Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → LEBENSRÄUME

FORSCHUNG/287: Die Globalisierung mariner Ökosysteme (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg
Nr. 51/Frühjahr 2010

Die Globalisierung mariner Ökosysteme

Von Hanno Seebens und Bernd Blasius


Die stetige Intensivierung des globalen Schiffsverkehrs führt ungewollt zur weltweiten Ausbreitung bestimmter Arten und ist damit eine der größten Gefahren für die Ökosysteme. Die Arbeitsgruppe mathematische Modellierung der Universität Oldenburg hat das komplexe Netzwerk des internationalen Schiffsverkehrs analysiert, um die weltweite Ausbreitung von Organismen "berechenbar" zu machen.


Das Wattenmeer der südlichen Nordsee ist eine einzigartige Landschaft, ein weitgehend naturbelassener Lebensraum, dessen grenzenlose Weite jeden Betrachter in den Bann zieht. Aber das Bild hat sich in den letzten Jahren in mancher Hinsicht drastisch geändert: Austern haben sich im Watt breit gemacht, die hier früher nicht vorkamen. Diese Auster ist größer als die heimische Europäische Auster und die Miesmuschel und dabei so scharfkantig, dass barfüßige Wattwanderungen nicht länger ratsam sind. Es handelt sich um die Pazifische Auster (Crassostrea gigas), die sich hier so rapide vermehrt hat. Ihre Fähigkeit, Schlick flächendeckend zu besiedeln, hat weit reichende Konsequenzen. Denn damit bietet sie anderen Organismen ein Substrat, ohne das sie hier nicht überleben könnten. Ein "ecosystem engineer" wie die Pazifische Auster ist in der Lage, ein ganzes Ökosystem zu verändern, was nachhaltige Folgen auch für den Menschen haben kann. Die Miesmuschel beispielsweise kann mit ihrem neuen Konkurrenten nicht mithalten, so dass der Miesmuschelertrag in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist.


Die Invasion ortsfremder Arten

Die Pazifische Auster gelangte aus Aquakulturen in die heimischen Gewässer. Das ist die Ausnahme. Allein in der Nordsee gibt es über 200 bekannte eingeschleppte Arten. Wie sind sie hierher gelangt? Die Antwort scheint einfach und ist doch hochkomplex: Es ist die Globalisierung der modernen Welt, die die Invasion ortsfremder Arten möglich macht. Ein Großteil des Welthandels läuft über den internationalen Schiffsverkehr. Frachtschiffe transportieren Güter aller Art quer über den Globus und verbinden Länder und Städte über riesige Distanzen. Dieser intensive Handelsverkehr hat zur Folge, dass nicht nur Waren, sondern auch Pflanzen und Tiere als blinde Passagiere an Bord gelangen und über die Welt verbreitet werden. An Schiffsrümpfen und im Ballast-Wasser großer Schiffe findet man eine Vielzahl von Arten, die den langen Transport überleben und in kurzer Zeit zum Beispiel von Singapur nach Hamburg verfrachtet werden. Der internationale Schiffsverkehr ist der Transportvektor Nummer eins für fremde marine Arten.

Ein Großteil der einwandernden Organismen kann in der neuen Umgebung nicht überleben, da ihnen die klimatischen Verhältnisse, der veränderte Salzgehalt, Konkurrenten oder Räuber das Leben schwer machen. Aber in manchen Fällen finden die Invasoren optimale Bedingungen vor und können sich explosionsartig vermehren und ganze Ökosysteme nachhaltig beeinflussen, wie das Beispiel der Pazifischen Auster in der Nordsee zeigt. Statistisch gesehen ist eine solche "Bioinvasion" mit einem einzelnen Schiff recht unwahrscheinlich. Aber die Intensivierung des internationalen Handels hat das Risiko von Invasionsereignissen deutlich erhöht, was sich an der exponentiellen Zunahme eingeschleppter Arten in Europa ablesen lässt. Innerhalb weniger Jahre hat diese Entwicklung zu einer schleichenden Umwälzung der marinen Fauna in unseren Küstengewässern geführt - mit Auswirkungen, die heute noch nicht einmal ansatzweise abzusehen sind.

Dabei ist die Bioinvasion nicht auf marine Organismen, Schiffe oder bestimmte Regionen beschränkt. Sie ist ein weltweites Problem, das jedes Land betrifft und langfristig zu einer globalen Homogenisierung unserer Ökosysteme führen wird. Die Folge sind enorme ökonomische Kosten. Die Zebramuschel zum Beispiel, die aus der Region des Kaspischen Meeres eingeschleppt wurde, verursacht in den Großen Seen Nordamerikas Jahr für Jahr Kosten in Millionenhöhe. Nach Schätzungen belaufen sich die Schäden durch Bioinvasion allein in den USA auf jährlich über 100 Milliarden US $.

Einmal eingewandert lassen sich invasive Arten nur schwer kontrollieren. Eine vollständige Ausrottung war nur in seltenen Fällen erfolgreich. Die effektivste Strategie liegt in der Prävention. Einige Staaten wie Neuseeland oder Australien haben strikte Einreiseregelungen getroffen, die das Risiko einer Einschleppung reduzieren sollen. Allerdings können niemals alle Schiffe kontrolliert werden. Eine effektive Prävention sollte daher gezielt auf Hochrisiko-Schiffe oder -Häfen zielen. Bislang aber scheiterten alle derartigen Versuche an fehlenden Kenntnissen über die globale Ausbreitungsdynamik der potenziell invasiven Arten.


Das globale Schiffsnetzwerk

Die Wissenschaftler der Arbeitsgruppe Mathematische Modellierung unter der Leitung von Prof. Dr. Bernd Blasius wollen genau diese Kenntnislücke schließen. Mit Hilfe mathematischer Modelle versuchen sie, die globale Ausbreitungsdynamik invasiver Arten durch den modernen Schiffstransport zu quantifizieren.

Bisher war die Entwicklung solcher Modelle nicht möglich, da ein einheitlicher Datensatz über weltweite Schiffsbewegungen nicht verfügbar war. 2003 hat sich dies geändert, seit alle größeren Schiffe sukzessive mit Transpondern ausgerüstet werden, die automatisch Daten zu Schiffsidentität, Standort, Datum etc. an fest installierte Stationen übermitteln. Dieses "Automatic Identification System" (AIS) liefert umfangreiche Informationen zum globalen Schiffsverkehr in bislang nicht bekannter Qualität. Auf Basis dieser Daten bildeten die Oldenburger Wissenschaftler ein Netzwerk der globalen Schiffsbewegungen für das Jahr 2007 nach.

Insgesamt beinhaltet der Datensatz etwa 1.000 Häfen, 16.000 Schiffe und 500.000 Schiffsbewegungen. Da Schiffe nicht nur benachbarte Häfen ansteuern, ergibt sich in der Gesamtheit ein komplexes Knäuel von Verbindungen (siehe Abb.). Die daraus resultierende Verbindungstopologie ist ein typisches Beispiel für ein komplexes Netzwerk. Es basiert auf einer Menge von "Knoten" - in diesem Fall: Häfen. Sie sind durch eine Vielzahl von "Kanten" verbunden - Schiffsbewegungen zwischen den Häfen. Um das Problem der Ausbreitung der invasiven Arten durch den internationalen Schiffshandel darzustellen, wandten die Wissenschaftler Analysemethoden an, die in den letzten Jahren in der Komplexitätsforschung zur Charakterisierung komplexer Netzwerke entwickelt wurden. Die Ausbreitungsmuster auf einem solchen Netzwerk sind in der Regel äußerst kompliziert und lassen sich ohne Computersimulation kaum vorhersagen.

Das Schiffsnetzwerk liefert die nötigen Hintergrunddaten. So kann zum Beispiel aus der Fahrzeit eines Schiffs auf die Überlebenswahrscheinlichkeit einer invasiven Art im Ballasttank geschlossen werden. Die Simulationsrechnungen zeigen, dass insgesamt nur drei solcher Wahrscheinlichkeiten notwendig sind, um das Risiko einer Invasion adäquat vorhersagen zu können. Neben der genannten Überlebenswahrscheinlichkeit beim Transport gehen noch weitere Variablen in das Modell ein: die Wahrscheinlichkeit, günstige Umweltbedingungen vorzufinden, und die biogeographische Dissimilarität, d.h. die Wahrscheinlichkeit, dass eine invasive Art in dem Zielgebiet noch nicht heimisch ist. Zusätzlich spielt die Intensität des Schiffsverkehrs eine entscheidende Rolle, denn mit jedem weiteren Schiff erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Bioinvasion.

Mit diesem Grundgerüst an Daten und mathematischen Formeln lassen sich die "Autobahnen" der invasiven Arten von den "Landstraßen" unterscheiden, auf denen nicht so viele blinde Passagiere unterwegs sind. Ebenso kann jedem Schiff, jedem Hafen oder jeder Region wie zum Beispiel der Nordsee ein bestimmtes Invasionsrisiko zugeordnet werden. Der Vergleich mit bereits erfolgten Invasionsprozessen auf der ganzen Welt zeigt eine weitgehende Übereinstimmung der Modellvorhersagen mit beobachteten Dynamiken. Einen besonderen Risikoschwerpunkt stellt dabei der südost- und ostasiatische Raum dar mit Singapur, Busan (Korea) und einigen weiteren chinesischen und japanischen Häfen. Diese "hot spots" zeichnen sich durch ein sehr hohes Schiffsaufkommen und ähnliche klimatische Bedingungen aus. Auch die Nordsee ist durch intensiven Schiffsverkehr gekennzeichnet. Allerdings herrschen hier im Vergleich zu vielen anderen im Schiffsnetzwerk relevanten Regionen niedrige Temperaturen, die den ortsfremden Arten das Überleben erschweren. Das Risiko einer Bioinvasion ist also in der Nordsee vergleichsweise gering. Die Modelle der Oldenburger Forscher zeigen allerdings für die Nordsee eine Hauptreiseroute der Bioinvasion auf: Arten, die ursprünglich von der Nordost-Küste der USA stammen, müssten den Berechnungen zufolge, vermehrt in der Nordsee vorkommen. Und tatsächlich stammen die meisten eingeschleppten Arten von dort.


Ausblick

Aufbauend auf den vorhandenen Erkenntnissen werden in der Arbeitsgruppe nun weitere Modelle entwickelt, die mehr spezifische Aussagen zulassen. Eine wichtige Fragestellung zielt darauf ab, was mit den eingeschleppten Arten geschieht, nachdem sie das Schiff verlassen haben. Mit dem Fokus auf die Nordsee wird hierzu das Schiffsnetzwerk mit Strömungsmodellen gekoppelt, um die weitere Ausbreitung auf regionaler Ebene verfolgen zu können. In Zusammenarbeit mit Arbeitsgruppen der Biologie und des Senckenberg Instituts soll die Interaktion von eingeschleppten Arten mit einheimischen Organismen untersucht werden. Schließlich könnte das marine Schiffsnetzwerk mit anderen Transportnetzwerken wie Flugverbindungen oder Binnenschifffahrt verbunden werden, mit dem Ziel einer vollständigen Charakterisierung der Warenflüsse im globalen Welthandel.


Die Autoren

Dr. Hanno Seebens, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, absolvierte das Studium der Ökologie in Essen und promovierte in Biologie an der Universität Konstanz. Seit 2008 arbeitet er in dem Projekt der Volkswagen-Stiftung "Komplexe Netzwerke - Seuchenausbreitung und Bioinvasion" in der AG Mathematische Modellierung am Institut für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) der Universität Oldenburg.

Prof. Dr. Bernd Blasius, Hochschullehrer für Mathematische Modellierung, forscht und lehrt seit 2007 am Institut für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM). Er studierte Physik an der Technischen Universität Darmstadt. Nach seiner Promotion 1997 in Darmstadt, arbeitete Blasius für drei Jahre an der Tel Aviv University, bevor er 2001 als Leiter einer Nachwuchsgruppe der VolkswagenStiftung nach Deutschland an die Universität Potsdam zurückkehrte. Dort wurde er 2004 zum Junior-Professor am Institut für Physik ernannt. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Modellierung komplexer natürlicher Systeme an der Schnittstelle von Physik, Biologie und theoretischer Ökologie.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Die Pazifische Auster: ein "ecosystem engineer".

Schiffsnetzwerk: Typisches Beispiel eines komplexen Netzwerks: Die gelben Strecken zeigen die frequentiertesten Schiffsrouten auf. Sie bilden den Hauptreiseweg für invasive Arten.


*


Quelle:
Einblicke Nr. 51, 25. Jahrgang, Frühjahr 2010, S. 8-11
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität
Oldenburg
Presse & Kommunikation:
Ammerländer Heerstraße 114-118, 26129 Oldenburg
Telefon 0441/798-5446, Fax 0441/798-5545
e-mail: presse@uni-oldenburg.de
www.presse.uni-oldenburg.de/einblicke/

Einblicke erscheint zweimal im Jahr und informiert
eine breite Öffentlichkeit über die Forschung der
Universität Oldenburg.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2010