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AUEN/084: Zwischen Wasser und Land (UFZ-Newsletter)


Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
UFZ-Newsletter April 2013

Zwischen Wasser und Land

Von Mathias Scholz



Das vielstimmige Geschnatter ist ein gutes Zeichen. Genau wie die tiefen, melancholischen Rufe, die an Posaunenklänge erinnern. Das Roßlauer Oberluch in der Nähe der Stadt Dessau-Roßlau hat sich in letzter Zeit zu einem beliebten Winterquartier für Wasservögel gemausert. Etliche bedrohte Entenarten verbringen hier ebenso die kalte Jahreszeit wie große Gruppen von Singschwänen mit ihren Posaunenstimmen.

Dabei hatte das Vogel-Dorado an der Mittleren Elbe noch vor ein paar Jahren nicht unbedingt zu den Schmuckstücken unter Deutschlands Auenlandschaften gehört. Deiche zwängten den Fluss in ein enges Korsett, die Auenwälder früherer Jahrhunderte waren zahlreichen Äckern gewichen. Dann aber beschloss das Land Sachsen-Anhalt, der Elbe an dieser Stelle wieder mehr Raum zu geben. Statt den marode gewordenen Deich an alter Stelle zu sanieren, wurde er ein ganzes Stück vom Gewässer weg Richtung Stadt verlegt.

Das alte Fluss-Korsett haben Bagger dann im Jahr 2006 an drei Stellen durchbrochen. Seither ist zumindest ein Teil der einst trockengelegten Aue wieder an das natürliche Auf und Ab von Hoch- und Niedrigwasser angebunden. Überschwemmungen sind dort wieder erlaubt. Doch davon profitieren nicht nur Singschwäne und Co., sondern auch der Mensch. "Eine funktionierende Aue bringt Leistungen, die durchaus auch wirtschaftlich interessant sind", sagt Mathias Scholz, der bereits seit Ende der 1990er Jahre in den deutschen Flussauen als Wissenschaftler unterwegs ist und seit vielen Jahren auch die Forschungsprojekte des UFZ in diesem Bereich koordiniert. Mit seiner Aussage spielt er auf eine gerade fertiggestellte Studie an, in der er gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern innerhalb und außerhalb des UFZ erstmals den gesellschaftlichen Nutzen der deutschen Flussauen ermittelt hat - und für die die über Jahre kontinuierlich gesammelten Daten eine wichtige Basis sind.


Einmal zwischenlagern bitte!

Inzwischen ist es kein Geheimnis mehr, dass naturnahe Auen einen wertvollen Beitrag zum Hochwasserschutz leisten. Wenn ein Fluss über die Ufer tritt, lässt er einen Teil seiner Fluten im Überschwemmungsgebiet zurück. Das nimmt der Hochwasserwelle einen Teil ihrer Wucht und lässt die flussabwärts gelegenen Pegel nicht ganz so hoch klettern. So mancher Kubikmeter Wasser schwappt dann zwischen Auenbäumen und Röhricht statt in Straßen und Kellern. Und das ist zweifellos die billigere Alternative. Eine intakte Flusslandschaft kann aber nicht nur gefährliche Hochwasserspitzen kappen. In ihren Mooren, Auenböden und Auenwäldern speichert sie auch große Mengen Kohlenstoff. Und damit erspart sie dem Klima einiges an Treibhausgasen. Allerdings funktioniert das nur, wenn die Flächen nicht zu intensiv genutzt werden: Ein Acker speichert deutlich weniger Kohlenstoff als eine Wiese oder ein Wald. Außerdem braucht eine intakte Aue regelmäßige Überschwemmungen, weil sich ansonsten die chemischen und biologischen Prozesse in den Böden so verändern, dass sie statt Kohlenstoff einzulagern, Treibhausgase freisetzen. Die Forscher schätzen, dass entwässerte, intensiv genutzte Auen mit Moorböden pro Jahr so viel CO2 in die Atmosphäre abgeben, wie die Fahrzeuge von mehr als einer Million Autofahrern.

Auch viele andere Talente der Flusslandschaften können sich hinter den Deichen nicht mehr richtig entfalten. Das zeigen die Untersuchungen zur Nährstoffretention, die UFZ-Geoökologin Christiane Schulz-Zunkel gemacht hat: "Nur regelmäßig überflutete Flächen halten Stickstoff- und Phosphorverbindungen zurück, die über menschliche Aktivitäten in unsere Flüsse gelangen." Jede Tonne Stickstoff und Phosphor, die eine Aue auf diese Weise aus dem Flusswasser filtert, ist ein Gewinn. Schließlich haben neben vielen Flüssen auch die Nord- und Ostsee mit einer kräftigen Überdüngung zu kämpfen, die vor allem auf das Konto der Landwirtschaft geht. Zu hohe Nährstoffgehalte führen zu Algenblüten und Sauerstoffmangel - eine Entwicklung, die viele Wassertiere das Leben kosten kann.


Der Wert der Reste

Mit jedem Deich, der einen Fluss von seiner Aue abschneidet, gehen also wichtige Speicher für Wasser, Treibhausgase und Nährstoffe verloren. Und auch für viele Pflanzen und Tiere ist eine solche Landschaft nicht mehr attraktiv. "Auen sind besonders artenreiche Lebensräume", sagt Mathias Scholz. "Schließlich bieten sie auf engstem Raum ein abwechslungsreiches Mosaik von Biotopen für die verschiedensten Ansprüche." Viele dieser an ein Auenleben angepassten Arten brauchen zumindest ab und zu "nasse Füße". Bleibt das aus, sind die Spezialisten und Lebenskünstler nicht mehr konkurrenzfähig und müssen das Feld räumen. Ausgebootet von Allerweltsarten.

Solche negativen Entwicklungen haben Deutschlands Auen in großem Stil erlebt. Laut einer Studie des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) sind bundesweit zwei Drittel der ursprünglichen Überschwemmungsflächen verloren gegangen. Aber was ist mit dem Rest? Welche Funktionen können diese Ökosysteme heute noch erfüllen? Was sind ihre Leistungen wert? Und kann man ihre Talente vielleicht besser nutzen als bisher? Mit solchen Fragen beschäftigen sich die UFZ-Wissenschaftler nicht nur im Roßlauer Oberluch. Zusammen mit Kollegen vom Institut biota in Bützow bei Rostock haben sie sich im Auftrag des BfN an ein ehrgeiziges Projekt gewagt: Sie haben untersucht, welchen gesellschaftlichen Nutzen in Form von sogenannten Ökosystemleistungen Deutschlands Auen insgesamt erbringen.


Herausforderung Auenforschung

So eine Bilanz zu erstellen, ist laut Aussage der Wissenschaftler ziemlich schwierig. Zwar sind die grundsätzlichen Funktionen einer Aue bekannt. Das Problem besteht darin, all diese Vorgänge in Zahlen zu fassen. Von konkreten Euro-Werten für die einzelnen Leistungen ganz zu schweigen. Es gibt zwar durchaus detaillierte Studien zur Hochwasserrückhaltung und zum Artenspektrum, zu den Nährstoffkreisläufen oder zum Kohlenstoffdepot in Auen. Nur beschränken die sich normalerweise auf ein kleineres Gebiet an einem bestimmten Fluss. Selbst in diesem Maßstab sind die komplexen Vorgänge schwer zu durchschauen.

"Zudem ist die Feldforschung in Auen eine echte Herausforderung", sagt Mathias Scholz. "Da wartet man erst mit viel Geduld auf ein Hochwasser, dessen Folgen man untersuchen will. Dabei ist keineswegs gesagt, dass jedes oder auch nur jedes zweite Jahr eins kommt. Und wenn es dann endlich so weit ist, drohen die Fluten, die teure Messtechnik mit sich zu reißen." Also gilt es, die Geräte entweder hochwassersicher zu platzieren - oder sie im Ernstfall so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen.

Ein solcher Aufwand aber lässt sich unmöglich flächendeckend in sämtlichen Auen Deutschlands betreiben. Deshalb beschränken die UFZ-Forscher ihre Geländearbeit auf beispielhafte Gebiete, wie etwa an der Mittleren Elbe, der Bode oder der Weißen Elster.

Für ihre deutschlandweite Studie haben sie zusätzlich Informationen ausgewertet, die flächendeckend verfügbar sind. Der Auenzustandsbericht des BfN enthält zum Beispiel Angaben darüber, wo es noch Überschwemmungsflächen gibt und welche Anteile der Auen wie genutzt werden. Zudem hat das BfN zahlreiche Informationen über jene besonders wertvollen Gebiete gespeichert, die Teil des europäischen Schutzgebietsnetzes "Natura 2000" sind - eine Fundgrube an Informationen über die Vorkommen auentypischer Arten und Biotope. Interessant sind auch bodenkundliche Karten, aus denen sich Hinweise auf die Kohlenstoffspeicherung und den Nährstoffgehalt eines Gebietes ableiten lassen. Und so gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Karten und Statistiken, etwa zu den unterschiedlichen Formen der Landnutzung oder der Häufigkeit und Intensität von Überflutungen, die mehr über den Zustand und die Leistungen der deutschen Flusslandschaften verraten.


Bilanz in Zahlen

Insgesamt haben die Forscher Informationen über 15.000 Quadratkilometer Auenfläche an 79 Flüssen ausgewertet und mit Freilanddaten abgeglichen. Hydrologen und Biologen haben dabei ebenso mitgearbeitet wie Statistiker und Modellierer, Ökonomen und Sozialwissenschaftler. Aus zahllosen Mosaiksteinen haben sie das Bild eines zwar deutlich geschädigten, aber immer noch sehr wertvollen Ökosystems zusammengesetzt. So schützen die untersuchten Auen bei Hochwasser allein in Deutschland Vermögenswerte von mehr als 300 Milliarden Euro. Als Nährstoffspeicher ziehen sie jedes Jahr rund 42.000 Tonnen Stickstoff und 1.200 Tonnen Phosphor aus dem Verkehr, wenn die Flüsse über die Ufer treten. Das entspricht etwa sieben bis neun Prozent des Stickstoffs und elf Prozent des Phosphors, den die deutschen Flüsse insgesamt in einem Jahr mit sich schleppen. An der Elbe haben UFZ-Wissenschaftler eine Untersuchung zur Phosphor-Sedimentation durchgeführt und sind dabei auf noch höhere Werte gekommen. Dieser Fluss deponiert fast die Hälfte seiner Jahresfracht in der Aue. Und das kostenlos. Wollte man einen ähnlichen Effekt durch Reduktion der diffusen Stoffeinträge in der Landwirtschaft erzielen, müssten nach Berechnung der Ökonomen derzeit rund 500 Millionen Euro pro Jahr investiert werden. Auch der Beitrag der Auen zum Klimaschutz kann sich sehen lassen. Den Kohlenstoffvorrat in den heutigen Überflutungsauen schätzen die Projektmitarbeiter auf 157 Millionen Tonnen, von denen der größte Teil in den Mooren steckt. "Das alles sind konservative Schätzungen", sagt Mathias Scholz. "Tatsächlich bringen die verbliebenen Auen wahrscheinlich noch deutlich höhere Leistungen."


Investition in die Zukunft

Was müssen diese Ökosysteme erst geschafft haben, bevor der Mensch ihnen mit Deichen und Entwässerungstechnik zu Leibe rückte und mehr als 80 Prozent der Auenwälder abholzte? Auch mit dieser Frage haben sich Mathias Scholz und seine Kollegen beschäftigt. Im Vergleich zum ursprünglichen Zustand hat sich die Lage demnach massiv verschlechtert. Bei der Hochwasserrückhaltung schätzen die Forscher den Verlust auf 65 Prozent, die Nährstoff-Falle und das Kohlenstoffdepot in den Auenwäldern haben jeweils 80 Prozent ihrer Effektivität verloren. "Das muss aber natürlich nicht so bleiben", betont Mathias Scholz. Deichverlegungen und Renaturierungsprojekte, das Anpflanzen neuer Auenwälder und eine verträglichere Bewirtschaftung der Flusslandschaften - es gibt viele Möglichkeiten, die Leistungsfähigkeit der deutschen Auen zu verbessern. Eine gute Investition in die Zukunft wären sie allemal.

Im Roßlauer Oberluch hat sich seit der Deichverlegung auch schon einiges getan. Nicht nur bei der Zahl der gefiederten Wintergäste. Die Elbe hat dort 140 Hektar ihrer alten Überflutungsflächen zurück gewonnen, die bei Hochwasser 3,6 Millionen Kubikmeter Wasser speichern können. Viele Äcker wurden in Grünland umgewandelt, neue Gewässer sind entstanden, die sich bei Amphibien von der Rotbauchunke bis zum Moorfrosch großer Beliebtheit erfreuen. Und auf 34 Hektar Flusslandschaft wächst hier neu gepflanzter Auenwald. Bis der wieder mit knorrigen Eichen und Urwaldcharakter aufwarten kann, wird es allerdings wohl noch mehr als hundert Jahre dauern. "Von heute auf morgen lässt sich eine naturnahe Aue nicht wiederherstellen", sagt Mathias Scholz. "Das ist eine Generationenaufgabe." Doch es lohnt sich, diese Herausforderung anzunehmen. Auch wirtschaftlich.


UFZ-ANSPRECHPARTNER
Dipl.-Ing. Mathias Scholz
Dept. Naturschutzforschung
e-mail: mathias.scholz@ufz.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Mit der Deichöffnung im Jahr 2006 wurde eine 140 Hektar große Altaue im Roßlauer Oberluch wieder an das natürliche Hochwassergeschehen der Elbe angebunden. Zahlreiche Tierarten, wie diese Singschwäne, haben die neu geschaffenen Überschwemmungsflächen schon voll in ihren Besitz genommen. UFZ-Wissenschaftler begleiten diese erste realisierte Deichrückverlegung an der deutschen Elbe wissenschaftlich.

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Quelle:
UFZ-Newsletter April 2013, Seite 2 - 3
Herausgeber:
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2013