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ATOM/312: Strahlenversuche an "Freiwilligen" in Großbritannien (SB)


Menschliche Meerschweinchen

Nukleararbeiter nahmen an medizinischen Strahlenexperimenten teil


Neben Murphys Gesetz, demzufolge eine Brotscheibe stets auf die beschmierte Seite vom Tisch auf den Boden fällt, gibt es offenbar ein Naturgesetz, wonach das Ausmaß eines Skandals niemals auf den ersten Blick zu erkennen ist.

Vergangene Woche hatte der britische Handels- und Industrieminister Alistair Darling vor dem Parlament eine Untersuchung über die illegale Organentnahme bei an Krebs verstorbenen Nukleararbeitern aus dem Zeitraum 1962 bis 1991 angekündigt (siehe ATOM/308). Inzwischen berichteten die britischen Medien, daß die Organe das hochradioaktive Plutonium enthielten und daß darüber hinaus Nukleararbeiter absichtlich radioaktive Substanzen zu sich nehmen mußten, weil man die Auswirkungen der Strahlung auf den Körper untersuchen wollte. Es besteht somit der Verdacht, daß die Versuchspersonen zunächst absichtlich verstrahlt wurden, an Krebs erkrankten und daß nach ihrem Tod heimlich Gewebeuntersuchungen durchgeführt wurden.

In den achtziger Jahren wiesen sowohl die Arbeiter des Nuklearkomplexes Sellafield als auch die Bewohner der umliegenden Region Cumbria erhöhte Strahlenwerte auf, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Emissionen aus der Nuklearfabrik zurückgehen, berichtet die britische Zeitung "The Guardian" (21.4.2007) in diesem Zusammenhang. Allerdings wird zugleich behauptet, daß die Strahlenbelastung noch unterhalb dessen gelegen habe, was als gesundheitsschädigend gelte.

Diese Einschätzung wird in der Fachwelt nicht geteilt. In den letzten Jahren wurden vermehrt wissenschaftliche Studien veröffentlicht, denen zufolge es keinen unteren Grenzwert für die Strahlenbelastung gibt. Im Gegenteil, Forscher hatten sogar berichtet, daß eine schwache Strahlenexposition womöglich krebserregender ist als ein stärkere. Bei letzterem würde das Zellmaterial möglicherweise von den Abwehrkräften erkannt und unschädlich gemacht, sofern die Strahlung nicht allzu stark sei. Niedrige Strahlendosen hingegen gelangten schleichend in den Organismus und würden erst zu kleinen Zellmutationen führen, die sich dann zu Tumoren entwickelten, noch bevor sie vom Immunsystem detektiert werden könnten.

Nukleararbeiter müssen regelmäßig Urinproben abgeben, die dann hinsichtlich ihrer Strahlenbelastung analysiert werden. In den Jahren 1982 und 1989 wurden zwei Studien von den leitenden Medizinern in der nuklearen Wiederaufbereitungsanlage Sellafield, Geoff Schofield und seinem Nachfolger Adam Lawson, durchgeführt und in den "Proceedings of the International Symposia of the Society for Radiological Protection" veröffentlicht. Die Mediziner hatten die Urinproben mit Gewebeproben verstorbener Nukleararbeiter verglichen. Dabei sollte festgestellt werden, ob die Urinproben die tatsächliche Strahlenbelastung der Arbeiter wiedergeben.

Jennifer Woodhouse, die zwischen 1969 und 1982 Managerin in Sellafield war, erklärte laut dem "Guardian", daß es damals zwar Gerede über ein Forschungsprojekt gab, aber ihrer Meinung nach habe es sich nur um ein kleines Projekt Schofields gehandelt.

In einer dritten Studie, die vom National Radiological Protection Board der Regierung in Chilton durchgeführt und im Juli 1986 im "Radiological Protection Bulletin" veröffentlicht wurde, war festgestellt worden, daß die Plutoniumbelastung der Sellafield-Arbeiter überdurchschnittlich hoch gewesen war. Und in einer vierten Studie, die 1989 in dem Fachblatt "Radiation Protection Dosimetry" erschien, tauchten Angaben zur Gewebebelastung von vier ehemaligen Angestellten des mit dem Betrieb Sellafields betrauten, inzwischen halbstaatlichen Unternehmens British Nuclear Fuels Ltd. (BNFL) auf. Der britische Industrieminister Darling läßt nun ermitteln, inwiefern die Entnahme des Gewebes aus den Organen der verstorbenen Nukleararbeiter mit oder ohne Einwilligung der Angehörigen geschah.

Im Zuge der Ermittlungen all dieser Mauscheleien der britischen Nuklearindustrie kam ebenfalls heraus, daß in den sechziger Jahren Dutzende Versuchspersonen radioaktive Substanzen inhalieren mußten oder sie ihnen injiziert worden waren. Die Menschenversuche mit radioaktivem Cäsium, Jod, Strontium und Uran seien ungeachtet der Bedenken wegen der legalen und ethischen Implikationen durchgeführt worden, schrieb die Zeitung "Sunday Herald" (22.4.2007). Möglicherweise werde der von Darling eingesetzte Ermittler, der Anwalt Michael Redfern, auch in dieser Richtung Nachforschungen anstellen, hieß es.

Die britische Sonntagszeitung bezieht sich in ihrem Bericht auf freigegebene Dokumente des Nationalarchivs in London. Bei einem Dokument handelt es sich um ein Memo der britischen Atomenergiebehörde UKAEA (UK Atomic Energy Authority) vom August 1965, in dem von "Experimenten zur Strahlenexposition mit Freiwilligen" die Rede ist. Demnach haben im November 1962 zehn Versuchspersonen aus dem Kernforschungszentrum Harwell in Oxfordshire eine Flüssigkeit getrunken, die Cäsium 132 und Cäsium 134 enthielt. Zwei Versuchspersonen aus Sellafield, das damals noch Windscale hieß, nahmen Strontium 90 zu sich, weil man dessen Aufnahme durch das Verdauungssystem erforschen wollte. Weitere 18 Probanden aus Harwell mußten im Jahr 1964 ein Gemisch mit Jod 132 einatmen, weil die Forscher wissen wollten, wie weit die Radioaktivität von den Schilddrüsen aufgenommen wird. Und in einem Brief vom Mai 1968 werden moralische und praktische Bedenken bezüglich zweier geplanter Uranversuche in der Nuklearanlage von Springfield nahe der Stadt Preston vorgebracht.

Dem noch nicht genug, berichtete "Sunday Herald" von einem weiterem Memo aus dem Jahre 1962, in dem äußerst umstrittene Experimente in den USA an älteren und erkrankten Patienten eines Krankenhauses erwähnt werden, denen Plutonium injiziert worden sei. In dem Memo wird vorgeschlagen, ähnliche Experimente an älteren Menschen in Großbritannien durchzuführen. All diese Unterlagen wurden von dem Kernforscher Dr. David Lowry ausgegraben und wurden der Ermittlungskommission Redferns zur Auswertung angeboten. Lowry selbst schreibt zur Zeit an einem Buch über die britische Nuklearindustrie.

In weiteren Dokumenten wird klipp und klar gesagt, daß die Öffentlichkeit entweder gar nicht über die Experimente informiert werden sollte oder aber nur so wenig wie möglich oder aber erst, wenn die Versuche bereits begonnen hätten.

Eine Sprecherin der UKAEA bestätigte gegenüber der Presse, daß solche radiologischen Experimente durchgeführt wurde, aber sie betonte, daß es bei den Freiwilligen ausschließlich um Mitarbeiter der Nuklearanlagen gehandelt habe und daß diese ihr Einverständnis gegeben hätten. Im übrigen seien die Strahlendosen niedrig gewesen.

Solche Erklärungen sind nichts als Täuschung. Denn entweder wissen die Mediziner um die Wirkung der von ihnen verwendeten radiologischen Substanzen - dann bedürfte es aber keiner Experimente - oder sie wissen es eben genau nicht! Ähnlich wie bei Giftigkeitstests, die von der Pharmaindustrie bei Medikamenten durchgeführt werden, kennen Radiologen erst dann den Grenzwert, ab wann eine Strahlenbelastung gesundheitsschädigend ist, wenn sie über die Grenze hinausgegangen sind, das heißt, wenn einer Person Schaden zugefügt wurde.

Angesichts des offensichtlich systemischen Charakters der Menschenversuche mit radioaktiven Substanzen stellt sich selbstverständlich die Frage, ob solche Experimente nur in Großbritannien durchgeführt wurden.

23. April 2007