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STANDPUNKT/090: Es ist Zeit für einen Strategiewechsel in der Klimapolitik (spw)


spw - Ausgabe 1/2011 - Heft 182
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Vergesst Cancún -
Es ist Zeit für einen Strategiewechsel in der Klimapolitik

Von Karl-Martin Hentschel


Hören wir auf zu träumen! Die Klimakonferenz in Cancún hat im vergangenen Monat zwar die Scherben von Kopenhagen zusammengekratzt. Mehr aber war nicht möglich. Ein Klimaabkommen, das die Erwärmung des Klimas auf maximal zwei Grad oder gar 1,5 Grad sichert, steht weiter in den Sternen. Deshalb brauchen wir eine neue Strategie und sie liegt auf der Hand. Deutschland kann dabei eine Schlüsselfunktion einnehmen und davon sogar profitieren.


Die Weltklimakonferenz in Kopenhagen war erbärmlich gescheitert. Nun sammelten sich erneut tausende Klimareisende aus Politik, Wissenschaft, Verbänden und Medien in Cancún, einem Badeort am Golf von Mexiko. Als Erfolg gefeiert wurde, dass überhaupt ein gemeinsames Dokument zu Stande kam. Es enthält lediglich drei wichtige neue Punkte: Es soll einen Fonds zur Rettung der Regenwälder geben. Es soll eine Unterstützung der armen Länder bei der Anpassung an die Klimaveränderung um jährlich 100 Milliarden Dollar geben. Und es wurde eine internationale Überprüfung der Klimapolitik der Länder vereinbart. Zweifellos wichtige Punkte. Aber keine dieser Vereinbarungen ist finanziert. Und keine ist völkerrechtlich verbindlich.

Denn die Wahrheit ist auch: Es wird in absehbarer Zeit kein verbindliches Abkommen geben. Die USA wird keinem Abkommen zustimmen, weil der Beitritt zu einem internationalen Abkommen in den USA durch eine Zweidrittelmehrheit im Senat gebilligt werden muss und die ist nicht abzusehen. Selbst eine einfache Erklärung (ein "agreement") des Kongresses, dass Amerika sich an den Vertrag halten wird, ist nach der für Obama verlorenen Nachwahl nicht mehr drin. Und ohne die USA werden China und Indien nicht mitmachen.


Es gibt Hoffnung

Ist also alles verloren? Ich denke: Keineswegs! Es gibt sogar gute Gründe für Optimismus. Diese zunächst verblüffende Feststellung beruht auf überraschenden Entwicklungen der letzten Jahre. Es gibt positive Nachrichten aus allen Ecken der Welt - auch und gerade aus den USA und aus China: Es kommt jetzt darauf an, eine Strategie zu entwerfen, die diese Entwicklungen berücksichtigt und die erforderliche Kehrtwende einleitet. Dabei könnte Deutschland eine wichtige Rolle spielen - was allerdings einen Politikwechsel erfordert.

Wir müssen endlich aufhören, auf Klimaabkommen zu warten. Immer mehr ExpertInnen schlagen statt dessen eine Vorreiterstrategie vor. Dieser Vorschlag geht davon aus, dass die erneuerbaren Energien in den kommenden 50 Jahren die Schlüsseltechnologien schlechthin werden. Dabei geht es an erster Stelle um den elektrischen Strom. Die Stromversorgung ist schon heute zur Lebensader der Zivilisation geworden. Ohne Strom geht fast nichts mehr - kaum ein Herd, kaum eine Heizung, kein Wasserhahn, kein Telefon. Wenn in den kommenden Jahrzehnten auch noch die Autos mit Strom fahren und die gut gedämmten Häuser mit elektrischen Wärmepumpen geheizt werden, dann wird die Stromversorgung mit erneuerbaren Energien endgültig zur Gretchenfrage werden, die über Wohlstand und Konkurrenzfähigkeit von Staaten entscheidet.

Bislang glaubte man noch, ein Alleingang einer Nation oder gar der Europäischen Union wäre zu teuer. Aber die Situation hat sich geändert. So sind die erneuerbaren Energien in den letzten Jahren bereits zunehmend günstiger geworden. Noch wichtiger aber ist der Bewusstseinswandel bei vielen EntscheidungsträgerInnen. PolitikerInnen und ManagerInnen in aller Welt haben die strategische Bedeutung der Erneuerbare-Energien-Technologien erkannt. Sie wissen, dass die Vorbereitung auf den Wettlauf um die Zukunftstechnologien bereits begonnen hat und stehen in den Startlöchern. Selbst die Internationale Energie Agentur IEA, bis vor wenigen Jahren Vertreterin der Kohle- und Öllobby schlechthin, hat eine Kehrtwende vorgenommen und warnte in Cancún, dass jede Verzögerung des Klimaabkommens um ein Jahr die Welt jeweils eine Billion Dollar kostet.


Erfolgsmodell EEG

Ausgerechnet die Hauptbremser der Klimakonferenzen, die USA und China, sind schon dabei, Europa einzuholen. Im Krisenjahr 2009 wuchs der Weltmarkt für Windkraftwerke gegen den Trend um 31 Prozent und davon wurde ein Drittel allein in China aufgebaut - ein weiteres Viertel in den USA.

Über 40 Staaten haben das deutsche Erfolgsmodell EEG (Erneuerbare-Energien-Gesetz) kopiert, nachdem erneuerbare Energien im Netz Vorrang haben. Auch in den USA hat die Mehrzahl aller Staaten engagierte Klimagesetze verabschiedet. Bei der Installation von Windkraftanlagen hat die USA Deutschland bereits überholt - mit Texas und Kalifornien an der Spitze. Hawaii hat sich per Gesetz verpflichtet, bis 2030 die C02-Emissionen aus der Stromerzeugung um 70 Prozent zu senken.

Auch China, das seinen Strom heute zu 80 Prozent mit Kohle erzeugt, hat bereits die Wende eingeleitet. Im Jahre 2009 wurden Windkraftwerke mit einer Leistung von 13 Gigawatt ans Netz gebracht - das ist mehr Kapazität als die aller neun chinesischen Atomkraftwerke zusammen - und das nur in einem Jahr. Bei solarthermischen Anlagen für Haushalte ist China bereits Weltmeister und hat fünfmal soviel Anlagen installiert wie ganz Europa. Außerdem hat China die größten Wasserkraftreserven der Welt: 67 Gigawatt sind im Bau, weitere 100 Gigawatt in Planung. Sogar beim Netzausbau ist China schon weiter als Europa. Während bei uns noch über die Notwendigkeit diskutiert wird, ein neues Gleichstrom-Overlay-Netz, das so genannte Supergrid, zu bauen, um den Strom der Erneuerbaren ohne große Verluste quer durch Europa zum Kunden zu bringen, handelt China. Über 10.000 Kilometer HGÜ-Leitungen (Hochspannungsgleichstromübertragung; mit geringen Verlusten) wurden bereits in Betrieb genommen.

China und die USA stehen mit diesem Engagement nicht allein. Brasilien, Kanada und Indien sind in die Spitzengruppe der Windkraftbauer vorgedrungen. Länder wie Mexiko, die Türkei und Marokko haben Zuwachsraten von über 100 Prozent. Auch Südafrika hat einen Einspeisetarif eingeführt.


Deutschland als Vorreiter

Angesichts dieser Entwicklung ist es kein Wunder, dass die Mehrzahl der von mir im Sommer befragten ExpertInnen der Auffassung ist, dass Europa mit Deutschland an der Spitze vorangehen sollte, anstatt auf den Konferenzen um Klimaziele zu pokern. Konkret heißt das, zu beschließen, in den kommenden 30 Jahren einseitig die komplette Stromversorgung auf erneuerbare Energien umzustellen und dafür alle Weichen zu stellen. Die Befürchtung, dass wir uns damit eine viel zu teure Energieversorgung anschaffen, ist überholt. Im Gegenteil: Wenn Deutschland, das führende Maschinenbauland der Welt, loslegt, ist das ein Startsignal. China und Indien, Ägypten und Marokko, Brasilien und Mexiko und viele US-Staaten beobachten sehr genau, was hier in Europa geschieht. Eine solche Entscheidung würde einen Wettlauf um die Erneuerbaren weltweit auslösen. Jeder will dabei sein, niemand will die Entwicklung versäumen.

Wird eine solche Entwicklung erst einmal eingeleitet, dann kann die Umstellung viel schneller erfolgen, als die ExpertInnen bislang für möglich hielten. Prof. Schellnhuber, der Direktor des Klimaforschungsinstituts in Potsdam, spricht vom Selbstbeschleunigungspotenzial solcher Innovationsprozesse. Noch vor fünf Jahren hielten die meisten ExpertInnen eine C02-freie Stromversorgung frühestens Ende des Jahrhunderts für möglich. Nun liegen bereits mehrere Studien vor, nach denen die Umstellung bereits 2050, 2040 oder gar sogar 2030 abgeschlossen werden kann. Die Stellungnahme des Sachverständigenrates der Bundesregierung rechnet vor, dass ab 2030 die Strompreise der Erneuerbaren bereits niedriger liegen, als die aus noch nicht abgeschriebenen fossilen und nuklearen Kraftwerken. Wer wird bei solchen Aussichten noch Kohle- oder Atomkraftwerke bauen?

Hinzu kommt: Deutschland hat ideale Vorraussetzungen, um loszulegen. Denn es liegt zwischen den größten Wasserspeichern Europas: den Stauseen in Skandinavien und den Alpen. Der Sachverständigenrat hat deshalb für die Übergangsphase einen kleinen Stromverbund zwischen Deutschland und Skandinavien vorgeschlagen - eventuell unter Einbeziehung der Schweiz. Wenn diese Speicher durch neue "Super-Strom-Leitungen" verfügbar gemacht werden, um die Schwankungen der Windkraftparks auszugleichen, dann kann bereits 2020 über die Hälfte des Stroms in Deutschland aus Erneuerbaren gewonnen werden. Dies sollte im Rahmen einer abgestimmten EU-Strategie geschehen. So können parallel der Ausbau von Speichern vor Ort - zum Beispiel Druckluftspeicher oder auch Wasserstoffspeicher - und die Einbindung von thermischen Solarkraftwerken in Nordafrika beginnen.


Was ist zu tun?

Im Moment gibt es zwei entscheidende Stellschrauben, an denen die Politik ansetzen sollte, damit Deutschland wieder die Spitzenposition beim Ausbau der Erneuerbaren zurückgewinnt: Die Novellierung des Erneuerbare Energien Gesetzes (EEG) und der Ausbau der Netze.

Im EEG muss der Export von Strom aus Erneuerbaren geregelt werden, damit ein Lastausgleich mit Skandinavien möglich wird. Weiter müssen die Speichertechnologien wie Wasserstoff- und Druckluftspeicher in das EEG einbezogen werden. Und schließlich müssen die Einspeisevergütungen für die unterschiedlichen Erneuerbaren neu justiert werden. Dabei kann ein europäisches EEG, wie es jetzt in Brüssel diskutiert wird, sicher hilfreich sein, wenn es die europäischen Länder, die bislang noch nicht in die Puschen gekommen sind, auf die Schiene setzt und den Verkauf von EEG-Strom über die Grenzen regelt. Es darf aber auf keinen Fall die Nationalstaaten daran hindern mehr zu tun - und so die Vorreiterrolle von Deutschland zerstören.

Die zweite dringende Aufgabe ist der Ausbau der Stromnetze, um den Strom der Erneuerbaren von den Windstandorten an der Küste, den Wasserkraftwerken in Skandinavien und künftig dann von den Solarkraftwerken im Süden in die Industrie- und Verbraucherzentren zu ermöglichen. Ganz oben auf der Agenda steht dabei die Verfünffachung der Übertragungskapazitäten zwischen Skandinavien und Zentraleuropa bis 2020 - denn das ist die Vorraussetzung dafür, den Ausbau der Windenergie in dem bereits geplanten Umfang fortsetzen zu können.

Eine wichtige Rolle muss natürlich auch die Effizienzstrategie haben. Allerdings darf man sich keine Illusionen machen. Während im Wärmesektor durch die Sanierung der Wohnhäuser mit Einsparungen von weit über 50 Prozent der Energie gerechnet wird, werden die Einsparungen im Stromsektor eher gering bleiben. Denn ab 2030 wird der Strom aus Erneuerbaren günstiger sein als konventioneller Strom und es werden mit der Umstellung auf Elektroautos und Wärmepumpen sogar neue Stromverbraucher dazukommen.


Sind Klimaabkommen überflüssig?

Während viele meiner Interviewpartner wie Prof. Hohmeyer vom Sachverständigenrat für Umweltfragen eine Vorreiterstrategie empfehlen, so hält insbesondere der Wissenschaftliche Beirat für globale Umweltveränderungen (WBGU) mittelfristig ein Klimaabkommen für unbedingt erforderlich. Eine der wichtigsten Funktionen kann sein, den nötigen Transfer von Nord nach Süd, sowohl in Form von Geld wie auch in Form von Know-how zu organisieren. Klimaabkommen können auch verhindern, dass Ölförderländer versuchen, den Innovationsprozess zu sabotieren, indem sie mit Dumping-Angeboten von Öl und Gas reagieren. Um dem entgegenzutreten, können zum Beispiel Regeln über die Welthandelsorganisation (WTO) festgelegt werden, die es erlauben, gegenüber Ländern, die sich nicht an vereinbarte Klimaziele halten, Sonderzölle zu erheben.

Klimaabkommen können also hilfreich sein. Es wäre aber fatal, weiter darauf zu warten. Denn wenn wir weiter mauern, müssen wir uns nicht wundern, dass andere skeptisch auf uns schauen und sich fragen, ob wir unsere engagierten Reden ernst meinen. Wir können und müssen heute damit beginnen, das Notwendige zu tun. Nur so wird die Dynamik entstehen, die erforderlich ist.


Karl-Martin Hentschel, geb. 1950, war 14 Jahre lang Abgeordneter und 8 Jahre Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag Schleswig-Holstein.
Der studierte Mathematiker hat hat zahlreiche Artikel u.a. über Erneuerbare Energien, Ökosteuern, das skandinavische Steuer- und Kommunalsystem und die schleswig-holsteinische Gemeinschaftsschule veröffentlicht.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2011, Heft 182, Seite 8-11
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. März 2011