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KLIMA/756: Antarktis - Eisverluste ... (SB)



Das Schelfeis der Antarktis könnte wesentlich schneller abschmelzen als angenommen. Das schließen Forscher aus der wellenförmigen Oberfläche des Meeresbodens vor der antarktischen Küste. Demnach hat sich das Eis vor 12.000 Jahren mit einer Geschwindigkeit von bis zu 50 Metern pro Tag zurückgezogen - heute liegt der schnellste Gletscherrückzug bei maximal vier bis fünf Metern pro Tag. Sollte der rapide Eisverlust durch andere Untersuchungen bestätigt werden, zeigt das die mögliche Zukunft der Erde: Der Anteil der menschengemachten Treibhausgase in der Atmosphäre steigt, die globale Erwärmung folgt diesem Trend, und der Meeresspiegel hebt sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Konflikte der Menschen untereinander aufgrund der Folgen wären vorprogrammiert.

Die Forschergruppe des Scott Polar Research Institute der Universität Cambridge schreibt im Wissenschaftsmagazin "Science" [1], daß sie mit Hilfe von autonomen Tauchrobotern, die den Meeresboden vor der antarktischen Küste per Echolot abgetastet haben, auffällige Strukturen entdeckten. Diese langgestreckten Erhebungen haben einen Abstand von 20 bis 25 Metern zueinander und waren rund einen Meter hoch. Nach Ansicht der Forscher markieren sie die Grund- bzw. Aufsetzlinie der Gletscher zum Ende der letzten Eiszeit, also jenen Bereich, in dem das Gewicht der Gletschermasse auf dem Meeresboden liegt und noch nicht aufschwimmt.

Weil Eis leichter ist als Wasser, würde ein Abschmelzen des Schelfeises zunächst nicht zum Meeresspiegelanstieg beitragen. Doch die riesigen Eisflächen liegen wie Barrieren vor den antarktischen Gletschern, die viel rascher ins Meer abflössen, sollten solche Hindernisse verschwinden.

Wie kommen die Forscher nun auf die höhere Geschwindigkeit der Eismassenverluste gegen Ende der letzten Eiszeit vor rund 12.000 Jahren? Jene sanften Höhenrücken sollen mit den Gezeiten entstanden sein, was bedeutet, daß sie sich im Rhythmus von Ebbe und Flut gebildet hätten, also immer dann, wenn das nach der Flut absinkende Eis den Untergrund zusammengedrückt hat, und zwar, weil sich die Aufsetzlinie um täglich 40 bis 50 Meter weiter in Richtung Festland zurückzog. Das macht zehn Kilometer Schelfeisschwund pro Jahr.

Der Massenverlust des antarktischen Eisschilds wird durch drei Faktoren begünstigt: Erstens besteht die antarktische Küste zu rund 75 Prozent aus Schelfeis. Das ist abbruchgefährdet, da relativ warmes Meerwasser an der Aufsetzlinie nagt. Entsprechende Folgen - Abbruch riesiger Schelfeisflächen - wird heute schon in der Westantarktis beobachtet. Zweitens werden wärmere Windströmungen nach Süden in Richtung Antarktis gelenkt. Die extreme Hitzewelle und die ausgedehnten Buschbrände in Südostaustralien im vergangenen Jahr waren bereits Folgen einer Verlagerung der Klimazone und damit wärmerer Winde in Richtung Antarktis.

Drittens befindet sich unter dem antarktischen Eisschild keine zusammenhängende Landmasse. Könnte man ihn anheben und schauen, was darunter liegt, entdeckte man ein Archipel aus stark zerklüfteten Inseln. Aus diesem Grund werden wärmere Meeresströmungen leichter ins Innere des Kontinents vordringen können und dort die Eismassen von unterwärts ausdünnen, als wenn es sich um ein einziges, zusammenhängendes Festland handelte.

Eines ist erst seit einigen Jahren klar: Auch der mehrere Kilometer mächtige ostantarktische Eisschild zeigt sich in einer zunehmend instabileren Welt nicht als jener Hort der Stabilität, als den man ihn noch in den Nuller Jahren angesehen hat.

Die gesellschaftlichen Folgen des hier geschilderten, bereits eingeleiteten Erwärmungstrends sind verheerend. Dabei geht es nicht um ein Szenario, bei dem der antarktische Eisschild wie einst in erdgeschichtlicher Vorzeit komplett verschwindet. Das würde voraussichtlich erst in mehreren tausend, vielleicht sogar Zehntausenden von Jahren eintreten. Der globale Meeresspiegel wäre dann rund 70 Meter höher als heute. Viel relevanter und bereits die heutige Generation der Heranwachsenden betreffend ist das, was in diesem Jahrhundert bevorsteht.

In den letzten 15, 20 Jahren hat die Wissenschaft ihre Berechnungen zum Anstieg des Meeresspiegels immer wieder nach oben korrigieren müssen. Was zuvor als "Worst-case-scenario" beschrieben worden war, diente jeweils als Ausgangspunkt für weitere Projektionen, von denen einige Jahre darauf erneut der schlimmstmögliche Fall eingetreten war, und so weiter.

Die aktuelle Untersuchung, sofern ihre Ergebnisse bestätigt werden, bringt ein bislang noch nicht berücksichtigtes Indiz in die Berechnungen ein. Sollte der globale Meeresspiegel bis Ende des Jahrhunderts um auch nur einen Meter steigen, was nach heutigem Erkenntnisstand eine konservative Vorstellung wäre, würde das eine Vielzahl an der Küste gelegener Millionenstädte in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Zugleich wären ganze Inselstaaten im Meer versunken, und niedrig gelegene Staaten wie Bangladesch hätten einen beträchtlichen Teil ihres Landes und damit auch der landwirtschaftlichen Fläche verloren. Inseln, die heute schon gelegentlich überflutet werden, wie zum Beispiel Bhasan Char vor der Küste Bangladeschs, wo der Staat gerade erst Unterkünfte für rund 100.000 myanmarische Flüchtlinge der Rohingya gebaut hat, gäbe es ebenfalls nicht mehr. Was passiert dann mit den heute schon unerwünschten Flüchtlingen?

Ein hinsichtlich seines Konfliktpotentials nicht zu unterschätzender Nebeneffekt des Meeresspiegelanstiegs wäre, daß das internationale Seerechtsgefüge unterhöhlt wird, weil die Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) eines Staates an der Basislinie, der Seegrenze, orientiert ist. In einem sowieso schon konfliktreichen Verhältnis der Staaten untereinander könnten Veränderungen an der AWZ ein weiterer Anlaß werden, sich territorial zu Lasten anderer ausdehnen zu wollen. Bereits heute gehört das südchinesische Meer, in dem verschiedene Anrainerstaaten dieselben Inseln für sich beanspruchen, zu den Hauptspannungsgebieten der Erde. Bewaffnete Konflikte der Nationen, Ausgrenzung von Flüchtenden, Wassermangel und Hunger wären somit die allgemein zu erwartenden Folgen eines stärkeren Meeresspiegelanstiegs.


Fußnote:

[1] https://science.sciencemag.org/content/368/6494/1020

4. Juni 2020


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