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ATOM/311: Metastudie - Generell höhere Leukämie-Rate in Akw-Nähe (SB)


Spektakuläre Metaanalyse des Leukämie-Risikos von Kindern in der Nähe von Atomkraftwerken


Kinder, die in der Nähe von Atomkraftwerken (Akws) leben, tragen ein signifikant höheres Risiko, an Leukämie zu erkranken und daran zu sterben. Die Gefahr nimmt zu, je näher sie an den Nuklearstandorten wohnen.

Zu dieser Erkenntnis waren bereits früher zahlreiche Forschergruppen, unter anderem in Deutschland, England, Frankreich und den USA, gelangt. Nun haben sich US-Wissenschaftler um Peter Baker von der Abteilung für Biostatistik und Epidemiologie der Medizinischen Universität von South Carolina in Gulph Mills die Frage gestellt, ob es über diese jeweiligen Einzelstudien hinaus einen generell zu beobachtenden Trend gibt, daß Atomkraftwerke das Risiko einer Blutkrebserkrankung bei Kindern erhöhen. Zu diesem Zweck nahmen sich die Forscher 37 Studien vor, die zunächst auf ihre Eignung hin gesichtet wurden. Nach Prüfung der Einzeluntersuchungen blieben 17 Studien aus dem Zeitraum von 1984 bis 1999 übrig, die einer vergleichenden Analyse unterzogen wurden. Eine Aufgabe der Forscher bestand darin, Kriterien zu entwickeln, um die verschiedenen Daten miteinander vergleichbar zu machen.

Das Ergebnis, das im "European Journal of Cancer Care" (19.7.2007, Bd. 16, S. 355-363) veröffentlicht wurde, fiel eindeutig aus: Die Gefahr, daß Kinder in der Nähe von Kernkraftwerken an Leukämie erkranken, war in der Altersgruppe bis zu neun Jahren um 14 bis 21 Prozent erhöht, und daß sie an Leukämie starben, sogar um bis zu 24 Prozent. Bei allen untersuchten Altersgruppen (bis zu 25 Jahre) war die Erkrankungswahrscheinlichkeit um sieben bis zehn Prozent gesteigert, die Sterberate um zwei bis 18 Prozent.

Aufgrund der breiten Datenbasis, in die Angaben von insgesamt 136 Kernkraftwerken aus den USA, Kanada, Japan, Frankreich, Spanien und Deutschland einflossen, gilt die Metastudie als statistisch sauber. Das bedeutet jedoch nach Ansicht der Forscher nicht zwangsläufig, daß radioaktive Strahlung, die von den Kernkraftwerken abgegeben wird, die höhere Leukämie-Anfälligkeit bewirkt hat. So könnten auch andere, bisher unverstandene Faktoren das Risiko beeinflussen, vermutete Baker.

Diese Aussage wirkt zunächst seltsam, denn wenn 136 Kernkraftwerke geradezu im Zentrum von Leukämie-Häufungen stehen, liegt die Vermutung nahe, daß sie zumindest an der Entstehung des Krebses beteiligt sein müssen, und zwar erwartungsgemäß aufgrund ihrer radioaktiven Emissionen. Die Frage, warum es Baker und seine Kollegen dennoch ablehnen, die Schlußfolgerung zu ziehen, daß die Anlagen für das Phänomen verantwortlich sind, ist leicht zu beantworten: Das festzustellen war nicht Aufgabe der Metastudie. Baker ist Fachmann für Statistik. Er stellt Daten zusammen, und es wäre wissenschaftlich unsauber, würde er von einer statistischen Datenmenge Schlußfolgerungen auf Einzelereignisse ziehen. Es wundert deshalb nicht, wenn in der Metastudie eine genauere Ursachenforschung gefordert wird.

Das ändert jedoch nicht das geringste an der statistischen Grundaussage: Kernkraftwerke sind (aus welchen Gründen auch immer) gefährlich, da sie das Leukämierisiko bei Kindern signifikant erhöhen. Desweiteren ist bekannt, daß radioaktive Strahlung Leukämie auslösen kann, und darüber hinaus gibt es Untersuchungen, denen zufolge ausgerechnet niedrige Strahlenwerte Krebs auslösen, weil sie das natürliche Immunsystem des Organismus unterlaufen. Die These hierzu lautet, daß es bei einer höheren Strahlendosis zu so deutlichen zellulären Veränderungen kommt, daß sie entweder vom Abwehrsystem erkannt und bekämpft, das heißt, isoliert werden. Oder aber, was wahrscheinlicher ist, daß Frühschäden auftreten, wie sie nach den Atombombenabwürfen 1945 bei den überlebenden Einwohnern von Hiroshima und Nagasaki und den beim Tschernobyl-GAU eingesetzten Rettungskräften (Liquidatoren) auftraten, zu erkennen und einer eindeutigen Ursache zuzuordnen waren.

Demgegenüber würde eine niedrige Strahlendosis nur zu leichten, schleichenden Veränderungen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Immunsystems führen, die dann auf benachbarte Zellen übertragen werden und schließlich Blutkrebs auslösen. Namhafte Experten vertreten deshalb die Ansicht, daß es gar keinen unteren Grenzwert für niedrige Strahlendosen gibt, da Krebs durch ein einzelnes Ereignis bewirkt werden kann.

Der bekannteste Leukämie-Cluster in Deutschland - auf der ganzen Welt wird keine größere zeitliche und räumliche Häufung von Leukämiefällen unter Kindern beschrieben - liegt in der Elbmarsch in der Nähe des Akw Krümmel. Seit 1990 erkrankten dort 17 Kinder an Leukämie, vier von ihnen sind gestorben. Laut der Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW - International Physicians for the Prevention of Nuclear War) wurden rund um Krümmel seit Betriebsbeginn 1984 erhöhte Konzentrationen an den Spaltprodukten Cäsium-137 und Strontium-90 gemessen. Geht man davon aus, daß Niedrigstrahlung gefährlich ist, liegt der Verdacht nahe, daß Krümmel mit der Leukämiehäufigkeit zu tun hat.

Die Ursachenbestimmung für die Entstehung des Leukämie-Clusters Elbmarsch ist allerdings insofern kompliziert, als daß dort im Boden winzige PACs gefunden wurden. Dabei handelt es sich um kleine, radioaktive Kügelchen, die aus Plutonium, Americium und Curium bestehen und nicht beim Normalbetrieb von Atomkraftwerken entstehen können. Auch kann es sich bei ihnen nicht um eine Hinterlassenschaft der oberirdischen Atomtests, die bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein durchgeführt wurden, handeln. Der am 26. April 1986 havarierte ukrainische Atomreaktor von Tschernobyl kommt dafür ebenfalls nicht in Frage.

Diese PACs entstehen typischerweise bei der Herstellung von Mini- Atombomben, und so besteht der dringende Verdacht, daß nicht (allein) Krümmel, sondern auch oder gar hauptsächlich die nahegelegene GKSS-Kernforschungsanlage Geesthacht für den Leukämie-Cluster in der Elbmarsch verantwortlich ist. Womöglich wurden dort international verbotene Kernwaffenversuche durchgeführt. Ermittlungen, die in diese Richtung führen, wurden und werden von den Behörden behindert.

Auf dem GKSS-Gelände hatte es am 12. September 1986, also kein halbes Jahr nach dem Tschernobyl-GAU, einen Brand gegeben. Es wurde damals beobachtet, daß Arbeiter in Strahlenschutzanzügen und mit Geigerzählern bewaffnet vor den Werkstoren herumliefen. Ein Binnenschiffer, der zum Zeitpunkt des Unglücks die Elbe unterhalb des Geländes entlangfuhr, berichtete von einem befremdlichen Glühen aus Richtung der Anlage, das nicht von einem normalen Feuer stammen konnte. Andere Zeugen schilderten ähnliche Beobachtungen.

In einem Waldstück in unmittelbarer Nachbarschaft des GKSS-Geländes wurde eine Art Bombentrichter entdeckt, der von jungen Bäumen bewachsen ist, während rund um den Trichter große Bäume wuchsen. Zu der Zeit, als in Geesthacht der Brand ausbrach, haben die Meßgeräte im Akw Krümmel radioaktiven Emissionsalarm ausgelöst. Die Strahlenwerte waren um 500 Prozent emporgeschnellt. Aber die anschließende Prüfung hat nach Angaben der Betreiber keine Hinweise auf ein Leck in der Anlage erbracht. Der Verdacht liegt somit nahe, daß GKSS für die erhöhten Strahlenwerte verantwortlich war.

Die Behörden zeigten sich bei der Aufklärung des Clusters ausgesprochen sperrig ... und ihnen spielten merkwürdige Zufälle in die Hände: Unterlagen der örtlichen Feuerwehr über jenen Löscheinsatz bei der GKSS fielen, kurz bevor sie einer Untersuchungskommission vorgelegt werden sollten, mitsamt dem Aktenschrank, in dem sie aufbewahrt wurden, einem Brand zum Opfer.

Ungeachtet dieser Auffälligkeiten, die den Leukämie-Cluster in der Elbmarsch nicht nur wegen seiner Schwere zu einem Sonderfall machen, wurden Leukämie-Häufungen im Umfeld der britischen Wiederaufbereitungsanlage Sellafield, ihrem französischen Pendant La Hague, fast allen britischen Kernkraftwerken, beim deutschen Akw Würgassen, später auch bei den drei bayerischen Akws Gundremmingen, Isar und Grafenrheinfeld sowie bei mehreren norddeutschen Akws, der Urananreicherungsanlage Ellweiler und selbst um das Kernforschungszentrums Jülich herum registriert.

So hatte vor einigen Jahren der Mediziner Alfred Spira vom französischen medizinischen Forschungsinstitut INSERM die Gesundheitsdaten aus den Jahren 1978 bis 1998 für Menschen unter 25 Jahre in dem Bezirk von Beaumont-Hague in der Normandie ausgewertet. Die Ergebnisse wurden im "Journal of Epidemiology and Community Health" der British Medical Association veröffentlicht. Bei den Personen, die innerhalb eines Umkreises von 35 Kilometern um die Wiederaufbereitungsanlage (WAA) La Hague lebten, wurde keine höhere Krebsrate verzeichnet - die Häufigkeit von 38 Krebsfällen entsprach dem Landesdurchschnitt. Doch als der Forscher den Umkreis auf zehn Kilometer um die WAA La Hague enger zog, zeigte sich ein dramatischer Anstieg der Krebsrate. Aus der Altersgruppe bis 25 Jahre war die Krebshäufigkeit um 500 Prozent gegenüber dem Landesdurchschnitt gestiegen. Und bei Kindern im Alter von fünf bis neun Jahren traten drei Krebsfälle auf - im Landesdurchschnitt, bei gleich großem Untersuchungsgebiet, hingegen nur 0,47 Fälle.

Britische Frauen, die in Windrichtung des Atomkraftwerks Hinkley Point in Somerset leben, tragen ein doppelt so hohes Brustkrebsrisiko. Die Leukämie-Rate der unter 25jährigen im Umfeld dieses Akw ist ebenfalls erhöht. Gleiches gilt für die Umgebung des südwalisischen Atomkraftwerks Oldburn am Fluß Severn. Hier tritt ein Cluster von myeloider Leukämie bei Kindern unter fünf Jahren auf - diese Leukämie-Form wird ansonsten nur älteren Menschen oder aber Strahlenopfern zugeordnet.

In der kleinen amerikanischen Stadt Fallon (8300 Einwohner) im US-Bundesstaat Nevada sind mindestens 17 Kinder an Leukämie erkrankt. Während die örtliche Gesundheitsbehörde über die Ursache des Clusters rätselt, wird der naheliegenden Vermutung, daß ein Zusammenhang der Leukämiefälle mit den oberirdischen Atombombentests, die außerhalb des Städtchens in der Fallon Naval Air Station durchgeführt wurden, offiziell wenig Beachtung geschenkt.

Der Münchner Physiker Dr. Alfred Körblein hat im Jahr 2001 in einer Studie für das Umweltinstitut München e.V. festgestellt, daß es im Nahbereich von bayerischen Kernkraftwerken zu einer signifikante höheren Krebsrate bei Kindern unter fünf Jahren kommt. Anscheinend waren die im Normalbetrieb aus den Akw-Schornsteinen entweichenden radioaktiven Substanzen Tritium und Strontium auch in relativ geringer Konzentration gefährlicher, als man bislang angenommen hatte. Trotz anfänglichen Widerstands mußte das Bundesamt für Strahlenschutz schließlich einräumen, daß die Krebsrate bei Kindern, die im Umfeld jener drei bayerischen Atomkraftwerke lebten, um 20 Prozent höher lag als im Bevölkerungsdurchschnitt. Neben einer leichten Erhöhung der Leukämiezahlen traten vor allem Nierenkrebs und Tumoren des Zentralnervensystems auf. Ähnlich wie in der La-Hague-Studie "verlor" sich diese Häufung in der Statistik, sobald der Untersuchungsraum größer gewählt wurde.

Im Jahr 2004 hatten der britische Wissenschaftler Dudley Goodhead, Leiter der Kommission Cerrie (committee examining radiation risks of internal emitters), und seine Kollegen eine Studie im Auftrag des früheren Umweltministers Michael Meacher erstellt und berichtet, daß das Strahlenrisiko von Kernkraftwerken bislang völlig unterschätzt worden und um 1000 Prozent höher einzustufen sei. Aufgrund ihrer Entdeckung könne man die Krebshäufigkeit rund um die WAA Sellafield und britische Kernkraftwerke halbwegs erklären, auch wenn immer noch Unwägbarkeiten blieben, schrieben die Experten. Goodhead sprach sich für vorsichtshalber strengere Kontrollen für Kernkraftwerke, insbesondere mit Blick auf Kinder, aus. Dessen ungeachtet waren die beiden Cerrie-Mitarbeiter Richard Bramhall und Dr. Chris Busby von ihrem Posten zurückgetreten, da sie sich mit ihrer wissenschaftlichen Meinung gegenüber der Kommission nicht durchsetzen konnten. Die beiden Forscher hatten herausgefunden, daß das Gesundheitsrisiko aufgrund menschengemachter Strahlung um mindestens den Faktor 100 unterschätzt worden war.

Welche Konsequenzen sind nun aus der US-amerikanischen Metaanalyse zu ziehen? Einen Beweis für den kausalen Zusammenhang zwischen der radioaktiven Strahlung und dem Auftreten von Leukämie wird es aufgrund der Meßmethodik vermutlich niemals geben. Denn wenn Niedrigstrahlung Krebs auslöst, dann nur über einen längeren Zeitraum. Eine Ursachenbestimmung wird folglich immer von Unsicherheit geprägt sein. Die Akw-Betreiber werden stets argumentieren können, daß Unsicherheiten bestehen und daß andere Faktoren die Leukämie bewirkt haben könnten.

Völlig losgelöst von der Frage, was die Leukämie-Häufungen um Kernkraftwerke bewirkt, dürften sich Eltern fragen, ob sie sich in der Nähe von Akw-Standorten ansiedeln oder aus solch einer Region wegziehen wollen. Gesellschaftlich stellt sich selbstverständlich die Frage, ob nicht ohne die in Atomkraftwerken generierte elektrische Energie die gleiche Wirtschaftsleistung erbracht werden kann wie heute oder ob man bereit ist, Einschränkungen hinzunehmen, um dafür die Strahlengefahr zu vermeiden.

24. Juli 2007