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ATOM/387: EU beschließt "atomaren Notfall" - Bevölkerung soll an Strahlenlast gewöhnt werden (SB)


Administrative Vorbereitung auf weltweiten Nahrungsmangel?

EU-Kommission hebt Höchstgrenzen für verstrahlte Lebensmittel aus Japan an und verschärft Kontrollzugriff auf Nahrung


Geradezu kafkaesk mutet die Erklärung der Europäischen Kommission an, daß sie die Grenzwerte für die radioaktive Belastung von Lebensmitteln aus Japan gar nicht hinaufgesetzt habe. Die Höchstwerte seien schon 1987 als Reaktion auf die Tschernobyl-Katastrophe festgelegt und seitdem nicht mehr verändert worden. Sie gelten allerdings nur im atomaren Notfall ... der wurde am vergangenen Samstag erstmals seit Tschernobyl ausgerufen. [1] Also doch! Faktisch sieht die neue Eilverordnung (Nr. 297/2011) ein Hinaufsetzen der radioaktiven Grenzwerte für bestimmte Produkte vor. Wenn die Katastrophe vorbei ist, gelten wieder die alten Werte. Aber wann auch immer die Katastrophe vorbei ist, zunächst einmal werden die Grenzwerte angehoben. Sieht so ein Verbraucherschutz aus?

So verquer wie die EU-Kommission kann nur eine Administration argumentieren, die sich weit von den Sorgen und Schutzinteressen der Bevölkerung entfernt hat - sofern sie ihnen jemals nahestand. Tatsächlich gelangen nun verstrahlte Waren aus Japan in den Handel, die sogar im Herkunftsland als viel zu stark belastet angesehen würden.

Der Verein Umweltinstitut München und die Verbraucherschutzorganisation foodwatch hatten diese Woche darauf aufmerksam gemacht, daß mit der Zustimmung der EU-Mitgliedstaaten zur Eilverordnung die EU-Richtlinie EURATOM No.3954/87 vom 22. Dezember 1987 in Kraft tritt. Die sieht zwar eine stärkere Kontrolle der Lebensmittelimporte aus Japan vor, zugleich werden aber die erlaubten radioaktiven Höchstwerte hinaufgesetzt. Galt für Säuglingsnahrung bisher bei einer kumulierten Radioaktivität mit Cäsium-134 und Cäsium-137 ein Grenzwert von 370 Becquerel pro Kilogramm, so liegt dieser nun bei 400 Becquerel pro Kilo. Bei Milch wurde der erlaubte Höchstwert von 600 auf 1000 Becquerel angehoben - in Japan liegt er bei nur 200 Becquerel. Für manche Produkte wie Fischöl oder Gewürzen wurde das zulässige Limit sogar um bis zu 2000 Prozent hinaufgesetzt. [2]

EU-Gesundheitskommissar John Dalli behauptet laut der taz [3], daß die höheren Werte sicher und von der Weltgesundheitsorganisation anerkannt seien. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) stößt ins gleiche Nebelhorn. Komme es zu einem atomaren Störfall, würden die Höchstwerte an radioaktiver Belastung bis zu einer Grenze angehoben, die übers Jahr gerechnet noch als gesundheitlich vertretbar gilt.

Aber welche Verbraucherin und welcher Verbraucher möchte etwas essen, das "übers Jahr gerechnet" wird und dann "noch vertretbar" ist? Zumal namhafte Strahlenexperten gute Gründe für ihre These haben, daß es keinen unteren Grenzwert der radioaktiven Belastung gibt und jede Verstrahlung zu Gesundheitsschäden führen kann.

Wie kommt die EU-Kommission dazu, eine Verordnung, die ihre Herkunft in der Zeit kurz nach der Tschernobyl-Katastrophe hat und darauf abzielte, die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln trotz der höheren Strahlenbelastung aufrechtzuerhalten, nun auf Exporte aus Japan anzuwenden? Es hat den Anschein, als solle die Bevölkerung Schritt für Schritt an eine möglicherweise bevorstehende nukleare Notlage gewöhnt werden. Da sich in mehreren Reaktoren des havarierten japanischen Atomkraftwerks Fukushima I Super-GAUs ereignet haben und bereits hochtoxisches Plutonium in die Umwelt entwichen ist, gleichzeitig aber die Katastrophe womöglich noch nicht einmal angefangen hat, sondern ihre eigentliche Destruktivität erst noch entfaltet, kann das Vorgehen der EU-Kommission so gedeutet werden, daß die Bevölkerung auf die kommende Mangelregulation vorbereitet werden soll.

Unter der Annahme, daß sich die bereits weltweit nachgewiesene Verstrahlung aufgrund der Fukushima-Havarie noch erheblich intensivieren dürfte, wird von der Europäischen Union und ihren Mitgliedsländern anscheinend der Ausnahmezustand vorbereitet, der auf eine beträchtliche Qualifizierung der Verfügungsgewalt hinauslaufen wird. Ob Zufall oder nicht, die Ausrufung des atomaren Notfalls erfolgt in einer Zeit, in der die globalen Nahrungsreserven ihren tiefsten und die Preise für Grundnahrungsmittel ihren höchsten Stand erreicht haben und in der mehr Menschen Hunger leiden als je zuvor.

Wenn nun das eintritt, was aufgrund der notorischen Verschleierungspolitik der japanischen Regierung und allem Anschein nach in nicht geringerem Ausmaß der EU-Kommission zu befürchten ist, nämlich daß weitläufige landwirtschaftliche Flächen nicht nur in Japan, sondern in ganz Asien und womöglich darüber hinaus verstrahlt und die dort angebauten Nahrungsmittel nicht zum Verzehr geeignet sein werden, stellt diese Entwicklung eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung dar. Genau das haben die herrschenden Kräfte zu befürchten, also tun sie alles dafür, um erstens von der tatsächlichen Not abzulenken und zweitens die Kontrolle über einen so zentralen Bereich wie die Nahrungsversorgung an sich zu ziehen. Hier wird erklärtermaßen ein nuklearer Notfall bemüht, dessen Stoßrichtung an Deutlichkeit nichts missen läßt: Die Menschen sollen stärker verstrahlte Lebensmittel essen, und die Behörden verschärften die Kontrolle über den Handel und die Verteilung von Lebensmitteln.

"Diese Regelung jetzt in Kraft zu setzen ist absurd", erklärte Thilo Bode, Geschäftsführer von foodwatch. "Denn es gibt in Europa keinen Notstand und erst recht keine Nahrungsmittelknappheit." [4] Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus! Das Umweltinstitut München und Foodwatch haben mit ihrer Bekanntgabe an einem überaus heiklen Punkt gerührt. Die Argumentation der EU-Kommission und des Bundesverbraucherministeriums, daß ohnehin kaum Lebensmittel aus Japan in die EU exportiert werden und die Verordnung deshalb wenig Bedeutung habe, sollte sämtliche Alarmglocken anschlagen lassen: Eben weil kein Grund für einen nuklearen Notstand erkennbar ist, muß man annehmen, daß sich die europäischen und die nationalen Administrationsebenen auf eine Situation einstellen, die noch kommen wird: allgemeiner Nahrungsmangel und seine Verwaltung. Wie nahe liegt da die Schlußfolgerung in dieser sarrazin-affinen Zeit, daß eine behördliche Lebensmittelverteilung etabliert werden könnte, die utilitaristischen Kriterien folgt.


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Anmerkungen:

[1] "Verbraucherschützer kritisieren: Grenzwerte für radioaktiv belastete Lebensmittel erhöht", Rheinische Post, 29. März 2011
http://www.rp-online.de/__aid_981447.html

[2] Presseerklärung foodwatch, 29. März 2011
http://foodwatch.de/kampagnen__themen/radioaktivitaet/lebensmittel_importe/index_ger.html

[3] "Vorschriften aus der Tschernobyl-Zeit - EU tolerant bei Strahlen", taz, 29. März 2011
http://www.taz.de/1/zukunft/umwelt/artikel/1/eu-tolerant-bei-strahlen/

[4] "Wirre Verbraucherpolitik aus Brüssel", Wirtschaftswoche, 31. März 2011
http://www.wiwo.de/politik-weltwirtschaft/wirre-verbraucherpolitik-aus-bruessel-461750/

31. März 2011