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KLIMA/669: CO2 - Klimafolgen schöngeredet ... (SB)



Was sich zur Zeit im Hambacher Forst abspielt, hat ungeheure Symbolkraft. Da werden Menschen, die sich für den Erhalt dieses uralten Waldes einsetzen, von der Polizei aus ihren Baumhäusern gezerrt und abgeführt, weil ein Energiekonzern die Bäume fällen will, um die darunter liegende Braunkohle abzubaggern und zwecks Profitsteigerung zu verbrennen. Ausgerechnet Braunkohle! Das ist ein Energieträger, bei dessen Verbrennung besonders große Mengen an Kohlenstoffdioxid (CO₂) freigesetzt werden.

Vielleicht hoffen die Chefs in der Führungsetage von RWE ja, daß ihre Kinder und Enkelkinder gegen Mitte des Jahrhunderts zu der rund eine halbe Milliarde Menschen gehören, die überleben werden, sollte die globale Erwärmung weiter so voranschreiten wie bisher. Vielleicht gibt es dann irgendwo auf dem Planeten noch irgendwelche klimatisch vorteilhaften Höhlen oder Nischen, in denen sich Menschen verbunkern können, während ihre Artgenossen außerhalb in Massen sterben, da sie nicht genügend zu essen und zu trinken haben und absolut lebensfeindlichen Klimazonen ausgeliefert sind.

Solche alarmistisch anmutenden Ausführungen gründen sich auf wissenschaftliche Berechnungen, denen zufolge Ende des Jahrhunderts die globale Durchschnittstemperatur vier Grad über der Temperatur der vorindustriellen Zeit vor rund 200 Jahren liegen könnte. Damals hatten Menschen zwar Torf, Braun- und Steinkohle verbrannt, aber noch nicht in den riesigen Mengen, wie sie erforderlich wurden, als damit Industrieanlagen, Eisenbahnen und Kraftwerke betrieben wurden. Später kamen noch weitere fossile Energieträger wie Erdöl und Erdgas hinzu. Zeitnah zum Gehalt der CO₂-Konzentration in der Atmosphäre steigt seitdem die globale Durchschnittstemperatur an.

Der in die Luft geblasene Kohlenstoff absorbiert die von der Erdoberfläche abgegebene Wärmestrahlung. In der Folge wandelt sich der Planet mehr und mehr zu einem Treibhaus. Auf diesem fundamentalen physikalischen Zusammenhang zwischen Veränderung der Atmosphärenzusammensetzung und Erderwärmung gründet sich weitgehend die internationale Klimaschutzpolitik. Sie tut es jedoch nicht mit der gebotenen Konsequenz, wollte sie ernsthaft klimabedingte Folgeschäden von Milliarden Menschen abhalten.

Ungeachtet des Bemühens um Plausibilität und Präzision des oder der einzelnen innerhalb der Wissenschaft weisen die alle fünf bis acht Jahre erscheinenden Berichte des Weltklimarats (IPCC), in denen die Expertise mehrerer tausend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einfließt und die der Politik als Entscheidungsgrundlage helfen soll, grundlegende Mängel auf.

Der IPCC verwässert die Forschungsergebnisse zur globalen Erwärmung und spricht daher zu schwache Empfehlungen aus, schreiben David Spratt und Ian Dunlop in dem Report "What Lies Beneath: The Underestimatement of Existential Climate Risk" vom August 2018 [1]. Die Gründe für die Untertreibung sind vielfältig und liegen teils an der Struktur des IPCC und der von ihm favorisierten Methoden. Das sei historisch gesehen nachvollziehbar, aber heute nicht mehr zu rechtfertigen, schreiben die beiden australischen Autoren. Das Budget dessen, was maximal an CO₂-Emissionen in die Atmosphäre gepustet werden darf, wollte man das im Pariser Abkommen beschlossene Ziel einhalten und den globalen Temperaturanstieg um nicht mehr als zwei, möglichst sogar nur 1,5 Grad steigen lassen, sei deutlich geringer als angenommen.

Einer der Kritikpunkte am Weltklimarat lautet, daß in dessen umfangreichen Berichten notgedrungen aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse nicht mehr einfließen. Und da, wo in der Wissenschaft keine Einigung erzielt werden konnte, beispielsweise bei der Wirkung des auftauenden Permafrosts, habe man den Wert einfach weggelassen - obschon doch die CO₂- und Methanemissionen aus dem auftauenden Permafrost jenes Budget an Kohlenstoff deutlich reduzieren.

Ähnliches gilt für die Bedeutung der Gletscherschmelze der Antarktis bezogen auf den Meeresspiegelanstieg. Darauf geht der letzte IPCC-Bericht aus dem Jahr 2014 nicht ein, obwohl sich die Hinweise mehren, daß der Westantarktische Eisschild einen "tipping point" überschritten hat und unaufhaltsam schmelzen wird. Er hat das Potential, den weltweiten Meeresspiegel um mehrere Meter zu erhöhen. Auch Teile des lange Zeit als stabil geltende Ostantarktischen Eisschilds sind in den letzten Jahren in Bewegung geraten. Das läßt die Vermutung zu, daß das Klimasystem viel sensibler auf die menschengemachten Treibhausgasemissionen reagiert als bislang vermutet.

Der Weltklimarat dürfe sich nicht danach richten, was den wissenschaftlichen Studien zufolge vielleicht als am wahrscheinlichsten angesehen wird, sondern müsse sich auf Extremwerte einstellen. Deshalb sei ein Ansatz erforderlich, der sich an den Risiken orientiere, also an dem, was eintreten könnte. Niemand besteige ein Flugzeug, das mit einer Wahrscheinlichkeit von fünf Prozent abstürzen wird, veranschaulichen die beiden Autoren ihren Ansatz mit einer Analogie, die auf den Klimaforscher Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) zurückgeht. Hinsichtlich der Klimaentwicklung werde aber eine fünfprozentige Wahrscheinlichkeit für die Worst-case-Szenarien schlicht ignoriert.

Spratt und Dunlop beobachten zurecht, daß Parameter wie Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur und des Meeresspiegels Trends aufweisen, die der IPCC vormals immer nur als schlimmste aller Möglichkeiten beschrieben hat. Diese seien aber jeweils eingetreten. Deshalb genüge es nicht, sich stets nur auf der Bahn des Mittelmaßes zu bewegen und dadurch bei der Politik den Eindruck hinterlassen, das Problem sei mit den hinlänglich bekannten Mitteln zu bewältigen. Das könnte eines Tages zu einer bösen Überraschung führen, wenn auf einmal doch der "Worst case" eintritt, aber niemand vorbereitet ist, nur weil er nicht damit gerechnet hat.

Wobei die zugesagten nationalen Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen auf eine Drei- bis 3,5-Grad-Welt hinauslaufen. Nimmt man jetzt noch die vom Weltklimarat weitgehend unbeachtet gelassenen langfristigen Rückkopplungsprozesse hinzu, steuert man eher auf eine Vier-Grad-Welt bis Ende des Jahrhunderts zu. Das würden aber voraussichtlich "80 bis 90 Prozent der Menschheit" nicht überleben. Mit dieser Einschätzung beziehen sich Spratt und Dunlop auf Aussagen des stellvertretenden Direktors des britischen Tyndall Centres of Climate Change Research, Prof. Kevin Anderson. Das Tyndall-Zentrum gehört zu den führenden Klimaforschungseinrichtungen im Vereinigten Königreich.

Nach den Berechnungen des Met Office, einer weiteren britischen Klimaforschungseinrichtung, könnte die Vier-Grad-Welt bereits 2060 erreicht sein [2]. Dem noch nicht genug, besagen jene nationalen Selbstverpflichtungen zum Klimaschutz noch lange nicht, daß sie auch eingehalten werden. Beispielsweise verfehlt die Bundesrepublik Deutschland ihr Klimaschutzziel, bis 2020 die CO₂-Emissionen um 40 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken, um acht Prozent. Und es ist Deutschland, das in jüngster Zeit wieder einmal auf EU-Ebene schärfere CO₂-Grenzwerte für den Verkehr torpediert. Solche und ähnliche Manöver beispielsweise auch der USA unter der Trump-Regierung und Frankreichs, dessen Umweltminister vor kurzem aus Frust zurückgetreten ist, da die Regierung Macron keine Rücksicht auf den Umweltschutz nimmt, sorgen dafür, daß die globale Durchschnittstemperatur höher und höher steigt.

Nach Anderson wäre eine Vier-Grad-Welt "inkompatibel mit einer organisierten globalen Gemeinschaft, wahrscheinlich jenseits der Anpassung, vernichtend für die Mehrheit der Ökosysteme" und sie bürge "eine hohe Wahrscheinlichkeit, nicht stabil zu sein". Jeder einzelne dieser Aspekte ist von weitreichender Bedeutung.

- Wenn die Weltgemeinschaft nicht mehr "organisiert" werden kann, bricht ein Hauen und Stechen um die letzten Überlebensressourcen aus.

- Wenn sich Menschen nicht mehr an die klimatischen Bedingungen "anpassen" können, gehen sie zugrunde. Das meinte Anderson damit, wenn er sagt, daß vielleicht nur eine halbe Milliarde Menschen überleben wird. Für Tiere und Pflanzen gilt ähnliches.

- Wenn die Mehrheit der Ökosysteme "vernichtet" wird, dann wirkt sich das unmittelbar auf die Nahrungsproduktion aus. Die gegenwärtig weltweit bevorzugten Getreidesorten Weizen, Mais und Reis benötigen einen bestimmten klimatischen Rahmen, ansonsten gehen sie ein oder reduzieren die Kornentwicklung.

- Andersons letzter Punkt, die "Instabilität", bedeutet, daß es nicht bei einer Vier-Grad-Welt bleiben wird. Im Prozeß der Erderwärmung sind dann bereits Trends angelaufen, die anhalten und sich fortsetzen. Die weitere Erderwärmung über vier Grad hinaus würde vielleicht sogar die letzten noch verbliebenen Überlebensressourcen zerstören.

Anderson ist nicht der einzige, der solche apokalyptisch anmutenden Aussagen trifft. Im vergangenen Jahr schrieben Xu und Ramanthan, daß in einer Vier-Grad-Welt im Jahr 2100 fast die Hälfte der weltweiten Landfläche und dreiviertel der Menschheit einer "tödlichen Hitze" ausgesetzt sein würden [3].

Spratt und Dunlop kommen ursprünglich nicht aus der Wissenschaftscommunity, aber befassen sich als Mitglieder des Instituts Breakthrough intensiv mit Klimawissenschaft. Man könnte ihnen den Vorwurf machen, daß sie sich nur diejenigen wissenschaftlichen Studienergebnisse herausgepickt haben, die zu ihrer These passen. Das würden sie möglicherweise gar nicht leugnen, denn sie wollen vermitteln, daß der Klimawandel schneller abläuft und die Politik weniger Zeit hat zu reagieren. Das wiederum ist wissenschaftlich fundiert.

Wenn in rund zwei Monaten die 24. UN-Klimakonferenz (COP24) in Katowice eröffnet wird, ist der Restwald vom Hambacher Forst vermutlich gerodet. Dann haben sich die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und der Energiekonzern RWE gegen ein paar Dutzend Baumbesetzerinnen und -besetzer, viele tausend Menschen, die vor Ort waren und die Aktion unterstützt haben, sowie einen nicht unerheblichen Teil der deutschen Bevölkerung, der fassungslos ist ob der Uneinsichtigkeit von Staat und Wirtschaft, durchgesetzt.

Was die Plausibilität des Reports "What Lies Beneath" von Spratt und Dunlop betrifft, geben wir das Schlußwort Hans Joachim Schellnhuber, emeritierter Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Er hat dazu das Vorwort verfaßt und schreibt:

"Alles in allem sollte man nicht zu kritisch gegenüber dem IPCC sein, da die beteiligten Wissenschaftler das tun, was von Wissenschaftlern erwartet wird, das beste ihrer Fähigkeiten unter schwierigen Umständen. Aber der Klimawandel erreicht nun das Endspiel, bei dem die Menschheit sehr bald vor der Wahl steht, entweder Maßnahmen zu ergreifen, die beispiellos sind, oder zu akzeptieren, daß es zu spät ist, und sie die Konsequenzen tragen muß. Deshalb ist es umso wichtiger, Nicht-Mainstream-Stimmen zuzuhören, die die Probleme verstehen und weniger zögern, vor dem Wolf zu warnen. Unglücklicherweise könnte der Wolf bereits im Haus sein."


Fußnoten:

[1] tinyurl.com/ydgzd6va

[2] http://fore.yale.edu/climate-change/science/climate-map-shows-world-after-4-degrees-celsius-rise/

[3] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5625890/pdf/pnas.201618481.pdf

4. Oktober 2018


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