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KLIMA/730: Erdkugelweit - Gefahren des Temperaturanstiegs ... (SB)



Wenige Tage vor Beginn der Weltklimakonferenz in Madrid hat eine internationale Forschergruppe in einem "Nature"-Kommentar [1] noch einmal daran erinnert, worin ein riesiges Problem des Klimawandels besteht, nämlich in den "tipping points" (Kippunkte, auch Schwellenwerte genannt). Erwärmt sich die Erde weiter, könnte es zu einem Kaskadeneffekt kommen, bei dem sich verschiedene Natursysteme ab einer bestimmten Temperatur rasant verändern und dabei gegenseitig verstärken, so daß die Erde in eine Heißzeit fällt.

Damit ist nicht die wärmere Phase im erdgeschichtlichen Wechsel zwischen Kalt- und Warmzeiten gemeint, sondern eine geologische Zeit wie das Eozän. Damals, vor fünf Millionen Jahren, lag die globale Durchschnittstemperatur 14 Grad Celsius höher als in "vorindustrieller Zeit". Jener Referenzwert sollte aber auf keinen Fall um mehr als 2,0, möglichst nur 1,5 Grad überschritten werden, hat die internationale Staatengemeinschaft 2015 auf dem Weltklimagipfel in Paris beschlossen. Ansonsten drohten vermehrte und verstärkte Naturkatastrophen.

Anhand ausgewählter Beispiele berichtet nun die Forschergruppe über einen Effekt, den man zusammenfassend so beschreiben könnte: Die heute eher linear verlaufenden Zunahmen von Faktoren wie globale Durchschnittstemperatur, CO₂-Gehalt der Atmosphäre, Meeresspiegelhöhe gehen in exponentielle Verläufe sich gegenseitig immer schneller aufschaukelnder Faktoren über. Um so eine Entwicklung zu vermeiden oder zumindest abzumildern, ist eine sofortige und drastische Senkung der CO₂-Emissionen erforderlich, heißt es.

Das Beschreibungskonzept der Tipping Points war vor zwanzig Jahren vom Weltklimarat (IPCC) eingeführt worden, um großräumige Veränderungen im Klimasystem der Erde zu beschreiben. Damals war noch angenommen worden, daß solche Effekte erst dann eintreten, wenn die globale Erwärmung etwa fünf Grad Celsius höher liegt als in vorindustrieller Zeit. Das war beruhigend, denn von diesem Erwärmungsbudget hatte man damals deutlich weniger als ein Grad in Anspruch genommen.

In den letzten zwanzig Jahren sind jedoch zwei Dinge geschehen: Erstens wurde das Budget bis heute bereits um 1,0 Grad verbraucht. Zweitens haben sich die klimatischen Entwicklungen beschleunigt, so daß in Verbindung mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen davon ausgegangen wird, daß einige Kippunkte bereits bei einer globalen Erwärmung von ein bis zwei Grad in Gang gesetzt werden. Was bedeutet, daß dies unmittelbar bevorsteht. Möglicherweise wurde ein Kippunkt auf dem westantarktischen Eisschild bereits ausgelöst.

Dort zieht sich die Grundlinie des Amundsenschelfeises rasch zurück. Mit dieser Linie wird die Grenze zwischen dem auf dem Meer liegenden Schelfeis, dem Wasser des Meeres und der Landmasse bezeichnet. Sollte sich das Schelfeis von seiner Verbindung zum Land lösen, würden die landeinwärts liegenden Gletscher, aus denen das Schelfeis normalerweise gespeist wird und das seinerseits als Hindernis den Gletscher bremst, beschleunigt ins Meer fließen und voraussichtlich den gesamten westantarktischen Eisschild destabilisieren.

Die Wissenschaft rechnet in diesem Zusammenhang in Jahrhunderten oder Jahrtausenden. Betrachtet man diesen Effekt isoliert von allem anderen, was währenddessen sonst noch auf der Erde geschieht, wäre am Ende der weltweite Meeresspiegel 1,5 Meter höher als heute. Das ist weniger harmlos, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Weder bleibt es bei Jahrhunderten oder Jahrtausenden noch bei 1,5 Metern. Denn die gleichen Bedingungen, die zum Abschmelzen der westantarktischen Gletscher führen, gelten zeitgleich auch für andere Natursysteme. Beispielsweise schrumpft der mehrere tausend Meter dicke grönländische Eisschild, so daß dessen Oberfläche zunehmend wärmeren Windströmungen ausgesetzt wird. Mit der Folge, daß er immer schneller abschmilzt. Am Ende, nach möglicherweise erst vielen tausend Jahren, wäre der Meeresspiegel sieben Meter höher als heute.

Seit einigen Jahren wird beobachtet, daß auch der Eisschild der Ostantarktis kein Hort der Stabilität ist, wie man bis dahin angenommen hat. Modellrechnungen zufolge könnte das abgeschmolzene Eis des dortigen Wilkes-Beckens drei bis vier Meter zum Meeresspiegelanstieg beitragen, wenngleich nicht in diesem Jahrhundert. Bei einem völligen Verlust der kompletten Eismassen der Erde und der physikalischen Wärmeausdehnung der Weltmeere wäre der Meeresspiegel weltweit rund 70 Meter höher als heute.

Nach Einschätzung der Forschergruppe kann bereits heute der Beginn des gefährlichen globalen Kaskadeneffekts beobachtet werden. So habe der Schwund des Arktischen Meereises die regionale Erwärmung verstärkt. Die Erwärmung der Arktis und das Abschmelzen des grönländischen Eispanzers wiederum tragen größere Mengen an Süßwasser in den Nordatlantik ein, was der Grund für eine etwa 15prozentige Verlangsamung der atlantischen Umwälzbewegung (Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC) seit Mitte des 20. Jahrhunderts sein könnte. Ein weiteres Abschmelzen des Eispanzers auf Grönland und eine weitere Verlangsamung jener atlantischen Meeresströmung könnte den westafrikanischen Monsun destabilisieren und eine Dürre in der Sahelzone auslösen. Außerdem wird bei einer Verlangsamung der atlantischen Umwälzbewegung auch mit einem Verlust des Amazonas-Regenwalds, einer Unterbrechung des ostasiatischen Monsuns, einer vermehrten Wärmeaufnahme des südlichen Ozeans und somit der Beschleunigung der Eisverluste in der Antarktis gerechnet.

Anhand der Rekonstruktion der Klimageschichte der Erde weiß man, daß es häufiger zu solchen Instabilitäten, ausgelöst durch relativ schwache Einwirkungen auf die Erdachse, gekommen war. Aber: "Mit dem Anstieg der atmosphärischen CO₂-Konzentration und der globalen Erwärmung in Geschwindigkeiten, die um eine Größenordnung über denen während des jüngsten Gletscherrückzugs [Anm. d. SB-Red.: der letzten Eiszeit] liegen, wirken wir heute kräftig auf das System ein."

Die Forschergruppe sieht genügend Hinweise darauf, daß ein "globaler Kippunkt" besteht. Dessen Existenz werde zwar von anderen bezweifelt, weil es keinen Beweis dafür gibt, aber an der Stelle solch eine Gefahr nicht richtig einzuschätzen, könne man sich nicht leisten, heißt es.

Wer auf einer Lawine steht, die sich zunächst ganz langsam in Bewegung setzt, könnte dem falschen Eindruck unterliegen, er habe noch viel Zeit, um sich einen sicheren Halt zu verschaffen. Bildlich gesprochen steht die Menschheit zur Zeit auf so einer Lawine. Der plötzliche Aufschaukeleffekt durch das zeitgleiche Zusammenwirken unterschiedlicher Kippunkte kann vielleicht nicht mehr verhindert werden. Aber durch entschiedene Gegenmaßnahmen kann möglicherweise etwas Tempo aus der Entwicklung herausgenommen werden.

Deswegen handeln all diejenigen, die einen Klimanotstand ausrufen oder jeden Freitag auf die Straße gehen, um zu demonstrieren, nicht irrational, hysterisch oder weltabgewandt, wie es ihnen seitens der sogenannten Klimawandelleugner unterstellt wird. Diese bewegen sich zwar wie selbstverständlich und ohne darüber nachzudenken in einer durch und durch von den Wissenschaften geprägten Welt und verlassen sich vollkommen darauf, daß zum Beispiel ihr Flugzeug satellitengestützt punktgenau und sicher landet oder daß das Fußball-Länderspiel störungsfrei live übertragen wird, sie vertrauen sich auch diagnostischen Verfahren wie Röntgengeräten und dem MRT an, aber wenn es um die Klimaentwicklung geht, da meinen sie plötzlich, viel schlauer als die Wissenschaft zu sein.

Die internationale Forschergruppe sagt klipp und klar, daß sich die Erde insgesamt in einem Klimanotstand befindet, und schließt ihren "Nature"-Kommentar mit den Worten:

"Wenn es möglich ist, daß zerstörerische Kippunktkaskaden eintreten können und ein globaler Kippunkt nicht ausgeschlossen werden kann, dann bedroht das die Zivilisation existentiell. Dann wird uns keine ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse helfen. Wir müssen unsere Art, wie wir mit dem Klimaproblem umgehen, ändern."


Fußnote:

[1] https://www.nature.com/articles/d41586-019-03595-0

1. Dezember 2019


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