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FORSCHUNG/226: Mit Mathematik gegen Blattläuse (Bayer research)


research - Das Bayer-Forschungsmagazin, Ausgabe 20 - November 2008

Mit Mathematik gegen Blattläuse
Computersimulation für effektive Pflanzenschutzmittel


Zur Entwicklung neuer Pflanzenschutzmittel brauchen Forscher umfangreiches Wissen aus Chemie und Biologie. Aber auch die Computersimulation hilft beim Design optimaler Wirkstoffe: Mit neuartigen Pflanzen- und Insektenmodellen tragen Physiker und Quantenchemiker bei Bayer CropScience dazu bei, dass sich Blattläuse oder Weiße Fliegen zum Beispiel in Kartoffelfeldern noch gezielter bekämpfen lassen.


Die Pflanzen, die Dr. Walter Schmitt in den vergangenen Jahren gezüchtet hat, sind eckig. Sie bestehen aus kleinen grünen Kästen voller Zahlen und schwarzer Striche und brauchen weder Wasser noch Sonnenlicht. Seine Kartoffel- und Gemüsepflanzen wurzeln auch nicht in Gewächshauserde, sondern auf der Festplatte eines Computers bei Bayer CropScience in Monheim - als mathematische Modelle. Schmitt ist Physiker und darauf spezialisiert, die Komplexität der Natur in einfache mathematische Formeln, Regeln und Software zu pressen.

In seinem virtuellen Fundus finden sich neben den Pflanzenmodellen auch solche, die den Abbau chemischer Verbindungen in Ackerböden oder sogar deren Transport durch den Raupendarm berechnen. Die Computersimulationen liefern Angaben darüber, wie gut sich eine Substanz in verschiedenen Pflanzenteilen oder im Insektenkörper anreichert. Fachleute können daraus Rückschlüsse ziehen, wie effektiv ihr Molekül wirkt - aber eben auch, an welcher Stelle die Transportkette hakt, wenn es im Experiment versagt hat. Schmitt berechnet auch, ob ein Wirkstoff im feuchten Boden haften bleibt und gar nicht erst in die Pflanze eindringt. Wichtigster Parameter ist dabei die Molekülgröße, denn zu große Verbindungen können die Zellmembranen der Pflanzen meist überhaupt nicht durchdringen. Der Bayer-Forscher hat Werkzeuge entwickelt, mit denen sich zeitraubende Experimente, Messungen oder Züchtungsversuche verkürzen oder gar ganz einsparen lassen. Meist geht es dabei um neue Pflanzenschutzmittel - Herbizide, Insektizide oder Fungizide, die seine Chemiker-Kollegen entwickeln.


Den optimalen Weg für den Wirkstoff finden

Moderne Pflanzenschutzmittel, beispielsweise Insektizide, bekämpfen gefräßige Plagegeister heute sehr präzise: "Die Wirkstoffe sollen nur die Schadinsekten treffen, nicht aber die Nützlinge", sagt Schmitt. Doch die Entwicklung neuer, verbesserter Wirkstoffe erfordert viel Fingerspitzengefühl: Zwar wissen Chemiker recht genau, welche Substanzklassen sich für bestimmte Insekten eignen. Schon kleine Veränderungen eines Moleküls, beispielsweise eines Seitenarms, können aber die Wirkung einer Substanz radikal verändern und einen aussichtsreichen Kandidaten völlig wirkungslos machen.

Schmitts Simulationsprogramm kommt häufig ins Spiel, wenn eine neue vielversprechende Substanz im Experiment versagt und beispielsweise die Blattlaus munter weiterkrabbelt. Chemiker können das Problem in solchen Fällen allein durch Nachdenken kaum knacken. Denn der Weg des Wirkstoffs vom Spritztropfen auf dem Blatt bis in die Zellen des saugenden Insekts ist weit und komplex: Nach dem Versprühen dringt die Substanz über Blätter oder Wurzeln in die Pflanze. Dabei muss sie Hürde Nummer eins überwinden: die äußeren Schutzhüllen des Gewächses wie die Wachsschicht (Kutikula) auf dem Blatt oder die Epidermis an der Wurzel. Im Pflanzeninnern warten dann weitere Barrieren auf das Mittel. Denn dort reist der Wirkstoff durch Zellen und Transportkanäle, in denen verschiedene pH-Werte herrschen. Diese Bedingungen können den Stoff verändern oder sogar nutzlos machen. Letztlich muss der Wirkstoff so komponiert sein, dass er sich dort sammelt, wo ein Insekt saugt oder frisst - beispielsweise an den Stängeln frischer Blätter. Landet er endlich im Darm des Schädlings, wartet aber erneut ein Wechselbad unterschiedlicher Säuren auf ihn. Schmitt hat diese Odyssee vereinfacht, aber dennoch realitätsnah in eine mathematische Form gegossen. Dazu musste der Bayer-Forscher ein Programm entwerfen, das klein und schnell genug ist, um innerhalb von Minuten Ergebnisse auszuwerfen, aber dennoch verlässliche Aussagen liefert. Die Software benötigt nur etwa 30 bis 40 Gleichungen und eine Handvoll chemischer Molekül-Parameter. Im Modell sind alle Stationen, die der Wirkstoff passieren muss, als kleine bunte Kästen dargestellt.

Wie solche Computersimulationen dazu beitragen, die Aufnahme und den Transport chemischer Verbindungen besser zu verstehen, zeigt eine neu entwickelte Insektizidklasse: die Ketoenole. Eines dieser Insektizide kommt derzeit unter dem Namen Movento® in den Handel. Es wirkt besonders gezielt gegen saugende Insekten wie etwa Blattläuse, Weiße Fliegen, Schild- und Rebläuse und schützt so beispielsweise Kartoffel- und Gemüsekulturen. Die Schädlinge nehmen den Wirkstoff mit dem Pflanzensaft auf. Er muss also zunächst über die Blätter in die Pflanzenzellen eindringen. Movento® ist eine schwache Säure, die die Kutikula und die Zellmembranen des Blattes nur schwer durchdringen kann. Deshalb trägt das Molekül zunächst eine Art Tarnung, eine kleine Seitengruppe. Die Wachsschicht lässt den Wirkstoff daher passieren, und er gelangt in die Lebens adern der Pflanzen - die Leitungsbahnen. Davon gibt es zwei verschiedene Arten: Phloem und Xylem. Im Xylem werden Wasser- und Mineralstoffe von den Wurzeln wie in einem Expresslift nach oben in die Spitze der Pflanze transportiert. Der Xylem-Strom verursacht auch das Tropfen an frisch geschnittenen Zweigen. Im Phloem hingegen geht es sehr viel gemächlicher zu. In diesem Kanalsystem fließen die in den ausgebildeten Blättern per Photosynthese erzeugten Zucker- und Nährstoffe nicht nur abwärts zu den Wurzeln, sondern auch in die jungen Blätter. Und damit direkt in die Speisekammer saugender Insekten.


Schädliche Blattsauger als Computermodell

Wer Blattläuse zielgenau bekämpfen will, tut also gut daran, seinen Wirkstoff ins Phloem zu schmuggeln. Genau das geschieht bei Movento®. Im Pflanzeninnern verliert das Molekül seine Maske: Der tarnende Seitenarm wird chemisch abgespalten. Die Substanz verwandelt sich in eine schwache Säure, die sich im Phloem-Strom anreichert. So treibt der Wirkstoff zielsicher auf den Saugstachel der Insekten zu. Über den Darm der Blattsauger gelangt er dann schnell in den ganzen Körper, wo er den Fettstoffwechsel blockiert. Movento® ist das erste Insektizid überhaupt, das in den Phloem-Gefäßen durch die komplette Pflanze transportiert wird. Mit seinen Modellen fand Schmitt heraus, welche Eigenschaften nötig sind, damit ein solcher Transport überhaupt möglich wird. Er gab damit den Chemikern Hinweise, wie der Wirkstoff variiert werden muss, um dies zu erreichen.

Das Beispiel zeigt, wie komplex die Suche nach dem idealen Wirkstoff ist, aber auch wie präzise und effektiv moderne Insektizide wirken: "Vor Jahren noch musste man auf einem Hektar Ackerland Wirkstoffe in Kilogrammmengen ausbringen", sagt Schmitt. "Heute genügen meist schon wenige Gramm." Schmitts Expertise ist beispielsweise dann gefragt, wenn eine Substanz bereits im Labor synthetisiert wurde und im anschließenden Experiment Probleme macht.

Sein Monheimer Kollege Dr. Michael Edmund Beck hingegen ist häufig bereits an der Entwicklung neuer Substanzen beteiligt, bevor diese hergestellt werden. Beck ist Quantenchemiker und ebenfalls Computer-Modellierer. Er berechnet sogenannte physikochemische Eigenschaften von Molekülen oder forscht in Datenbanken nach interessanten Substanzen. Er hilft dabei, die Riesen-Palette möglicher Wirkstoff-Moleküle einzuschränken, die Spreu vom Weizen zu trennen. Am Computer kann er das im Zweifelsfall schneller als der Kollege im Labor. Eines seiner digitalen Werkzeuge ist die sogenannte QSAR - Quantitative-Structure-Activity-Relation - eine "Quantitative Struktur-Wirkungsbeziehung". Das Wort-Monstrum beschreibt die quantitative Beziehung beispielsweise zwischen einer chemischen, biologischen oder physikalischen Eigenschaft eines Moleküls mit der chemischen Struktur. Man berechnet also anhand der verschiedenen Merkmale eines Moleküls, welche Eigenschaften es vermutlich hat und wie es wirkt.


Quantenchemie dient auch dem Pflanzenschutz

Erfahrene Chemiker können solche Struktur-Wirkungsbeziehungen auch ohne die Hilfe von QSAR-Programmen finden. Aber Computermodelle liefern wertvolle Zusatzinformationen. Denn mittels dieser Methode entdecken die Forscher beispielsweise Moleküleigenschaften, die sie im Experiment gar nicht oder nur mit extrem hohem Aufwand herausfinden könnten. Vor allem lassen sich mit Modellen Eigenschaften von Molekülen berechnen, die noch gar nicht synthetisiert wurden und nur in der Phantasie der Chemiker existieren. So wie bei den Ketoenolen. Für die Berechnung der Säurestärke, des sogenannten pKa-Werts, musste Beck eigens sein QSAR-Verfahren aufrüsten.

Ketoenole besitzen Protonen, die munter über das Molekül wandern und an ganz verschiedenen Stellen sitzen können. Von ihrer Position hängt aber beispielsweise ab, wie ausgeprägt der Säurecharakter des Moleküls ist - und damit seine Tendenz ins Phloem zu wandern. Anfangs versuchte Beck, die Protonenbewegung mit herkömmlichen Programmen zu berechnen. Aber ganz gleich, mit welchen Ketoenol-Varianten er die Software fütterte, die Simulationen lieferten stets fast identische pKa-Werte - was nicht der experimentellen Beobachtung entsprach. Dann packte er das Thema quantenchemisch an und berechnete fortan ganz detailliert für jede Molekülvariante, welche Positionen der Protonen im Molekül energetisch günstig sind und deshalb bevorzugt auftreten. Den Chemikern konnte Beck letztlich wertvolle Hinweise geben, wie Moleküle aufgebaut sein müssen, damit sie den optimalen Phloem-pKa-Wert besitzen.

Aber der Quantenchemiker weiß, dass ein Modell allein wenig hilft. "Man benötigt stets das Wissen des ganzen Projektteams, um die richtigen Fragen zu stellen und die Computer entsprechend zu füttern", so Beck. Aber inzwischen hat sich schon oft gezeigt, dass der Computer tatsächlich wichtige Hilfestellungen liefern kann. "Und besser als der Zufall sind wir auf jeden Fall", sagt Beck mit einem Augenzwinkern.


www.zbh.uni-hamburg.de/research/AMD/laityTexts.php
Die Seite der Universität Hamburg bietet verständliche weiterführende Texte zum Thema.


Nachgefragt
Die Entwicklung beschleunigen

Prof. Dr. Matthias Rarey ist geschäftsführender Direktor des Zentrums für Bioinformatik an der Universität Hamburg. "research" sprach mit dem Informatiker über die Bedeutung der Bioinformatik für die Forschung.


Welche Disziplinen neben der Pflanzenschutzforschung profitieren noch von mathematischen Modellen der Bioinformatik?

Die Bioinformatik hilft bei der Entwicklung vieler Produkte, von Medikamenten und Pflanzenschutzmitteln bis zu Enzymen für Waschmittel, die schon bei niedrigen Temperaturen Fette und Schmutz aus der Kleidung lösen. Das größte Anwendungsgebiet ist aber die Pharmaforschung. Letztlich nutzt man die Bioinformatik aber in allen Bereichen der modernen Lebenswissenschaften, auch in der sogenannten Weißen Biotechnologie, die Chemikalien unter anderem mithilfe von Bakterien herstellt - beispielsweise Biokatalysatoren, die chemische Reaktionen beschleunigen.

Wie verlässlich sind die mathematischen Modelle?

Bioinformatik und Computerverfahren funktionieren, indem sie von experimentellen Daten lernen, aus denen sie Regeln ableiten. Deshalb sind sie stets nur so gut wie die Datenbasis. Wie verlässlich die Modelle sind, hängt auch davon ab, welche Eigenschaften man betrachtet. Grundlegende Merkmale eines Moleküls wie seine Säurestärke kann man besser voraussagen als sein Verhalten in einem biologischen System. Eine Modellierung am Computer kann die Entwicklung einer Substanz deutlich abkürzen und damit Kosten sparen. Grundsätzlich unbekannte, nicht verstandene Prozesse lassen sich mit dem Computer aber nicht modellieren. Es ist beispielsweise extrem schwierig, Modelle zu entwerfen, mit denen man die Wirkung eines Moleküls auf einen ganzen Organismus vorhersagen kann. In der Realität kann eine kleine Änderung im Molekül die Wirkung einer Substanz völlig verändern. Eine giftige Substanz kann plötzlich ungiftig werden oder umgekehrt.

Was wird die Biomathematik in Zukunft leisten können?

In einigen Bereichen werden wir künftig vielleicht so verlässliche Vorhersagen machen können, dass man die experimentelle Arbeit auf ein Minimum beschränken kann. Aber ganz ohne Experiment wird es auch in den nächsten 30 Jahren nicht gehen. Ein Pflanzenschutzmittel oder Medikament vom Computer direkt aufs Feld oder in den Patienten zu übertragen, das wird wohl noch lange Zeit Fiktion bleiben.


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Quelle:
research - Das Bayer-Forschungsmagazin, Ausgabe 20, November 2008, S.
70-74
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2009