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BERICHT/016: Konferenz Rio+20 - Unter grünem Deckmantel "Business as usual" (SB)


Wenig Chancen für einen Paradigmenwechsel durch den Erdgipfel in Rio de Janeiro im Juni 2012

Besuch eines Pressebriefings der Heinrich-Böll-Stiftung am 31. Mai 2012 in Berlin
mit Vorträgen von Lili Fuhr, Barbara Unmüßig und Thomas Fatheuer



Die gute Nachricht aus der Wissenschaft im Monat Mai 2012: Jüngste archäologische Funde und neue astronomische Berechnungen der Schriftzeichen in der Mayastadt Xultún haben bestätigt, daß sämtliche Befürchtungen, mit dem Ablauf des Maya-Kalenders am 12. Dezember 2012 könne möglicherweise auch das Ende der Welt prognostiziert worden sein, eine eindeutige wissenschaftliche Fehlinterpretation der historischen Zeichen war. Was auch immer die in die Wand geritzten, aufgemalten und auf Blättern bewahrten Zahlen, Hieroglyphen und astronomischen Zeichen der Maya-Kultur vorhersagen mögen, auch darüber sind sich die Wissenschaftler noch nicht ganz einig, der letzte Eintrag in diesen Tabellen bezieht sich auf ein Ereignis, das - von heute aus gesehen - noch Tausende Jahre in der Zukunft liegt.

Teilnehmer des Pressebriefings zu Rio+20 - Foto: © 2012 by Schattenblick

Aufmerksame Diskussionsrunde über die Kritik an Grüner Ökonomie
Foto: © 2012 by Schattenblick

Nachrichten dieser Art lenken von der unangenehmen Realität ab und bestätigen die verbreitete und allgemein bevorzugte Hoffnung, die Sorge um die abgewirtschaftete, luft-, boden- und wasserverschmutzte Erde stamme von notorischen Schwarzsehern, die Warnzeichen der Natur würden heillos überbewertet und ohnehin sei alles nur halb so schlimm. Und für den Rest würden Wissenschaft und Politik eine Lösung finden. Erst vor wenigen Tagen erteilten Forscher in einem Artikel des Fachmagazins Nature diesem Glauben an ein vorerst sicheres Ökosystem eine Absage.

Die brennenden Probleme dieser Welt - angefangen bei der Erderwärmung um 3 bis 4 Grad, der wir derzeit entgegensteuern, dem damit verbundenen Klimawandel, über Ressourcenknappheit, die besorgniserregende Welternährungslage, zunehmende Armut (zwei Milliarden Arme und Ärmste) bis zum Verlust der biologischen Vielfalt und der zunehmenden Schadstoffbelastung der Atmosphäre - könnten nach Ansicht der 22 an der Studie beteiligten Wissenschaftler noch in diesem Jahrhundert zu einem unwiderruflichen Kollaps des globalen Ökosystems führen. Das droht plötzlich zu kippen und würde nicht - wie allgemein angenommen - über Jahrhunderte allmählich zusammenbrechen. Dieser kritische Punkt sei bald erreicht. Anders gesagt lassen sich diese Ergebnisse nicht einfach "weg"interpretieren oder "um"deuten wie altertümliche Zeichen, damit alles beim Alten bleiben kann bzw. neudeutsch "Business as usual" weitergeht. Die Forscher verlangen naheliegenderweise konkrete Veränderungen an jenen menschlichen Konzepten, die unseren Planeten systematisch in die ökologische Katastrophe steuern.

Allerdings sind nur zwei Jahrzehnte nach dem UN-Umweltgipfel in Rio 1992, der als umweltpolitischer Meilenstein für das Ziel galt, sich verantwortungsvoll um den Erhalt unseres Planeten für jetzige und zukünftige Generationen zu kümmern, die Aussichten schlecht bestellt, noch rechtzeitig die notwendigen radikalen Schritte für eine globale Transformation zu vollziehen. Auf einem Pressebriefing der Heinrich-Böll-Stiftung am 31. Mai in Berlin zu diesem Thema wurden dann auch weniger neue Hoffnungen und Ziele für den Erdgipfel in Rio de Janeiro formuliert oder - wie sonst in solchen Fällen - "Vorschuß-Optimismus" zelebriert, sondern eine vergleichsweise nüchterne und kritische Analyse abgeliefert, warum ein tiefgreifendes und konsequentes Umdenken der politischen und ökonomischen Eliten auch bei dem in diesem Juni stattfindenden Rio+20-Gipfel, wie die Konferenz der Vereinten Nationen zur nachhaltigen Entwicklung auch genannt wird, nicht zu erwarten sei und eben das auf dieser Veranstaltung vielzitierte "Business as usual" bestenfalls grün verbrämt weitergehen wird.

Zu diesem Zweck einen Überblick über den Stand der Verhandlungen im Vorfeld des Gipfels und seine zahllosen Themen zu geben (durch das Kurzreferat von Lili Fuhr [1]), die konzeptionellen Widersprüche und Kritikpunkte an der grünen Ökonomie, die teilweise damit verbundenen Macht- und Interessenkonflikte aufzuzeigen (durch den "Input" von Barbara Unmüßig [2]) und auch die besondere Situation des als Entwicklungsweltmeister geltenden Gastgeberlandes, Brasilien, zu berücksichtigen (durch den Brasilienexperten Thomas Fatheuer [3]), kam auf dem Medientreffen in den dafür anberaumten zweieinhalb Stunden einem hochkonzentrierten Sauertopf gleich, dessen Konsistenz für einige Teilnehmer schwer zu verdauen schien. So kam es dann gegen Ende der Abschlußdiskussion zur gespielt berufsständischen Kapitulationserklärung eines Medienvertreters, um den Rio+20-Experten doch noch einen Hoffnungsschimmer zu entlocken: Seiner Meinung nach hätten die drei Referenten alles getan, um deutlich zu machen, daß nichts von der bevorstehenden Konferenz zu erwarten sei. Sie hätten alle sinnvollen Forderungen aufgeführt, die zu stellen wären, aber absehbar in Rio nicht einmal diskutiert werden würden. Das große Thema Nachhaltigkeit aus dem Rio '92-Prozeß spiele in der journalistischen Darstellung nur mehr eine untergeordnete Rolle. Da stelle man sich als Journalist doch die Frage: "Gibt es überhaupt irgendetwas, was man noch über Rio+20 positiv berichten kann?"

Tatsächlich wird befürchtet, die Rio+20-Debatte könnte in der Berichterstattung über die zeitnahen attraktiveren Ereignisse im Juni, wie den wenige Tage vor der Rio-Konferenz stattfindenden G-20-Gipfel in Mexiko, die Finanzkrise oder auch die Fußball-Europameisterschaft, nicht jene Aufmerksamkeit erhalten, die man sich hierfür wünscht. Staats- und Regierungschefs werden erwartet. Einige haben aber auch abgesagt, darunter die Bundeskanzlerin Angela Merkel und der britische Premierminister David Cameron. Ob der französische Staatspräsident François Hollande oder US-Präsident Obama dem Gipfel beiwohnen werden, ist noch ungewiß.


Auf ganzer Linie: grünes Dilemma

Diese Absagen scheinen nach außen hin bereits eine gewisse "Ökologie-Müdigkeit" oder "Grün-Verdrossenheit" zu dokumentieren, auch wenn in diesem Fall andere Gründe für die notwendige Abwesenheit der Regierungsvertreter vorgegeben werden.

Immerhin ist es 40 Jahre her, seit der legendäre Bericht an den Club of Rome "Die Grenzen des Wachstums" den Fortschrittsglauben erschüttern ließ. "Die absoluten Wachstumsgrenzen der Erde werden im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht, wenn es der Menschheit nicht gelingt, ihren ökologischen Fußabdruck zu reduzieren", lautete seine zentrale These. Sie glich einer Revolution. Vierzig Jahre später und damit weitere 40 Jahre auf diese planetare Obergrenze, d.h. auf die soziale und ökologische Grenze der Tragfähigkeit der Erde zu, haben sich die damaligen Prognosen weiterhin verschärft. Aber mit einer angemessen erdbebengleichen Erschütterung ist wohl erst zu rechnen, wenn es nicht nur ärmeren, sondern auch den privilegierten Menschen in den reichen Industriestaaten spürbar schlechter gehen sollte, die bisher unverdrossen konsumieren, ohne daß sie den zunehmenden Mangel am eigenen Leibe spürten.

Für die zumeist stimmlose, marginalisierte Mehrheitsbevölkerung der Erde bleibt jedoch immer weniger übrig, je mehr der Verbrauch von Ressourcen oder die Belastung der Atmosphäre sich diesen Limits annähert. Kann man beispielsweise laut Barbara Unmüßig einer Fülle von Berichten, darunter auch vom Club of Rome und das Transformationsgutachten des wissenschaftlichen Beirats für globale Umweltveränderungen der Bundesregierung, entnehmen, daß die Weltbevölkerung gewissermaßen unverdrossen pro Jahr anderthalb erdgleiche Planeten "verzehrt", so ist selbst dies noch eine statistisch unzulässige Angleichung, die die Ungerechtigkeit verschleiert. [4] In dem Weltzustandsbericht 2012, der von der Raumstation ISS berechnet wird, heißt es zum einen, die Erde benötige anderthalb Jahre, um die natürlichen Ressourcen zu ersetzen, die die Menschen in einem Jahr verbrauche. Darin sind aber beispielsweise nicht-regenerierbare Ressourcen wie manche Bodenschätze, die komplett verbraucht werden, gar nicht berücksichtigt. Darüber hinaus steigt die Tendenz weiter an, so daß wir bis 2030 zwei Planeten für unseren Konsum brauchen, 2050 wären es dann sogar drei.

Und immer noch ist in diesen Schätzwerten nicht enthalten, daß der Erdverbrauch in manchen Ländern wie den USA heute schon 4 Planeten erreicht. Deutschland liegt mit einem Verbrauch von 2,5 Planeten auf der Weltrangliste der Planetenfresser auf Platz 30 - auf Kosten des Mangels in anderen Regionen (Indonesien verbraucht 0,7 Planeten pro Jahr).

Um diese Ungerechtigkeit auszugleichen, könnte man allein mit dem amerikanischen Verbrauch, d.h. vier Planeten mit der gleichen Ressourcenmenge wie die der Erde, der gesamten Weltbevölkerung einen durchschnittlich guten Lebensstandard pro Jahr ermöglichen (siehe auch BERICHT/014 [5]). Aber selbst dann bliebe die Frage offen, über wieviele Planeten die Menschheit eigentlich frei verfügen müßte, um im Zuge von Gerechtigkeit allen die Lebensqualität zu bieten, die bisher die oberen fünf Prozent der Weltgesellschaft für sich beanspruchen. Oder anders herum gefragt, wieviel mehr Menschen müssen wie weit unter dieses Niveau gedrückt werden, ohne sich gegen den Mangel und den unübersehbaren Widerspruch zwischen den Lebens- und Überlebensverhältnissen weniger Reicher und vieler Armer aufzulehnen, damit die bestehenden Verhältnisse überhaupt noch weitere 60 Jahre aufrecht erhalten werden können? Und ist tatsächlich die "grüne" Wirtschaft, auf die die nächste UN-Konferenz für Nachhaltige Entwicklung (UNCSD), wie die Rio+20-Konferenz immer noch heißt, setzt, tatsächlich das Mittel der Wahl, um den Auswüchsen eines zügellosen Kapitalismus zu begegnen?

Wie schonungslos auch immer die Vertreter der Heinrich-Böll-Stiftung die potentiellen Möglichkeiten einer multilateralen Verständigung zu einem neuen "wachstumsentschleunigten" und natürlich "grünen" Wirtschaftskonzept überprüft und analysiert haben mögen, dem Ideal einer gleichmäßigen Ressourcennutzung für alle und von allen widerspricht von vornherein der darin immer noch enthaltene Wachstums- und Wirtschaftsgedanke. Wenn in einer fairen, gerechten und nachhaltigen ressourceneffizienten Gesellschaftsform jedweder Mangel aufgehoben werden und jeder Mensch nach seinen Bedürfnissen gut leben könnte, dann gäbe es schlicht "für niemanden mehr etwas zu verdienen".

Die Rationalität der Profitmaximierung setzt sich von ihrer Bedeutung her aus "Verstand" und "Vernunft" zusammen. Verstand würde demnach heißen, aus dem, was allen zu Verfügung steht, das meiste für sich zu beanspruchen, also beispielsweise im Wald so viele Pilze wie möglich auszureißen, um sie gewinnbringend zu verkaufen. In diesem Sinne wird "Raub von Allgemeingut" als ein Naturgesetz verstanden ...

Diejenigen, die von der bevorstehenden Rio-Konferenz immer noch viel weitreichendere Ziele fordern und an das Ideal eines nicht vom Vorteilsstreben durchdrungenen Wirtschaften bzw. Wohlstand ohne Wachstum glauben, appellieren an die ebenfalls im Begriff Rationalität enthaltene Vernunft, die die Dinge in einem größeren Zusammenhang betrachten soll. Danach wäre es, um bei diesem Beispiel zu bleiben, vernünftig, Wälder und Böden zu schützen, Ernteregeln zu beachten und nicht mehr zu sammeln, als verzehrt werden kann, ohne daß etwas verdirbt. So könnten sich Pilze weiterhin als Gemeingut vermehren: langfristiger Nutzen für viele, statt kurzfristige Nutzenmaximierung für wenige. Jeder bekommt das, was er braucht, nicht mehr und nicht weniger. Das leuchtet ein. Doch an dieser Stelle schließt sich der Kreis: Eine so geartete Aufhebung des Mangels, der die stillschweigende Voraussetzung jeder Ökonomie ist, würde diese vollständig erübrigen. Und das wird durch die Forderung nach einer grünen Ökonomie bereits unterbunden.

Noch offensichtlicher, daß sich mit neuen grünen Ideen und Konzepten ein "Business as usual" fortsetzt, wird dies im Fall der sogenannten Bioökonomie, die sich von der Grünen Ökonomie abgrenzt, weil sie direkt die Bausteine und Baupläne von biologischen Systemen in ihrer Komplexität genau erforschen und verstehen und dann "zum Vorteil von Mensch und Umwelt" besser nutzen will. Die damit verbundene Verwertung und Verfügung über biologische Organismen bis in den molekularen Bereich stellt sogar eine Qualifizierung der mit Ökonomie verbundenen Ausbeutungskonzepte dar.

Die auf dem Pressebriefing der Heinrich-Böll-Stiftung mit dem bezeichnenden Titel "Zahlen, Daten, Fakten zum Erdgipfel in Rio de Janeiro im Juni 2012 - Grüne Ökonomie: Wunderwaffe oder Wolf im Schafspelz?" vorgetragenen Widersprüche und Befürchtungen hinsichtlich der zu verhandelnden grünen Wirtschaftskonzepte konnten dies nur unterstreichen, auch wenn die Referenten nach ihrer kritischen Analyse bloßer Worthülsen und Willensbekundungen doch auf den zarten Hoffnungsschimmer nicht verzichten wollten, die mit Rio+20 und grüner Ökonomie verbunden sind und ein wenig mehr wären, als "weitermachen wie bisher" und schließlich "besser als nichts".


Zum Stand der Verhandlungen im Vorfeld des Erdgipfels in Rio de Janeiro
Lili Fuhr - Foto: © 2012 by Schattenblick

Lili Fuhr
Die Green Economy Roadmap ist nicht mehr im aktuellen Verhandlungsdokument enthalten
Foto: © 2012 by Schattenblick

Lili Fuhr gab einen Überblick darüber, warum quasi in letzter Minute vor dem Gipfelauftakt noch von den einzelnen Delegationen mit heißem Eisen an Schlüsselfragen herumgebügelt werden muß, wie an der "Green Economy Roadmap", den "globalen Nachhaltigkeitszielen" oder der Aufwertung des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), da letztlich den Beteiligten klar geworden sei, daß sie sonst bis zum Stichtag kein brauchbares Dokument verabschieden können. Als Brasilien das Angebot für die Konferenz im Dezember 2009 gemacht habe, waren die Erwartungen an ein umfassendes Weltrettungspaket sehr gering. Und bis heute gebe es nur zwei große Themenkomplexe, die zwei großen Säulen von Rio+20, wie sie vielfach bezeichnet würden, zu denen die einzelnen Delegationen Beiträge leisten wollten: Das sei zum einen das bereits erwähnte Thema "Grüne Ökonomie" und zum anderen der Bereich "Institutionelle Reformen auf UN-Ebene für nachhaltige Entwicklung und Umweltfragen".


Nur ein politisches Statement - mal aufgebläht, dann wieder "geschlankt"

Beide Säulen oder Grundfesten der bevorstehenden Verhandlungen stünden auf sehr wackeligem Fundament. Einmal sei die politische Aufmerksamkeit in den vergangenen Monaten extrem gewachsen und damit auch die Erwartungen, was immer mehr Punkte auf die Agenda dieser Konferenz gebracht habe. Dadurch sei der erste Entwurf des möglichen Abschlußdokuments, der sogenannte Zero Draft (Entwurf Nr. 0) auf beinahe 200 Seiten aufgeblasen worden, was in der logischen Konsequenz auch die Wahrscheinlichkeit einer Einigung über alle formulierten Forderungen "gegen Null" sinken lasse.

Der daraus entstandene Zugzwang habe dann zu einem auf 80 Seiten hochkonzentrierten Exzerpt geführt. Doch dieses neue Verhandlungsdokument enthält möglicherweise nicht mehr alle wichtigen Punkte (beispielsweise wurde die Green Economy Roadmap, eine von der EU vorgeschlagene Leitlinie zur Einführung der grünen Wirtschaft, mit verbindlichen Maßnahmen ersatzlos gestrichen [6]), dafür wurde aber eine für die Referentin besonders bemerkenswerte Ergänzung hinzugefügt, einen Bezug zum Recht der Mutter Erde, der lateinamerikanische Gemüter beruhigen, aber ansonsten wenig Einfluß auf die Debatte haben wird. Auch ein laut Lili Fuhr sehr wichtiger Punkt, der "Abbau von schädlichen Subventionen", wurde in diesem Papier auf einen Halbsatz gekürzt. [7]

Klar sei auch, daß letztlich nur über ein politisches "Statement" verhandelt werde. Es ginge bei Rio+20 keinesfalls um neue, internationale Abkommen, nicht um eine neue Konvention oder verbindliche, völkerrechtliche Pflichten, sondern letztlich um eine politische Stellungnahme, die momentan 80 Seiten lang sei, konstatierte Fuhr.


Verbindliches? - Ein Witz, wenn man genau hinschaut!

Zwar enthalte das Dokument inzwischen auf Betreiben der Sonderberichterstatter der UN einen stärkeren Bezug zur Menschenrechtsdebatte und zur Menschenrechtskonvention, aber eben nur in seiner Erwähnung, mehr nicht. An einem Beispiel dafür, wie wenig ambitioniert dieses Dokument sei, beschrieb Fuhr, daß im Bereich Energie schon längst auf den Bericht des Generalsekretärs "sustainable energy for all" - eine große, aktuelle Initiative der UN -, eingegangen werde. Darin würde eine Verdopplung des Anteils erneuerbarer Energien [8] am globalen Energiemix bis 2030 gefordert. Aber laut der Internationalen Energie Agentur (IEA) läge der Anteil erneuerbarer Energien derzeit bei 13 % global, mit einer Verdoppelung käme man folglich nur auf 26 Prozent. Das sei, gemessen an der dringend notwendigen Substitution CO2-erzeugender Energieträger, "ein Witz"! Ausgerechnet auf dieses künstlich aufgebauschte Ziel wird in dem jüngsten Rio-Dokument als Positivbeispiel Bezug genommen.

Um dieses noch in so vielem unvollkommene und lückenhafte Dokument zu vervollständigen, habe man nur noch bis zum 13. Juni Zeit. Denn dann liefe bis zum 15. Juni 2012 die letzte Verhandlungsrunde vor der eigentlichen Konferenz. Vermutlich unbeabsichtigt von der Referentin könnte man in der von ihr geschilderten Verfahrensweise auch einen systematisch vorgehaltenen Aktionismus herauslesen, um mit der üblichen Vorgehensweise immer so weiterzumachen wie bisher, d.h. "Business as usual" zum Quadrat.

Zumindest zum Punkt Grüne Ökonomie sähe, so Fuhr, alles danach aus, als käme statt der bereits erwähnten Stellungnahme nichts Verbindlicheres dabei heraus, "als eine reine Absichtserklärung, daß es gut wäre, wenn alle darüber nachdenken, ihr eigenes Modell der nationalen grünen Ökonomie nochmal zu prüfen".

Was als grün oder nachhaltig gelte, werde nicht weiter definiert, so daß nachhaltige Energie ebensogut Kernkraft wie Kohle, Biomasse, große Staudämme usw. sein kann. Die Maßnahmen dazu sind freiwilliger Natur und sollen im Zuge von Public private partnerships, letztlich privaten Wirtschaftsinvestitionen, erreicht werden. Im Endeffekt liefe dies alles auf etwas hinaus, was im Jargon der Rio+20-Initiatoren als "sustained growth" also "nachhaltiges Wachstum" bezeichnet wird. Ein Unikum, von dem man nicht sagen kann, was es bedeuten soll, da laut dem ursprünglichen Sinn von nachhaltig (nur so viele Bäume eines Waldes zu fällen wie nachwachsen) bereits nachhaltiges Wirtschaften im Grundsatz destruktiv ist. Wirtschaftswachstum schließt "Nachhaltigkeit" aus und vice versa.

Die zweite Säule der Rio-Konferenz betrifft die "institutionelle Reform", bei der es vor allem um die Aufwertung des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) geht. Man würde daraus gerne eine sogenannte Specialized Agency machen (eine eigenständige Organisation). Dieser Vorschlag wird von der EU und der afrikanischen Gruppe unterstützt. China, Rußland, USA, Japan und Australien sind dagegen. Es ist höchstwahrscheinlich, daß dieser Punkt auf dem Rio-Gipfel nicht beschlossen werden wird. Andere Punkte wie die Reform der "Kommission für nachhaltige Entwicklung (CSD)" haben nach Einschätzung der Referentin wenig Chancen, überhaupt angesprochen zu werden.

Von besonders verwirrender Eigendynamik schienen die sogenannten "globalen Nachhaltigkeitsziele": Sustainable Development Goals (SDGs), die erst nachträglich auf einen Vorschlag von Kolumbien, Guatemala und Peru auf den Verhandlungstisch kamen. Sie sollen analog zu den 2000 während des Milleniumgipfels beschlossenen "Milleniums Entwicklungszielen" (MDGs, Millenium Development Goals) in Rio beschlossen werden. Verschiedene Entwürfe, wie solche SDGs aussehen sollten, liegen vor, z.B. zu den Themen Land, Boden, Biodiversität, Ressourceneffizienz, Waldschutz, Ozeane. Ähnliches hatte man bereits einmal mit der Agenda 21 ohne spürbare Konsequenzen in Angriff genommen. Die neuen Ziele sollen überdies die Millenniumsziele ergänzen und werden voraussichtlich in Rio auch nicht verabschiedet, sondern bestenfalls zur Verhandlung bis 2015 ausgesetzt werden. Fuhr gab an, daß Ban Ki-moon (8. Generalsekretär der Vereinten Nationen) für die Koordination der Nachhaltigkeitsziele schon ein Team aus David Cameron (Premierminister von GB), Ellen Johnson Sirleaf (die liberianische Präsidentin) und Susilo Bambang Yudhoyono (Präsident von Indonesien) zusammengestellt habe. Es sei aber noch völlig unklar, wie die Ziele im einzelnen formuliert sein sollen, was sie umfassen, wie sie dann mit den MDGs einhergehen, welche Maßstäbe angelegt werden und welche Rechenschafts- und Rechtspflichten es dazu gibt.

Ihr Fazit: Von dem derzeit verhandelten 80-seitigen Exzerpt könne man nicht erwarten, daß daraus überhaupt 20 brauchbare Punkte hervorgehen. Statt dessen müsse man für den Abschluß in Rio letztlich mit noch mehr Unklarheit rechnen.


"Wolf im grünen Pelz"
Barbara Unmüßig - Foto: © 2012 by Schattenblick

Barbara Unmüßig
Foto: © 2012 by Schattenblick

"Bei der "Grünen Ökonomie" sähe es fast noch düsterer aus als bei den institutionellen Reformen, ergänzte Barbara Unmüßig die nüchternen Aussichten ihrer Vorrednerin. Es gäbe bisher keinen Konsens darüber, was "grüne Ökonomie" überhaupt sei und wen sie beispielsweise in die Pflicht nehmen solle, den globalen Süden oder auch den industrialisierten Norden? So sähe die Bundesregierung darin vor allem ein Konzept für Entwicklungsländer, aber keinen neuen Rahmen für unsere industrialisierte Welt. Vorschläge von dieser Art lägen unzählige vor, so die Roadmap der UNEP [6], der Bericht zu "umweltverträglichem Wachstum" von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), eine der zahlreichen Wirtschaftsstudien, die von der McKinsey Stiftung (ein unternehmensberatender Zusammenschluß von Firmen) und der European Marketing Academy (EMAC)) finanziert wurde, sowie ein umfassender Report der Weltbank, "Inclusive Green Growth". Sie alle seien zur Vorbereitung des Gipfels eingereicht worden und propagierten im Hinblick auf die mit der zunehmenden Ressourcenknappheit (Peak Oil, Peak Soil, Peak Water, Peak Everything!) versiegenden Produktionsfaktoren ebenfalls einen Ausstieg aus dem "Business as usual". Dabei beschäftigten sie sich teils mehr, aber eher weniger auch mit dem globalen Süden.

Die Referentin wehrte sich zwar dagegen, sämtliche Versuche in diese Richtung pauschal als "Greenwashing" zu bezeichnen, riet aber, genau hinzuschauen, wer sich eigentlich des Vokabulars "Grün" bediene.

Für Unmüßig sind die Versuche, mit grüner Ökonomie Antworten auf Klimawandel und Ressourcenknappheit zu geben, schon deshalb "gute Antworten", weil man sich ihres Erachtens auf diese Weise erstmals mit den planetaren Grenzen auseinandersetzt. Die Forderungen, "80 bis 90 Prozent globale Reduktion von CO2, um die Klimaerwärmung zu stoppen" oder "Ressourceneffizienz auf allen Ebenen" seien klar gestellt, wohingegen die Lösungsvorschläge, von den Ländern des globalen Südens oft als "grüner Protektionismus" kritisiert, bescheiden wirkten. Damit werde das eingangs beschriebene grüne Dilemma erneut deutlich: Angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise haben die Staaten kaum noch Geld in der Hand, die notwendigsten Rahmenbedingungen zu finanzieren. Deshalb soll vor allem der Privatsektor dafür gewonnen werden, der aber Anreize, letztlich Versprechen auf Renditen und Profite, aber auch Wachstum fordert, ehe er in grüne Wirtschaft investiert. Das alles solle der Staat garantieren.

Das UNEP hat hierfür ein Investitionsprogramm vorgeschlagen [6], bei dem nur zwei Prozent der jährlichen Bruttoweltsozialleistungen (Bruttosozialprodukt) in grünere Sektoren wie Stadtentwicklung, Bausektoren oder erneuerbare Energien gelenkt werden müßten. Allerdings geht das UNEP davon aus, daß für diese Zwecke ausreichend Kapital vorhanden ist, daß dieses aber durch gigantische, sogenannte Fehlallokationen in den falschen, "nicht grünen" Projekten steckt. Diese Fehlallokation von Kapital praktisch in grüneres Wirtschaften umzudirigieren scheint ein kühner Plan, der jedoch zwangsläufig von der Kooperation der entsprechenden Wirtschafts- und Finanzgrößen abhängt, was hier unerwähnt blieb und damit - ohne entsprechende Zugeständnisse an die Wirtschaft - wohl ein grüner Traum bleiben wird.

Teilnehmer des Pressebriefings im Gespräch mit den Referenten - Foto: © 2012 by Schattenblick

Besorgte Medienvertreter
Foto: © 2012 by Schattenblick


Inwertsetzung von Natur - oder der Ausverkauf hat schon begonnen

Ein sehr umstrittenes Thema der grünen Wirtschaft, das der Referentin am Herzen lag, betraf die von der UNEP ebenfalls stark beworbene Monetarisierung und Inwertsetzung dessen, was man "Ökosystem-Dienstleistungen" nennt.

Dieser Begriff bedarf der Erklärung, denn vor dieser Wortschöpfung waren Ökosystem-Dienstleistungen eigentlich all das, was die Natur uns als Gemeingut, sowohl an Produktionsfaktoren, aber auch an Reproduktionsmöglichkeiten, zur Verfügung stellt: Biodiversität, die erholsame Kraft, die wir aus der Natur zur Regeneration schöpfen, bis hin zur Pollination (Bestäubung der Agrarprodukte), Moore als CO2-Speicher, Wasser und Luft zum Atmen.

Dieses bisher zum größten Teil kostenlos verfügbare "Naturkapital" soll nun auf einen Vorschlag der UNEP auf irgendeine Weise im Bruttosozialprodukt als volkswirtschaftliche Leistung abgebildet werden, damit die jeweiligen Regierungen diesen Wert erkennen und deshalb einen Anreiz erhalten, Natur und Ökosysteme zu schützen. Umstritten daran sei die Ökonomisierung. Natur würde auf diese Weise paradoxerweise zu einer Ware gemacht, der man zu "ihrem Schutz" ein Preisschild anhängt.

Man fragt sich hier doch, ob mit dem Preisschild nicht auch die Voraussetzungen zu einer noch besseren Vermarktung geschaffen werden. Möglicherweise diesen perfiden Hintergedanken unterstellend, laufen lateinamerikanische Regierungen, Nichtregierungsorganisationen, soziale Bewegungen wie auch Indigene Sturm gegen diesen neuen Versuch, Natur zu merkantilisieren, und sprechen von "Green-Washing". Es lassen sich auch andere Regelungen oder politische Möglichkeiten denken, die Natur, den Wald und den Fischreichtum der Meere zu schützen und ihre weitere Ausbeutung zu beenden.

Wer die Natur als Ware klassifiziert und sie mit Preisschildern auszeichnet, meldet letztlich auch Besitzansprüche an, weil Handelsware und Handelsgut immer mit Eigentumsrechten verbunden sind. Einer der Hauptkritikpunkte der Heinrich-Böll-Stiftung an der Grünen Ökonomie [9] ist deshalb, daß mit der Merkantilisierung von Ökosystem-Dienstleistungen und Biodiversität letztlich der soziale Kontext verloren geht und sich statt dessen eine Privatisierung der letzten Naturreserven durchsetzt. Die Frage, zu wessen Gunsten, ließ die Referentin allerdings offen.


Joint Ventures zwischen Bio- und "Big Industry" - die neuen Profiteure sind die alten

Natürlich könne eine grüne Ökonomie, wie bereits erwähnt, nicht auf Wachstum und Entwicklung, d.h. auf Produktivitätssteigerung, Effizienz und vor allem technologische Innovation verzichten, steuerte Unmüßig auf den nächsten Kritikpunkt zu. Neben der besseren und wirtschaftlicheren Nutzung von Ressourcen seien auch Forschung und Industrie angefordert, z.B. Substitutionen für Erdöl zu schaffen, um aus der Abhängigkeit von diesem Rohstoff herauszukommen.

Neue Produkte und neue Geschäftsfelder etablieren einerseits alte Wirtschaftspraktiken, um die Ressourcenproduktivität zu erhöhen, was einem "Business as usual" mit grünem Vorzeichen gleichkommt. Zum anderen entstehen dadurch vermeintlich alternative Technologien, die beispielsweise "synthetische Biologie" genannt werden; auch die Gentechnik oder andere vermeintlich technologische Allheilmittel gehören dazu, die Biomasse als Vorstufe und Produktionsfaktor für Erdölersatzstoffe produzieren. Diese absolut technikfixierte Forschung an Substitutionen für alle erdenklichen Ressourcen wird zur Abgrenzung von den Konzepten der "Grünen Ökonomie" als Bioökonomie bezeichnet. Und sie birgt zweifellos ganz neue, ungeahnte soziale und ökologische Risiken und Nebenwirkungen für Mensch und Umwelt, wie sie teilweise schon an Geoengineering-Maßnahmen wie Ozeandüngung, Spiegel im Weltall oder genmanipulierte Organismen zur Sprache gekommen sind.

Unmüßig nahm hier den Agrosprit als Beispiel, für den Mais oder andere Agrarpflanzen, die normalerweise auch zur Nahrungsmittelproduktion genutzt werden könnten, industriell verarbeitet werden, um Treibstoff zu produzieren. Schon sei man bei Themen wie "der Flächenkonkurrenz". Nicht alles, was man substituiert, könne man auch eins zu eins grün und sozial nennen. Man müsse schon genau hinsehen, wer eigentlich von diesen neuen Technologien profitiere.

In der anschließenden Diskussion ergänzte Lili Fuhr, daß auch die neuen Profiteure oftmals alte, etablierte Wirtschaftskonzerne und industrielle Machtkomplexe sind, die sich in Joint Ventures mit anderen Biotechnologiefirmen zusammengeschlossen haben. So prägten die Kontrolle der sogenannten grünen Energien und der wichtigsten Nahrungsmittelpflanzen über Hochertragssorten oder genetisch verändertes Saatgut die Geschäftspolitiken großer Firmen wie Monsanto, Procter & Gamble, Chevron, BASF. Big Energy, Big Pharma, Big Food und Big Chemical gingen immer neue Allianzen untereinander ein - ein weiteres Beispiel für "Business as usual".


Der Mythos von der Entkopplung des Bruttoinlandprodukts vom Ressourcenverbrauch

Ressourcen- und Effizienzrevolution sei derzeitig das Mantra grüner Wirtschaftskonzepte. Dabei ginge es vor allem darum, die Produktion vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Je geringer der Ressourcenaufwand (z.B. der Produktionsmittelverbrauch), umso höher die Öko-Effizienz einer Ökonomie. Das versucht man über neue Techniken, Verfahren und Produkte, die den Verbrauch von Energie und Materialien drastisch absenken, zu erreichen. Doch wie sich herausstellt, ist auch das ein Traum. Unmüßig gab an, daß bereits dem Schlußbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags zu Wohlstand, Wachstum und Lebensqualität im Dezember 2011 zu entnehmen sei, daß es bisher weltweit kein Beispiel für eine gelungene "absolute Entkoppelung" gibt.

Schuld daran sei der sogenannte "Rebound-Effekt", der für viele Bereiche gilt und sich quasi als Altlast des herkömmlichen Wirtschaftsdenkens einstellt. Sobald irgendwo irgendetwas eingespart werde, würde dies durch ein "Mehr" an anderer Stelle ausgenutzt. Günstige Preise erhöhen den Konsum - das nennt man beim Gütererwerb umgangssprachlich "Schnäppchen".

Das gleiche geschieht, wenn Effizienzgewinne durch die Entwicklung von leichteren oder ausgefeilterer Motoren, Heizungen mit höheren Wirkungsgrad oder einer umfassenden Wärmedämmung bei Gebäuden erzielt werden und dann im Rebound-Effekt durch größere und schwerere Autos, verschwenderische Wärmeregelung über stundenlang geöffnete Fenster, größere Häuser und weitere Formen des vermeintlichen Gewinns an Lebensqualität aufgebraucht werden. Anders gesagt wird Effizienz durch Wachstum aufgefressen.

Großen Wert maß die Referentin auch der Notwendigkeit bei, endlich auf verschiedenen Gebieten planetare Obergrenzen festzulegen, die jedoch, abgesehen von den bekannten Forderungen für den Klimabereich, auch jetzt nicht auf der Agenda für Rio+20 stehen. Auf Nachfrage des Schattenblicks wurde deutlich, daß sich diese Grenzen nicht nur sehr schwer abschätzen lassen, sondern daß die Pläne, eine Kontrollinstanz für eine Aufsicht auf globaler Ebene zu entwickeln, bereits von China, Rußland und den USA unterlaufen wurden, indem sie die dafür notwendige Aufwertung von UNEP als Sonderorganisation verhinderten.


Menschenrechte bleiben auf der Strecke

Zahllose Punkte konnten in der Kürze der Zeit nicht mehr angesprochen werden. Der letzte und vielleicht aussagekräftigste Punkt für das Konzept der grünen Ökonomie als ein "Business as usual im grünen Kleid" war jedoch der komplette Ausschluß jedweder sozialen und Menschenrechtsdimension in den vorliegenden Plänen.

In den Konzepten der grünen Ökonomie würde gemeinhin vom Ideal einer gerechten Welt ausgegangen und damit die Augen vor der Realität verschlossen. Es gäbe daher in sämtlichen zur Diskussion stehenden Papieren oder Vorschlägen keinerlei Anmerkungen dazu, wie mit nationalen oder globalen Verteilungsfragen umgegangen werden sollte. Ihre größte Kritik an der grünen Ökonomie sei, daß sie "sozialblind" und "geschlechterblind" sei, also der sozialen Fragestellung keinerlei Vorrang einräume. Das müsse wie bereits die Sonderberichterstatter der UN für Menschenrechte in einem offenen Brief an die Öffentlichkeit gefordert hätten, "dringend korrigiert werden".

Mit dem von Vorteilsstreben und Ausbeutung anderer bestimmten Wirtschaftsgedanken jedweder Couleur läßt sich das allerdings schlecht vereinbaren.

Thomas Fatheuer - Foto: © 2012 by Schattenblick

Thomas Fatheuer
Diese Konferenz sollte nie etwas anderes liefern als 'Strong words'. Es war nie die Rede von konkreten Verhandlungen oder neuen Abkommen.
Foto: © 2012 by Schattenblick


Armutsverringerung und regenerative Energien - Brasiliens Verhandlungsmasse für Rio+20

Der Gastgeber der Rio+20-Konferenz habe in den letzten zwanzig Jahren eine bemerkenswerte Wandlung erfahren, berichtete Thomas Fatheuer. Als er 1992 im Rahmen des Deutschen Entwicklungsdienstes nach Rio gekommen sei und seinen Wohnsitz dorthin verlegt habe, sei noch Fernando Collor de Mello als erster frei gewählter Präsident Brasiliens an der Macht gewesen. Im selben Jahr wurde er wegen Korruption des Amtes enthoben. Die Militärdiktatur lag gerade mal sieben Jahre zurück, eine verheerende Inflation von über 1000 Prozent jährlich hatte die Wirtschaft klein und die Menschen arm gehalten.

Mit dem Amtsantritt von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva Anfang 2003 hätten sich die Verhältnisse gewandelt. Lula, wie der frühere Gewerkschaftsführer genannt wird, förderte die Wirtschaft und legte erfolgreiche Armutsbekämpfungsprogramme auf, so daß Brasilien die Millenniumsziele locker erreicht hat. Die von ihm als seine Nachfolgerin vorgeschlagene Dilma Rousseff setzt die Politik der Lula-Ära im wesentlichen fort und erhält dafür hohe Zustimmungsraten in der Bevölkerung. 80 Prozent bezeichneten die Regierung gut bis sehr gut. Ein treffender Ausdruck des Wandel ist für Fatheuer auch, daß heute China wichtigster Handelspartner Brasiliens ist, zur Zeit der ersten Rio-Konferenz hingegen sei die Handelsbilanz unbedeutend gewesen.

Nach den Bestimmungen des Klimaschutzabkommens von Kyoto ist Brasilien nicht dazu verpflichtet, seine CO2-Emissionen zu senken. Jedoch hat die Regierung auf der nahezu komplett gescheiterten Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen freiwillige Klimaschutzziele verkündet, deren CO2-Einsparpotential das des gesamten Kyoto-Protokolls übertrifft. In diesem Selbstverständnis und mit entsprechend ausgeprägtem Selbstbewußtsein werden die Gastgeber der Konferenz Rio+20 auftreten.

Der Referent ging in diesem Zusammenhang nicht näher auf die Bezeichnung "Einsparung" ein, doch ist sie einer kritischen Betrachtung wert. Es handelt sich um einen abstrakten Rechenwert. Brasilien will seine Entwaldung bis 2020 um 80 Prozent verringern. Laut Fatheuer wurden 1992 noch 14.000 Quadratkilometer Wald jährlich abgeholzt, inzwischen sind es knapp 7000 Quadratkilometer. Es wird also weiter abgeholzt, nur eben mit langsamerer Geschwindigkeit. Da stellt sich natürlich die Frage, ob der Wald nicht weiterhin auf dem Weg ist, allmählich zu verschwinden. Der scheinbare Klimaschutz ergibt sich somit daraus, daß weniger Bäume gefällt werden. Den nicht-gefällten Bäumen wird dann ein CO2-Emissionswert zugewiesen, der freigesetzt würde, würde man sie fällen.

Keine Frage, entwicklungspolitisch ist es ein riesiger Erfolg, wenn Brasilien die Entwaldung kräftig reduziert, und rein rechnerisch darf das Land sehr wohl Anspruch darauf im Sinne des Klimaschutzes erheben. Dennoch kann ein letzter Rest von Unbehagen über solche Rechnungen nicht ausgeräumt werden, erinnern sie doch sehr an die Konzepte und Kniffe der Industriestaaten, ihre wachstumsgestützte Wirtschaft von CO2-Einsparmaßnahmen zu entlasten, indem sie Wiederaufforstungsprogramme in ärmeren Ländern finanzieren (inklusive Verlagerung der Verfügungsrechte über die "CO2-Schutzgebiete"!) oder die eigenen Umwelttechnologien in andere Länder exportieren (Wahrung des technologischen Vorsprungs!). Selbst der Anbau gentechnisch veränderten Getreides wird von Agrokonzernen wie Monsanto als "klimafreundlich" verkauft, da die bewirtschafteten Flächen nicht umgepflügt werden müssen und dadurch weniger Treibhausgase in die Atmosphäre gelangen.


Schatten auf der grünen Lunge der Erde

Brasilien bestreitet 80 Prozent seines elektrischen Energieverbrauchs aus sogenannten erneuerbaren Quellen. Das klingt großartig. In erster Linie wird Wasserkraft genutzt. Hier setzt Thomas Fatheuer einen seiner Kritikpunkte an der brasilianischen Regierungspolitik an: Wasserkraft wird mittels Großstaudämmen generiert, und die sind extrem umweltschädlich. Außerdem werden dafür Tausende bis Zehntausende Indigene vertrieben. In Amazonien wird zur Zeit das drittgrößte Staudammprojekt der Welt gebaut, Belo Monte. Am Fluß Xingu, der in den Amazonas mündet, sollen drei Talsperren mit einer Leistung von zusammen 11.000 Megawatt errichtet werden und zwei Stauseen entstehen. Insgesamt habe Brasilien bereits 41.000 Megawatt Wasserkraft "inventarisiert", berichtete Fatheuer, der deutlich machte, daß sich in solchen gigantischen Wachstumsprojekten die Kehrseite der regenerativen Energiegewinnung zeigt. Die frühere Debatte um Staudämme setze sich heute in der Debatte um CO2-arme Technologien fort: "Am Beispiel der Großstaudämme zeigt sich, daß in der Grünen Ökonomie ein unglaubliches Konfliktpotential angelegt ist."

Thomas Fatheuer - Foto: © 2012 by Schattenblick

Thomas Fatheuer
Zehntausende Indigene werden durch den Ausbau von Wasserkraft vertrieben.
Foto: © 2012 by Schattenblick

Thomas Fatheuer - Foto: © 2012 by Schattenblick

Ein weiterer Kritikpunkt des Referenten: Brasilien ist heute gemeinsam mit den USA Weltführer im Bereich der Agrartreibstoffe. Ethanol auf Zuckerrohrbasis sei zwar erheblich energieeffizienter als auf Mais, der in den USA vorzugsweise angebaut wird, dennoch seien in Brasilien riesige Monokulturflächen entstanden. Auch hier haben wieder einmal vor allem die Indigenen das Nachsehen. Außerdem geht Monokultur mit dem Verlust der Biodiversität einher, und Monokulturen entziehen der Atmosphäre weniger CO2.

Ob die Erfolge in der Reduzierung der Entwaldung für die Zukunft gesichert sind, werde von vielen Brasilianern, die er gefragt habe, kritisch gesehen, berichtete Fatheuer. Zu dem aufschlußreichen Vortrag wäre zu ergänzen, daß auch die Auswirkungen des Ersatzes tropischen Regenwalds durch großflächige Monokulturflächen auf das regionale oder sogar globale Klima noch wenig erforscht sind. So besitzt die Vegetation des Amazonas-Regenwalds rechnerisch eine riesige Blattoberfläche, an der es zur Verdunstung kommt. Das fördert die Wolkenbildung, und es regnet stark und kräftig, wovon wiederum der Wald zehrt. Für unkrautbefreite Monokulturen jedoch gilt das sehr viel weniger. Welche Folgen das für die Niederschlagsmenge, -art und -verteilung hat und letztlich für das großräumige Klima, ist sicherlich vom Verhältnis der so genutzten Flächen zum übrigen Regenwald abhängig. Zu vernachlässigen ist dieser Wirkmechanismus aber nicht.

Obgleich Brasilien gute Erfolge in der Armutsbekämpfung verzeichnet habe, die Millenniumsziele erfüllen werde und sehr viel regenerative Energien zur elektrischen Stromerzeugung verwende, täten sich in Brasilien enorme Konflikte auf, erklärte Fatheuer. Die maßgebliche Kritik an Brasilien und der Rio+20-Konferenz gehe vom People's Summit aus, einer Art Gegengipfel, der von einem breiten Bündnis an NGOs ausgetragen wird. Dessen Spanne reiche von den radikaleren Landlosen bis zu regierungsnahen Gewerkschaften. Auch die Umweltorganisation Greenpeace unterstütze den People's Summit, der WWF dagegen nicht. Die Regierung habe im Vorfeld zu einem Dialog mit den NGOs aufgerufen. Dem hätten aber die Leute vom People's Summit eine klare Absage erteilt, weil sie keinen Sinn darin sähen, an einer Propagandaveranstaltung der Regierung teilzunehmen.

Einer der grundlegenden Konflikte zwischen Zivilgesellschaft und Regierung betrifft das neue Waldgesetz, eine Reform, die in Brasilien seit zwei Jahren diskutiert wird. Gegen Teile davon hat Präsidentin Dilma Rousseff kürzlich ihr Veto eingelegt. In dem flächengrößten Staat Lateinamerikas sind 80 Prozent der Waldfläche unter Schutz gestellt, Privatbesitzer dürfen nur 20 Prozent ihres Waldes abholzen. Allerdings sei in der Vergangenheit viel Wald illegal abgeholzt worden. Nun hätten in Brasilien neue Interessen aus dem Agrarsektor Einfluß genommen, sagte Fatheuer. Die wollten erreichen, daß die Schutzmaßnahmen für den Wald gelockert werden, und begründeten ihre Forderung damit, daß Brasilien eine Landwirtschaftsgroßmacht sei. Das Waldgesetz dagegen stelle vom Standpunkt der Agrarlobby aus, die den Reformentwurf ins Parlament eingebracht habe, ein Entwicklungshemmnis dar. Das Gesetz sei äußerst kompliziert. Das drücke sich unter anderem in dem eklatanten Widerspruch zwischen der Interpretation der Regierung, derzufolge die umstrittene Amnestie für das Vergehen der illegalen Waldrodung vom Tisch sei, und der Deutung des Gesetzes durch Nichtregierungsorganisationen aus, die das genaue Gegenteil behaupteten.

Laut Fatheuer gibt es Amnestien für verschiedene Arten von Nutzung. Besitzer von Grundstücken, die vor 2008 entwaldet wurden, würden anders behandelt als jene, die ab 2008 einen konsolidierten Agrarbetrieb hätten. Darüber hinaus dürfe künftig mit exotischen Pflanzen, also Eukalyptus, Pinien oder Akazien, aufgeforstet werden, was eindeutig eine Verschlechterung gegenüber der früheren Waldgesetze sei.

Barbara Unmüßig - Foto: © 2012 by Schattenblick

Barbara Unmüßig
'Wir brauchen multilaterale Debatten, um über mögliche Antworten auf die Krisen zu streiten.'
Foto: © 2012 by Schattenblick

Das Resümee: Rio+20 bietet aus der Sicht der Heinrich-Böll-Stiftung wenig Tröstliches. Es werden "politische Statements ohne rechtsverbindlichen Charakter" abgegeben, faßte Barbara Unmüßig abschließend ihre Einschätzung zusammen. Aber als Erfolg werteten sie, Lili Fuhr und Thomas Fatheuer die Chance, daß das Umweltthema wieder verstärkt in die öffentliche Debatte eingebracht wird und die Rio-Konferenz in jüngster Zeit eine breite Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfahren hat. Zudem machte Fuhr darauf aufmerksam, daß die Debatte um Gemeingüter - "Commons als Paradigma jenseits von Staat und Markt und was das für Wirtschaftsproduktions- und Lebensweisen beinhalte" - vor wenigen Jahren noch eher ein Nischendasein gefristet, inzwischen aber unter anderem über die Weltsozialforen in den Rio-Prozeß Eingang gefunden habe. Wie eine echte Ökologisierung der Wirtschaft aussehen könnte, das werde uns, so Unmüßig, wohl noch viele, viele Jahre beschäftigen.


Anmerkungen:

[1] Lili Fuhr leitet das Referat Internationale Umweltpolitik der Heinrich-Böll-Stiftung und koordiniert Aktivitäten und Arbeit in Rio zusammen mit dem Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio. Sie wird dort vor allem den Gipfel der Völker, der parallel zum Gipfel, vom 15. bis 23. Juni 2012, stattfindet, mit Veranstaltungen unterstützen.

[2] Barbara Unmüßig war 1991 und 1992 Leiterin der Projektstelle der UN- Konferenz Umwelt und Entwicklung des Deutschen Naturschutzrings und des BUND. Sie hat in dieser Funktion den Erdgipfels in Rio 1992 mit vorbereitet und die Arbeit der Umwelt- und Entwicklungskommission koordiniert. Ein Interview mit Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, können Sie hier lesen:
www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0015.html

[3] Thomas Fatheuer war lange Jahre Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Brasilien, hat im Bereich des Schutzes tropischer Regenwälder gearbeitet, publiziert für das brasilianische Entwicklungsmodell und hat die Broschüre "Buen Vivir" (Das gute Leben) der Heinrich-Böll-Stiftung geschrieben. Ein Interview mit Thomas Fatheuer anläßlich des Pressebriefings wurde unlängst veröffentlicht:
www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0017.html

[4] Siehe auch: www.factory-magazin.de/news/beitrag/artikel/living- planet-report-2012-wir-verbrauchen-anderthalb-planeten.html

[5] Schattenblick → Infopool → Umwelt → Report
BERICHT/014: Konferenz Rio+20 - grüner Kapitalismus in den Startlöchern (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0014.html
und:
www.wwf.de/themen-projekte/biologische-vielfalt/reichtum-der- natur/der-living-planet-report/

[6] Die sogenannte Roadmap hielt Barbara Unmüßig in ihrem Bericht für eines der wichtigsten Papiere der UNEP, das schon im Februar 2011 mit dem Titel "Pathways to a green economy" veröffentlicht worden sei. In dem 600-seitigen Kompendium wird letztlich weiter nichts vorgeschlagen als ein Konzept, wie man in 10 Schlüsselsektoren "grüner investieren kann", um zu einem "kohlenstoffärmeren, ressourceneffizienteren und armutsorientierteren Entwicklungsweg" gegenüber den Entwicklungsländern zu kommen. Nur zwei Prozent des Bruttosozialproduktes sollen dafür allerdings pro Jahr ausreichen - ein Witz.

[7] Zum Thema "schädliche Subventionen" hatte der Schattenblick im Rahmen eines Interviews im Anschluß an die Veranstaltung Gelegenheit, Lili Fuhr noch genauer zu befragen. Die Referentin versteht unter schädlichen Subventionen beispielsweise Unterstützungen für fossile Energieträger, für die laut dem Deutschen Institut für Entwicklungspolitik beispielsweise allein im Jahr 2010 weltweit 409 Milliarden US-Dollar aufgebracht wurden und die in diesem Jahr die Billionengrenze überschreiten werden. Eine Abschaffung der Subventionen hätte zunächst eine Verteuerung der Treibstoffpreise zur Folge und würde vor allen den weniger bemittelten Nutzer dieser Rohstoffe bei jeder Tankfüllung dazu zwingen, über das Thema nachzudenken.
Zu diesem Thema folgt in kürze ein Schattenblick-Interview mit der Referentin.

[8] Als erneuerbare Energien, regenerative Energien oder alternative Energien werden Energieträger bezeichnet, die in kurzen Zeiträumen und mittels des Einflusses der Menschen praktisch unerschöpflich zur Verfügung stehen oder sich verhältnismäßig schnell "erneuern". Damit grenzen sie sich von fossilen Energien ab, die sich zwar ebenfalls aus der Sonnenenergie regenerieren, dies jedoch verhältnismäßig langsam über den Zeitraum von Millionen von Jahren. Erneuerbare Energien ('EE') gelten daher als nachhaltig nutzbare Energieressourcen, zu denen insbesondere Wasserkraft, Windenergie, solare Strahlung, Erdwärme und nachwachsende Rohstoffe zählen.

[9] siehe auch Broschüre der Heinrich-Böll-Stiftung, Band 22, "Kritik der grünen Ökonomie - Impulse für eine sozial und ökologisch gerechte Zukunft" von Barbara Unmüßig, Wolfgang Sachs und Thomas Fatheuer.
URL: www.boell.de/publikationen/publikationen-kritik-der-gruenen- oekonomie-rio-plus-20-14630.html

12. Juni 2012

Hauptquartier der Heinrich-Böll-Stiftung - Foto: © 2012 by Schattenblick

Hauptsitz der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin, Schumannstraße
Foto: © 2012 by Schattenblick