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KLIMA/672: CO2 - feilschen am falschen Platz ... (SB)



In Politik und Politikberatung macht sich mehr und mehr die gefährliche Vorstellung breit, man könne die Zielmarke der globalen Erwärmung um 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit überschreiten, wenn man nur anschließend umkehrt und bis Ende des Jahrhunderts die Zielmarke auf dem Rückweg erreicht. Dazu sollen Geoengineering-Maßnahmen ergriffen und der Atmosphäre CO₂ entzogen werden. Diese Vorstellung ist deshalb gefährlich, weil mit der Erwärmung von 1,5 Grad Prozesse angelaufen sein können, die von selbst weiterlaufen und nicht mehr aufzuhalten sind. Weitere Klimaschutzanstrengungen würden unwirksam bleiben. Es steht nicht weniger auf dem Spiel als das Überleben eines Teils, unter Umständen sogar des größeren Teils der Menschheit. Wäre es da nicht angebracht, von solchen Risikokonzepten Abstand zu nehmen?

Im jüngsten Sonderbericht des Weltklimarats (IPCC) über 1,5 Grad Erwärmung wird der Begriff "overshoot" (darüber hinausschießen, überschreiten) viele Dutzend Male verwendet. Es werden Entwicklungspfade aufgezeigt, unter welchen Umständen bei welcher Schwelle (1,5 oder 2 Grad) ein Überschreiten in welchem Ausmaß stattfindet und was getan werden muß, um die Entwicklung wieder umzukehren. Dadurch wird der Politik, an die sich der Sonderbericht richtet, der Eindruck vermittelt, ein Überschreiten der 1,5- oder gar der 2-Grad-Schwelle sei dann problemlos möglich, wenn nur später einmal ausreichend Maßnahmen ergriffen werden, wieder zurückzukehren.

So etwas will die Politik hören, denn es verleiht ihr vermeintlich Zeit, unliebsame Entscheidungen, die tief in die vorherrschenden Produktionsverhältnisse eingreifen, hinauszuzögern. Bezeichnenderweise wird in dem IPCC-Sonderbericht keinmal der Begriff "tipping point" (z. Dt.: Kippunkt) verwendet. Nur an wenigen Stellen werden Begriffe, die etwas ähnliches bedeuten, wie "irreversibel" oder "langanhaltende Prozesse" erwähnt.

Warum diese Zurückhaltung? Es handelt sich bei "tipping point" doch um einen sehr wichtigen Begriff, der, wenn man ihn bei der Suchmaschine Google in Verbindung mit "climate change" (z. Dt.: Klimawandel) eingibt, 1,7 Millionen Treffer anzeigt. Das Modell der Kippunkte bzw. Kippelemente wird regelmäßig von vielen Forschungseinrichtungen verwendet, darunter der Weltklimarat selbst.

Als Kippunkte gelten physikalische Effekte, nach denen bei Überschreiten einer Schwelle Dynamiken innerhalb eines Natursystems in Gang gesetzt werden, die beschleunigt ablaufen, sich selbst verstärken oder gar nicht mehr enden und darüber hinaus von globaler Bedeutung sind. Gemeint ist also nicht beispielsweise ein einzelner See, der so stark mit Abwässern befrachtet wird, daß sich Algen bilden, die sich irgendwann explosionsartig vermehren, selbst wenn der Abwasserzufluß gestoppt wurde, und allen Sauerstoff verbrauchen, so daß das Gewässer "umkippt" und alle Fische darin sterben. Das hätte "nur" regionale Folgen.

Zu den global wirksamen Kippunkten, die logischerweise aufeinander einwirken und sich ihrerseits gegenseitig verstärken können, gehört das arktische Meereis. Die helle Eisoberfläche sorgt für eine Rückstrahlung der Sonne. Das offene Meer dagegen würde die Wärme absorbieren. Nimmt die Eisfläche ab (und das tut sie in den letzten 30 Jahren dramatisch), könnte irgendwann der Punkt erreicht sein, an dem das Wasser so warm wird, daß alles mehrjährige Eis verschwindet und jedes im Winter neu gebildete Eis im frühen Sommer aufgeschmolzen wird.

Ein weiterer Kippunkt verbirgt sich im Amazonas-Regenwald. Normalerweise produziert der Wald dank der enormen Verdunstung seinen eigenen Regen. Das wiederum hält den Wald aufrecht. Wird jedoch der Regenwald weiter gerodet (und das wird absehbar geschehen, sollte der brasilianische "Donald Trump" Jair Bolsonaro die Stichwahl am 28. Oktober 2018 gewinnen und Präsident Brasiliens werden), wird voraussichtlich der Punkt kommen, an dem die Bäume nicht mehr genügend Wasser verdunsten und das Amazonasbecken auszutrocknen beginnt. Die mehrjährigen Dürren in diesem Jahrhundert in dieser Region sowie das zeitweilige Ausbleiben der normalerweise regenschweren Wolkenmassen, die vom Amazonasbecken weiter in den Süden Richtung Rio de Janeiro getrieben werden, werden von Experten als erstes Aufflackern eines solchen Kippunkts gedeutet.

Ein Kippunkt wird auch im mehrere tausend Meter hohen grönländischen Eispanzer vermutet. Schmilzt die Oberfläche weiter ab, ohne daß neue Niederschläge in Form von Schnee für Ausgleich sorgen, gerät die Obergrenze in immer tiefere und somit wärmere Luftschichten und wird um so schneller abschmelzen, je stärker das Eis schrumpft. Wie bei den oben genannten anderen Kippunkten handelt es sich um einen sich selbst verstärkenden Prozeß. Es gibt Hinweise darauf, die vermuten lassen, daß der Kippunkt nicht mehr allzu entfernt ist.

Eine Reihe von Gletschern in der Westantarktis fließt immer schneller ab und hat eine so hohe Geschwindigkeit erreicht, daß bereits vor einigen Jahren vom Überschreiten eines Kippunkts gesprochen wurde. Ein vollständiges Abschmelzen des westantarktischen Eises läßt sich vielleicht nicht mehr aufhalten. Im Verlauf dieses Prozesses wird der Meeresspiegel weltweit um mehrere Meter steigen. Es liegt jedoch in der Hand des Menschen, ob er sozusagen weiterhin mit Föhn und Tauchsieder der Gletscheroberfläche und der im Meer liegenden Gletscherbasislinie zu Leibe rückt, also ob er unverdrossen fossile Energieträger wie Kohle, Erdöl und Erdgas verbrennt, oder ob er den Energieverbrauch drastisch drosselt.

Eine gängige Kritik an der Idee, man könne mittels Climate Engineering den von Menschen emittierten Kohlenstoff wieder der Atmosphäre entziehen, lautet, daß solche Verfahren nicht erprobt sind und untragbare Nebenwirkungen haben. Würde man beispielsweise Schwefelpartikel in die Stratosphäre einbringen, könnte das zwar in rund 18 Kilometer Höhe zur Reflektion der Sonneneinstrahlung und damit zur Abkühlung der Erde beitragen, aber zugleich würde diese Maßnahme andere Effekte nach sich ziehen. Beispielsweise würde die Ozonschicht geschädigt und es würde sich die Niederschlagsmenge in chinesischen Landwirtschaftsgebieten verringern.

Solche Einwände gegen Climate Engineering sind vollauf berechtigt, genügen aber nicht, um die Vorstellung, ein "Overshoot" sei mit Hilfe negativer Emissionen kontrollierbar, aus der Welt zu schaffen. Erst wenn die Wissenschaft unmißverständlich klarstellte, daß die Menschheit wegen solcher Kippunkte das Überschreiten nicht einmal der 1,5-Grad-Schwelle zulassen darf, würde sie der Politik einen risikobasierten Eindruck von der sich anbahnenden Notlage vermitteln.

Auch wenn niemand exakt zu sagen weiß, wann welche Kippunkte eintreten - genügt nicht das geringe Risiko eines davongaloppierenden Klimas, um die Notbremse zu ziehen? Sollte man nicht versuchen, einen Zug in voller Fahrt zu stoppen, der auch nur mit einer Wahrscheinlichkeit von fünf oder zehn Prozent aus der Spur gerät? Wenn man annimmt, daß die Vorstellungen der Klimaforschung zu CO₂-Minderungspfaden und ähnlichem, das im jüngsten IPCC-Sonderbericht beschrieben wird, zutreffen, sollte man dann nicht so konsequent sein, auch die Idee der Kippunkte uneingeschränkt ernst zu nehmen, auch wenn diese Wahrheit um einiges unbequemer ist?

17. Oktober 2018


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