Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → LEBENSRÄUME

FORSCHUNG/272: Ökosystemforschung - Entscheidende Faktoren für den Artenschwund (UFZ-Spezial)


Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
UFZ-Spezial Dezember 2009: In Sachen Klimawandel

ALARM: Klimawandel reisst Löcher in das Netz des Lebens


Im EU-Projekt ALARM haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 35 Ländern erstmals Methoden entwickelt, um Artenvielfalt in europäischen Landschaften systematisch zu erfassen und die entscheidenden Faktoren für den beobachteten Artenschwund zu identifizieren: Dabei treibt der regionale Klimawandel die Dynamik an, aber auch Landnutzung und Umweltchemikalien wirken sich aus. Die Folgen des Artenverlustes sind komplex und schwer abzuschätzen. Bei bestäubenden Insekten führt der Verlust zu Ernterückgängen, deren ökonomischer Wert sich beziffern lässt.

"Artenvielfalt ist genauso wichtig wie das Klima, wenn es um die Ernährung der Menschheit geht, aber uns fehlen räumlich und zeitlich gut aufgelöste Daten zu sehr vielen Tier- und Pflanzenarten, um genauer vorhersagen zu können, wie sich die Ökosysteme entwickeln", erklärt Dr. Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ. Mit dem EU-Projekt ALARM ist es gelungen, einen ersten Überblick über wichtige Lebensräume Europas und ihre spezifischen Probleme zu schaffen. ALARM steht für "Assessing LArge scale environmental Risks for biodiversity with tested Methods". Settele hat das EU-Projekt, das zwischen 2004 und 2009 mit rund 14 Millionen Euro von der EU gefördert wurde (Gesamtkosten: 24 Millionen Euro), in enger Kooperation mit sechs Kollegen koordiniert; insgesamt haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 35 Ländern und 68 Partnerorganisationen (darunter sieben Unternehmen) daran mitgearbeitet. Die gesammelten Ergebnisse zu den Risiken für Biodiversität werden Anfang 2010 auch in einem großen Atlas veröffentlicht.


Gewinner und Verlierer

Mit ALARM haben die Wissenschaftler erstmals einheitliche Methoden entwickelt, um großräumige Umweltrisiken für die Biodiversität für unterschiedliche Landschaftsräume in Europa quantitativ zu erfassen. Ein treibender Faktor ist der regionale Klimawandel, der Flora und Fauna zwingt, sich extrem rasch an neue Bedingungen anzupassen. Außerdem begünstigt der Klimawandel Invasionen fremder Tier- und Pflanzenarten, die heimische Arten verdrängen können und als Schädlinge in Wäldern und Feldern erhebliche Kosten verursachen. Dazu kommen die zunehmende Flächenversiegelung, das immer dichtere Straßennetz und die Intensivierung der Landwirtschaft. Umweltchemikalien aus Landwirtschaft und Industrie beeinflussen oft auf subtile Weise die Vermehrungsraten von Insekten und Wirbellosen, die wiederum von Wirbeltieren wie Vögeln gefressen werden. Es ist das Zusammenspiel all dieser Faktoren, das die Musik macht und im Endergebnis den Artenschwund einläutet. "Die Frage, ob der Klimawandel gut oder schlecht für die Arten ist, kann man so nicht beantworten, es gibt Gewinner und es gibt Verlierer. Aber zum Beispiel werden von den rund 300 Tagfalter-Arten in Europa rund 70 Arten profitieren, die anderen 230 eher nicht", sagt Settele.


Der Fleiß der Insekten

Eine besonders entscheidende Rolle in Ökosystemen spielen die bestäubenden Insekten wie Bienen, Hummeln, Schwebfliegen und Schmetterlinge. Dass die Bestäubung in vielen Landschaften Europas deutlich zurückgegangen ist, wird schon länger beobachtet. Bei Nutzpflanzen führt dies zu Ernteeinbußen, bei Wildpflanzen zu weniger Nachwuchs bis hin zur Gefährdung des Bestands. Zwar werden die Hauptlieferanten von Kohlehydraten wie Weizen, Hafer und Roggen durch den Wind bestäubt, aber rund siebzig Prozent der Nutzpflanzen, darunter Obstbäume, Haselnusssträucher und andere Vitaminlieferanten, sind auf Insekten angewiesen, um Früchte auszubilden. "Wir können nicht sagen, was die Biene wert ist, aber wir können sagen, was sie leistet", meint Josef Settele und stellt fest: "Auf dem Weltmarkt haben die von Bestäubern abhängigen Früchte, Nüsse und Gewürze im Jahr 2005 rund 153 Milliarden Euro gekostet." Diese einfache Rechnung unterschätzt sogar den Schaden, denn wenn beispielsweise die Ernten sinken, steigen die Preise. Im schlimmsten Fall müssten Arbeiter mit Pinseln die Arbeit der Bestäuber übernehmen, wie es heute schon in Kakaoplantagen geschieht. Dieses Ergebnis aus ALARM fließt in den TEEB-Report (The Economics of Ecosystems and Biodiversity) ein, der unter Leitung des britischen Ökonomieexperten Pavan Sukhdev von einer Arbeitsgruppe am UFZ koordiniert wird.

Durch ALARM ist die aktuelle Verbreitung von vielen bestäubenden Insekten erstmals genauer erfasst worden. Schon länger bekannt sind die Probleme der Bienenvölker, die durch Viren und Parasiten gefährdet sind. Hinzu kommen aber nun auch neue Erkenntnisse zu den wildlebenden Insekten wie Bienen, Hummeln, Schwebfliegen und Schmetterlingen. "Das Problem ist: Wir hatten bislang keine guten Daten, vor allem nicht zu häufigen Arten wie Tagpfauenauge und Kleiner Fuchs, die für Spezialisten nicht so interessant sind", erklärt Settele. Deshalb haben die UFZ-Forscher in Kooperation mit der Gesellschaft für Schmetterlingsschutz (GfS) ein Netz von rund 600 Ehrenamtlichen organisiert, die regelmäßig bestimmte Strecken ablaufen und Falter zählen. "Als das ZDF über unser Projekt in Abenteuer Wissen berichtet hat, haben sich schon während der Sendung Leute im Online Portal www.tagfalter-monitoring.de angemeldet", erinnert sich Settele. Zusammen liefern die ehrenamtlichen Naturfreunde sehr wertvolle Informationen. Auch Wanderungsbewegungen können so quantitativ erfasst werden. Die ersten Auswertungen deuten darauf hin, dass 2009 ein relativ gutes Falterjahr war - dennoch wurden aber selbst sonst häufige Arten wie Kleiner Fuchs oder Kleines Wiesenvögelchen seltener beobachtet. "Wir müssen diese Daten allerdings nun über einige Jahre weiter erheben und auswerten, um zu fundierten Schlussfolgerungen zu
kommen", betont Settele.


Karten für die biologische Vielfalt

In dem Atlas der Biodiversitäts-Risiken haben die ALARM-Forscher nun beispielsweise auch die Verbreitungsgebiete bestimmter Pflanzen mit IPCC-Klimaszenarien und Karten der Landnutzung kombiniert, um zu ermitteln, wo bestimmte Falter jetzt und auch in Zukunft gute Lebenschancen haben. Denn es gibt Falterarten wie zum Beispiel die Ameisenbläulinge, die nur in einzigartigen Symbiosegemeinschaften überleben können, welche nur unter Beweidung durch Vieh oder bestimmte Mahtvorschriften möglich werden. "Mit diesen Karten sieht man deutlich, welche Bereiche nun mit besonderer Aufmerksamkeit gemanagt werden müssen. Und wir sehen auch, wo sich das Naturschutz-Management von Süden nach Norden übertragen lassen würde, wenn der Klimawandel fortschreitet." Das klingt einleuchtend, ist aber ein neuer Gedanke, der nun mit dem Forschungsvorhaben CLIMIT systematisch verfolgt wird. "Klimaforscher haben inzwischen ein engmaschiges Netz aus Messstationen aufgebaut, die stündlich und minütlich Daten liefern. Für die Artenvielfalt haben wir das noch nicht, und es geht auch nicht automatisch. Deshalb sind die Naturfreunde so wichtig, die ehrenamtlich Daten sammeln, damit wir überhaupt mitbekommen, was geschieht und welche Faktoren eine Entwicklung treiben", sagt Settele.    Antonia Rötger


UFZ-Ansprechpartner:
PD Dr. Josef Settele
Dept. Biozönosenforschung
e-mail: josef.settele@ufz.de
mehr Informationen:
www.alarmproject.net


RISIKOATLAS FÜR BIODIVERSITÄT

Initiiert und produziert im Rahmen des ALARM-Projektes erscheint Anfang 2010 der "Atlas of Biodiversity Risk" im Buchhandel. In elf Kapiteln werden Schwerpunkte der Biodiversitätsforschung präsentiert: Klimaveränderung, Landnutzung, Umweltchemikalien, biologische Invasionen, Verlust an Bestäubern, die Rolle sozioökonomischer Faktoren und die kombinierten Auswirkungen dieser und weiterer Triebkräfte. Abgerundet wird der Atlas durch einen Ausblick auf anstehende Zukunftsaufgaben in der Biodiversitätsforschung.

Pensoft Publisher (Sofia, Bulgarien) ISBN: 978-954-642-446-4/ISBN e-book: 978-954-642-447-1


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Niemand kann sagen, was Bienen oder andere bestäubende Insekten wie Hummeln, Schwebefliegen und Schmetterlinge wert sind. Es wurde aber von Wissenschaftlern berechnet, was sie leisten: Auf dem Weltmarkt haben alle Früchte, Nüsse und Gewürze, die auf Bestäuber angewiesen sind, im Jahr 2005 rund 153 Milliarden Euro gekostet.


*


Quelle:
UFZ-Spezial Dezember 2009: In Sachen Klimawandel, S. 14-15
Herausgeber:
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Permoserstraße 15, 04318 Leipzig
Tel.: 0341/235-1269, Fax: 0341/235-1468
E-mail: info@ufz.de
Internet: www.ufz.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Dezember 2009