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WILDNIS/021: Mehr Wildnis! Vom Wert der Wildnis (BUNDmagazin)


BUNDmagazin - 2/2017
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland - BUND
Friends of the Earth Germany

Mehr Wildnis! Vom Wert der Wildnis

von Severin Zillich


Einst erschien Wildnis als durchaus bedrohlich, nicht selten übermächtig. Ihr galt es sich zu erwehren, ihr galt es ein Stück Land abzutrotzen. In der Romantik wandelte sich das Bild: Zumindest in Künstlerkreisen wurde die Wildnis zu einem Ort der Sehnsucht, verklärt als paradiesische Natur, unverdorben von der Zivilisation. Doch die meisten Menschen ließ das unbeeindruckt. Selbst als von Wildnis kaum mehr eine Spur zu finden war, riefen ihre letzten blassen Abbilder häufig noch Unbehagen, wenn nicht Ablehnung hervor.

Erst mit den Nationalparks - in Deutschland ab 1970 - verbreitete sich die Einsicht, dass große Gebiete, in denen die Natur frei walten kann, einfach unersetzlich sind. Seitdem hat der Wildnisgedanke an Popularität gewonnen. Echte Wildnisgebiete aber gibt es bisher noch zu wenige. Der BUND tut viel dafür, dass sich das ändert.

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Natur Natur sein lassen

Vom Wert der Wildnis

Was bedeutet eigentlich Wildnis? Und wozu soll dieser Musterfall von Planlosigkeit gut sein - in einem so planmäßig organisierten Land wie dem unseren?

Im Alltag steht der Begriff Wildnis oft für die Natur schlechthin: »Entdecken Sie die Wildnis vor Ihrer Haustür.« Oder er wird zum Synonym für alles Ungeordnete, Verwilderte - wenn Gartenbücher etwa dem Ideal der »gebändigten Wildnis« das Wort reden.

Wir ahnen es: Das eine wie das andere hat mit Wildnis im engeren Sinn sehr wenig zu tun. In einem so dicht besiedelten und stark industrialisierten Land wie Deutschland gibt es wohl keinen Quadratmeter mehr, den nicht zahllose Menschen schon betreten hätten.

Selbst wenn es ihn noch gibt, in einer unzugänglichen Schlucht in den Alpen vielleicht: Unbeeinflusst vom Menschen ist auch dieser Fleck nicht mehr. Über die Luft und das Wasser erreichen ihn unnatürlich viele Nährstoffe aus der Landwirtschaft oder Schadstoffe aus dem Verkehr; dazu Sporen und Samen von Arten, die der Mensch nach Europa eingeschleppt hat. Auch ursprünglich nicht heimische Tiere wie der Waschbär haben womöglich schon ihre Spuren hinterlassen, von der Erwärmung des Klimas ganz zu schweigen.

Neues Leitbild

Völlig unberührt ist die Natur demnach nirgendwo mehr, nicht einmal an den Polkappen. Deshalb hat sich heute ein anderes Leitbild von Wildnis durchgesetzt: »Wildnis beginnt dort, wo wir Menschen uns zurücknehmen« - so Beate Jessel vom Bundesamt für Naturschutz. Wildnis entsteht also, wo wir der Dynamik der Natur wieder freien Lauf lassen. Neben unserer Bereitschaft, in diesen Prozess nicht einzugreifen, braucht es nur noch: ausreichend Raum. Und Zeit, viel Zeit.

Raum und Zeit, das sind knappe Ressourcen hierzulande. Warum sollten wir sie bereitstellen, der Wildnis zuliebe? Mit seinen Bündnispartnern in der Initiative »Wildnis in Deutschland« nennt der BUND dafür sieben Gründe.

Sieben gute Gründe

• Wildnis sichert die biologische Vielfalt: Neben populären Arten wie der Wildkatze sind auch zahlreiche eher unscheinbare Organismen wie Pilze, Moose und Insekten auf Wildnisgebiete angewiesen, um bei uns zu überleben.

• Wildnis macht schlau: Wie passt sich die Natur der Klimakrise an? Welche Strategien verfolgen Tiere und Pflanzen in einer natürlichen Umwelt? Wildnis ist ein Eldorado für die Wissenschaft - ihre Erforschung kann überlebenswichtige Kenntnisse liefern, für Land- und Forstwirtschaft oder den Klimaschutz.

• Wildnis stabilisiert auch direkt das Klima: Naturwälder, Moore und Auen gleichen die extremen Wetterfolgen der Klimakrise aus und speichern dauerhaft Kohlendioxid. Und sie bieten Lebewesen die Gelegenheit, sich an neue Klimaverhältnisse anzupassen.

• Wildnis schützt vor Hochwasser: Überschwemmungen können in Siedlungen zu schweren Schäden führen. Wilde Flussauen, Moore und Wälder speichern viel Wasser - zugunsten der Flussanrainer.

• Wildnis belebt: Wildnisgebiete sind ein Gegenpol zur übernutzten Kulturlandschaft. Körper und Seele kommen hier zur Ruhe. Weltweit sind Wildnisgebiete begehrte Reiseziele und stärken ländliche Regionen.

• Wildnis ist unsere Aufgabe: Wir fordern den Schutz von Regenwäldern, von Savannen oder Korallenriffen. Doch wertvolles Naturerbe gibt es auch in Deutschland. Wir sind dafür verantwortlich, es zu bewahren.

• Und Wildnis rechnet sich: Ob Trinkwasser, Sauerstoff oder Pflanzenbestäubung - wir sind vielfältig auf die Leistungen der Natur angewiesen. Wildnisgebiete bergen ein unersetzliches Vermögen.

Unabhängig davon haben alle Organismen einen Eigenwert, egal, wie nützlich sie für uns sind.

Mut zur Wildnis

Wer heute für mehr Wildnis wirbt - rennt der nicht offene Türen ein? Immer mehr Deutsche bekennen sich zur dynamischen und unkontrollierten Entfaltung der Natur in Wildnisgebieten. Laut einer Studie des Umweltministeriums schätzen fast zwei Drittel der Deutschen die Natur umso mehr, je wilder sie ist. Noch breitere Zustimmung dürften Freiräume für die Wildnis unter den Mitgliedern der Umweltverbände finden.

Doch gerade für NaturschützerInnen ist es oft eine echte Herausforderung, die Natur schlicht gewähren zu lassen. Wildnis ist ja ein Gegenentwurf zum klassischen Naturschutz. Und meist zielt der vor allem darauf, den Istzustand zu wahren - auch wenn er naturfern ist.

Dieser etwas statische Bestandsschutz zugunsten bestimmter Arten ist etwas gänzlich anderes als der dynamische Prozessschutz mit ungewissem Ausgang in den Wildniszonen. Nicht von ungefähr sprach schon 1998 der damalige BUND-Vorsitzende Hubert Weinzierl vom »Mut zur Wildnis, zur Selbstbeherrschung, zum Schauen statt zum Tun«.

Sowohl als auch

Fraglos benötigen auch die Reste der einst so artenreichen Kulturlandschaft unseren Schutz. Zum Glück werden sie gehegt und gepflegt, damit ihre Vielfalt erhalten bleibt, auch von Tausenden Ehrenamtlichen im BUND. Wildnisgebiete sind kein Allheilmittel für den Naturschutz: Entscheidend ist das »Sowohl als auch«.

Ebenso fraglos haben wir der Wildnis in Deutschland viel zu lange viel zu wenig Raum gelassen. Es lohnt sich, ihr einen Teil des einstigen Herrschaftsgebiets zurückzugeben. Denn Wildnis lehrt uns, wie es die Natur ganz von alleine richtet.

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Quelle:
BUNDmagazin 2/2017, Seite 12 - 14
Herausgeber:
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND)
Friends of the Earth Germany
Am Köllnischen Park 1, 10179 Berlin
Redaktion: Severin Zillich
Tel. 030/27586-457, Fax. 030/27586-440
E-Mail: redaktion@bund.net
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Das BUNDmagazin ist die Mitgliederzeitschrift
des BUND und erscheint viermal im Jahr


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2017

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