerosol höher. Doch Astrid Kiendler-Scharr gibt zu bedenken: "Es gibt durchaus auch Abweichungen und manche Prozesse sind noch nicht verstanden. Unsere Daten bieten jetzt die Möglichkeit Modelle zu überprüfen und zu verbessern."


Video-Statement zur Studie
Prof. Astrid Kiendler-Scharr vom Jülicher Institut für Energie- und Klimaforschung fasst die Ergebnisse der Studie zur Nitratchemie zusammen. Sie finden das Video auch auf YouTube.
https://youtu.be/nsZbAo_xQN8

Originalpublikation:
Organic nitrates from night-time chemistry are ubiquitous in the European submicron aerosol, by A. Kiendler-Scharr et al, DOI: 10.1002/2016GL069239

Weitere Informationen:
Institut für Energie- und Klimaforschung, Troposphäre (IEK-8)
http://www.fz-juelich.de/iek/iek-8/DE/Home/home_node.html

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Quelle:
Pressemitteilung, 24.10.2016
Herausgeber: Forschungszentrum Jülich GmbH, 52425 Jülich
Mitglied der Hermann von Helmholtz Gemeinschaft
Deutscher Forschungzentren (HGF)
Telefon: 02461/61-46 61, Fax: 02461/61-46 66
E-Mail: info@fz-juelich.de
Internet: www.fz-juelich.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2016

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