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LAIRE/257: Indien und Pakistan könnten nuklearen Winter auslösen (SB)


Spannungen zwischen den Atommächten wachsen

Ein nuklearer Schlagabtausch zwischen Indien und Pakistan hätte schwerwiegende globale Klimafolgen


Vom britischen Nuklearkomplex Sellafield sind so viele Radionuklide in die Irische See eingeleitet worden, daß sie sich dort gesammelt haben und eine Menge ergeben, die fast schon abbauwürdig ist; Rußland hat in der Arktis atomar angetriebene U-Boote versenkt, die ihren gefährlichen Inhalt eines Tages in großem Ausmaß freisetzen könnten; die USA haben in der Wüste von Nevada Atombombentests durchgeführt, an deren radioaktiven Emissionen die Menschen, die in der Hauptwindrichtung des Testgebiets leben - Downwinders genannt -, erkranken.

Diese und viele Beispiele für Verstrahlungen der Umwelt in Folge ziviler oder militärischer Nutzung des Kernzerfalls mehr werden völlig bedeutungslos gegenüber jenem Tag, an dem sich der Zweck der Atombombe, ihr Einsatz bei einem Konflikt, erfüllt. Und sollte es nicht bei einer nuklearen Zündung bleiben, weil zwei Atomstaaten ihre Köcher leeren und sich gegenseitig in die atomare Hölle schicken, wird sich der Himmel verdunkeln. Dann herrscht nuklearer Winter, und niemand wird sich um die Radionuklide in der Irischen See, Arktis oder Wüste von Nevada sorgen, weil es viel dringlichere Probleme gibt.

Damit sollen die radioaktiven Emissionen seit Beginn des Atomzeitalters nicht im mindesten verharmlost werden. Deutlich wird jedoch, daß die Bemühungen um Umweltschutz marginal bleiben, wenn sie losgelöst von grundsätzlichen politischen und gesellschaftlichen Fragen verharren. Vor einigen Jahren haben Forscher von der Ruttgers-Universität, der Universität von Colorado-Boulder und der Universität von Kalifornien in Los Angeles [1] Computersimulationen zu der Frage durchgeführt, welche globalen Auswirkungen ein nuklearer Schlagabtausch zwischen Indien und Pakistan hätte, sollten sie jeweils 50 Atombomben von der Größe der Hiroshima-Bombe auf gegnerische Städte und Infrastruktureinrichtungen werfen.

Das Resultat: 20 Millionen Menschen sterben als direkte Folge. In den getroffenen Städten entstehen gewaltige Feuersbrünste, durch die innerhalb kurzer Zeit zwischen eine und fünf Millionen Tonnen Staub und Rauch 50 Kilometer hoch in die obere Atmosphäre (Stratosphäre) geschleudert werden, wo sich die Partikel wie ein Schutzschirm zügig um die ganze Erde legen und das Sonnenlicht reflektieren. Innerhalb von zehn (!) Tagen würde die Temperatur auf der Nordhalbkugel einen niedrigeren Stand annehmen, als sie während der sogenannten kleinen Eiszeit als Folge schwächerer Sonnenaktivität zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert geherrscht haben. 1816, das als "Jahr ohne Sommer" oder im Volksmund auch "Achtzehnhundertunderfroren" bekannt wurde und so düster war, daß es Mary Shelley zum Schreiben des Romans "Frankenstein oder Der moderne Prometheus" animierte, wäre noch warm gegenüber diesem nuklearen Winter.

Die weltweite Niederschlagsmenge würde um zehn Prozent abnehmen und die Ozonschicht zu 25 bis 40 Prozent (mittlere Breiten) bzw. 50 bis 70 Prozent (hohe Breiten) zerstört, was wiederum die UV-Einstrahlung auf der Erde verstärkte und allen Lebewesen schwer zu schaffen machte.

Über Jahre hinaus würde weltweit die Produktion von Hauptnahrungsmitteln wie Mais, Reis und vor allem Weizen drastisch zurückgehen. Gegenwärtig haben rund 800 Millionen Menschen nicht genügend zu essen und müssen regelmäßig hungern. Während des nuklearen Winters würden sie nicht nur Hunger leiden, sondern daran sterben, da es nicht genug Nahrung für alle Menschen gibt. Die Forschergruppe geht davon aus, daß sogar mehr als eine Milliarde Menschen verhungern. Abgesehen davon würde sich die Radioaktivität rund um den Globus in der Luft, auf dem Land und im Wasser verbreiten. Man muß davon ausgehen, daß aus diesem Grund Kämpfe um sauberes Wasser, Nahrungsmittel und Land einsetzen, wahrscheinlich auch der Nationen untereinander.

Das von der US-Forschergruppe verbreitete Szenario gilt für einen begrenzten Atomkrieg. Zu den geschilderten Auswirkungen käme es demnach, wenn nur 0,05 Prozent der weltweiten Atomwaffenarsenale eingesetzt werden. Bei einem atomaren Waffengang der NATO gegen Rußland oder China würde sich das Schadensausmaß potenzieren.

Indien und Pakistan, die in der Computersimulation als Beispiel gewählt wurden, haben schon mehrere Male in den letzten rund 70 Jahren gegeneinander Krieg geführt. Auslöser war immer die territoriale Frage, zu wem die Region Kaschmir gehört. Der Konflikt ist bis heute nicht beigelegt. Vor wenigen Tagen, am 18. September, griffen in Kaschmir am Militärstützpunkt Uri vier bewaffnete Kämpfer indische Soldaten an und lieferten sich mit ihnen ein sechs Stunden dauerndes Feuergefecht, bei dem sie selbst und 17 Soldaten starben; 30 Personen wurden teils schwer verletzt. Die pakistanische Kampforganisation Jaish-e-Mohammad (JeM) wird für den Angriff verantwortlich gemacht. Seitdem kocht die sowieso schon aufgeheizte Stimmung in und zwischen den beiden Ländern kräftig auf. Ein weiterer kriegerischer Waffengang würde womöglich mit Atomwaffen ausgetragen, so daß der nukleare Winters jederzeit Realität werden könnte.

Möglicherweise hält nur die Idee vom Gleichgewicht des Schreckens die beiden Atommächte vom Einsatz ihrer ultimativen Zerstörungswaffen ab. Jeder, der den anderen angreift, riskiert damit seine eigene Zerstörung, die er nicht verhindern kann. Das Gleichgewicht des Schreckens wird aber spätestens dann hinfällig, wenn sich einer der Beteiligten ausrechnet, mit dem Leben davonzukommen, oder umgekehrt wenn ihm das eigene Leben nicht so wichtig ist. Die Häufung von Selbstmordattentätern und die von vielen unter ihnen vertretene Glaubensauffassung zeigt, daß man die Ratio vom "Überleben unter allen Umständen" nicht verallgemeinern kann.

Also ist auch die Option, daß die Erde über einen Verlauf von mehreren Jahren einen nuklearen Winter erfährt und dabei vermutlich mehr als eine Milliarde Menschen verhungern, nicht nur graue Theorie. Die Frage, in welcher Umwelt jemand leben will, mag für viele Menschen von Bedeutung sein, aber sie nicht mit der Grundsatzfrage zu verbinden, in welcher (gesellschaftlichen) Wirklichkeit er leben will, könnte sich als folgenschweres Versäumnis erweisen.


Fußnote:

[1] Alan Robock, Luke Oman, Georgiy L. Stenchikov: Nuclear winter revisited with a modern climate model and current nuclear arsenals (2007). Journal of Geophysical Research, vol. 112, D13107, doi:10.1029/2006JD008235.

23. September 2016


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