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BERICHT/107: Am Beispiel Indien - tradierte Vergeblichkeit ... (SB)


Nuclear Lies - Atomlügen

Filmvorführung am 23. September 2015 im Hamburger Centro Sociale

Teil 3: Widerstand gegen das Atomkraftwerk Kudankulam im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu


Vor kurzem hat die indische Regierung ihre Pläne zur zukünftigen Energiepolitik vorgestellt. Dabei nimmt der Ausbau der erneuerbaren Energien eine herausragende Stellung ein. Aber auch die Atomenergie soll künftig vermehrt elektrischen Strom produzieren, um Indiens wachsenden Energiehunger zu stillen. Übers Land verteilt sollen mehrere Dutzend Akws und andere Einrichtungen der nuklearen Infrastruktur entstehen, unter anderem ist für den Standort des Akw Kudankulam (andere Schreibweise: Koodankulam) der Bau zweier weiterer Reaktoren, Kudankulam III und IV, vorgesehen. Im nächsten Jahr sollen für sie die Betonfundamente gegossen werden.


Hunderte Menschen am Strand und im Wasser, nur rund zwanzig Meter darüber fliegt eine Propellermaschine, im Hintergrund die Kuppel des Akw Kudankulam I. Bei solch einem knappen Überflug ist einmal ein Demonstrant von einer Klippe gerutscht und tödlich verunglückt - Foto: © Amirtharaj Stephen

In Sichtweite des Akw Kudankulam I fliegt am 13. September 2013 ein Flugzeug der Küstenwache über Dorfbewohnerinnen und -bewohner hinweg, die als Ausdruck ihres Protestes ins Meer gegangen waren.
Foto: © Amirtharaj Stephen

Schon vor vielen Jahren hat sich eine breite Protestbewegung gegen dieses Atomkraftwerk an der Südspitze Indiens formiert, und genauso lange geht die Regierung hart gegen die Menschen, die sich dem vermeintlichen Fortschritt widersetzen, vor. Davon berichtet der indische Dokumentarfilmer Praved Krishnapilla in seinem per Crowdfunding finanzierten 72minütigen Film "Nuclear Lies", der in den zurückliegenden Monaten in einer Reihe deutscher Städte gezeigt wurde. Am 23. September präsentierten Krishnapilla und Peter Moritz vom Anti-Atom-Plenum Frankfurt den Film im Hamburger Centro Sociale. Dazu eingeladen hatten die Anti-Akw-Aktivisten Antje Kröger-Voss und Dieter Kröger, die selber einen Film gegen Atomenergie ("Unser gemeinsamer Widerstand") produziert haben.

Indien hat seit dem 26. Januar 1950 eine eigene Verfassung, durch die es zur Republik wurde. Doch schon zwei Jahre zuvor war die indische Atombehörde gegründet worden. Sie habe immer über der Verfassung gestanden, heißt es in dem Film. Was vielleicht zunächst übertrieben klingt, wird mit starken Argumenten unterfüttert. Ähnlich wie in Deutschland wird auch in Indien eine Politik von oben herab (top-down) praktiziert. So ist die indische Bevölkerung verfassungsrechtlich nicht davor gefeit, durch die Regierung von ihrem Grund und Boden vertrieben zu werden, sobald "höhere" Interessen geltend gemacht werden.

Am 20. November 1988 unterzeichneten der indische Premierminister Rajiv Gandhi und der sowjetische Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) Michail Gorbatschow einen Vertrag zum Bau von zwei Atomreaktoren. Als Standort wurde der äußerste Süden des Subkontinents ausgesucht. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Idinthakarai und anderen Dörfern in dieser Region haben frühzeitig dagegen protestiert.


Dicht gedrängte Menschenmenge füllt dörflichen Kirchplatz vollständig aus - Foto: © Amirtharaj Stephen

Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfs Koothankuli, die aufgrund der Verhängung einer Ausgangssperre daran gehindert wurden, nach Idinthakarai zu gehen, versammeln sich am 10. Mai 2012 vor der Kirche und skandieren Parolen gegen die Regierung.
Foto: © Amirtharaj Stephen

Einen Höhepunkt erlebte die südindische Anti-Akw-Bewegung 1989, als sich 50.000 bis 60.000 Protestierende aus Tamil Nadu und dem angrenzenden Bundesstaat Kerala zu einer Demonstration einfanden - eine ungeheuer große Zahl an Menschen für ein Gebiet, von dem der damalige Gouverneur behauptete, es sei menschenleer, dort könne ohne weiteres ein Atomkraftwerk gebaut werden. Auch das Dorf Idinthakarai gab es in der Wahrnehmung des Politikers offenbar nicht ..., daß dort eine 107 Jahre alte Kirche steht, und Zeugnisse menschlicher Besiedlung mindestens 500 Jahre in der Geschichte zurückreichen, hat er wohl aus taktischen Gründen "übersehen".

In Folge dessen hat sich die Regierung geweigert, den Untersuchungsplan zu den Baugründen mit der Öffentlichkeit zu teilen. Andernfalls wäre die Lüge der "Menschenleere" des Standorts entlarvt worden. Weil die Widerstandsbewegung gegen das Akw Kudankulam auch von Menschen christlichen Glaubens getragen wird, behaupte die Regierung, daß die Proteste einen religiösen Hintergrund haben, erklärte Krishnapilla am Rande der Filmvorführung dem Schattenblick.

"Nuclear Lies" begibt sich zu verschiedene Stationen der atomaren Infrastruktur, von der Urangewinnung über den Abbrand der Brennelemente bis zur Endlagerung atomarer Abfälle. Ausführlich widmet sich der Film jenem südindischen Konfliktgebiet. Aus Protest gegen das Akw Kudankulam haben anfangs 18.000 Menschen auf einem öffentlichen Platz geschlafen. Eine Zeitlang wurde versucht, die Regierung mit Hungerstreiks unter Druck zu setzen, teils mit Hunderten Beteiligten. Begleitet von vielen Aktionen wie der seeseitigen Blockade des Akw wird seit August 2011 ein in Frauen und Männer getrennter Kettenhungerstreik mit wechselnder Beteiligung durchgeführt.

Eine Frau berichtet, daß sich der Widerstand bereits in der dritten Generation fortsetzt. Sie sei im Alter von 15 Jahren von ihrer Mutter zu den Protesten mitgenommen worden und nun nehme sie ihre eigene 15jährige Tochter mit. "Wenn mir etwas passieren sollte, werden meine Kinder den Protest weiterkämpfen", brachte die Mutter ihre Entschlossenheit zum Widerstand zum Ausdruck.


Behelmte, mit Knüppeln bewaffnete Polizisten attackieren auf einem Strand Napoleon und andere Protestierenden - Foto: © Amirtharaj Stephen

Napoleon, ein Einwohner von Idinthakarai, versucht zu fliehen, während er von der Polizei angegriffen wird - 10. September 2012.
Foto: © Amirtharaj Stephen

Was die Akw-Befürworter als Sturköpfigkeit, religiös motivierten und von ausländischen Kräften gesteuerten Widerstand oder pure Fortschrittsfeindlichkeit mutmaßlich rückständiger Dorfbewohner abtun wollen, erweist sich bei genauerer Betrachtung als nackte Überlebensratio. Sollte es zu einem Nuklearunfall mit Strahlenfreisetzung kommen, wären die 50.000 Anwohnerinnen und Anwohner des Atomkraftwerks Kudankulam die ersten, die der radioaktive Fallout träfe. Eine Evakuierung wäre gar nicht möglich, lautet einer der Kritikpunkte an dem Akw. Wenn bereits in einem Hochtechnologieland wie Japan ein Atomkraftwerk (Fukushima Daiichi) von Erdbeben und Tsunami zerstört werden kann, wie leicht könnte das in einem Land wie Indien passieren, fragen die Menschen mit Blick darauf, daß sogar das im Bau befindliche Akw Kudankulam einmal von einem Tsunami überschwemmt worden war.

Von den zwei Reaktoren, die von russischer Bauart sind und von der Nuclear Power Corporation of India Ltd (NPCIL) betrieben werden, liefere überhaupt nur einer Strom, der andere diene als "Ersatzteillager", berichtete Peter Moritz im Anschluß an die Präsentation von "Nuclear Lies" in einer Gesprächsrunde mit dem Publikum. Der erste Reaktor ist am 22. Oktober 2013 erstmals ans Netz gegangen - nach 35 Verspätungen. Die Menschen würden jedoch in Unklarheit gelassen, weswegen immer wieder Verzögerungen beim Hochfahren des Reaktors aufgetreten waren. Und in dem kurzen Zeitraum bis zum Beginn der kommerziellen Inbetriebnahme am 31.12.2014, ab dem das Akw maximal bis zu 60 Prozent ausgelastet war, sei es schon zu 15 Notabschaltungen gekommen. Jede von ihnen barg laut der "Times of India" ein hohes Risikopotential. [1]

Wegen der jährlichen Wartungsarbeiten ist Kudankulam I seit dem 24. Juni ebenfalls abgeschaltet, das Hochfahren verzögert sich mindestens bis zum 7. Oktober, wie NDTV Ende September meldete. [2] Doch trotz der vielen Verzögerungen und Notabschaltungen hat die Atomaufsichtsbehörde AERB (Atomic Energy Regulatory Board) in diesem Jahr die Betriebserlaubnis für das Akw um fünf Jahre verlängert.


Eine Frau liegt halb im Wasser und schreit. Von ihr abgewandt stehen Dutzende, mit Stöcken bewaffnete Sicherheitskräfte am Strand und blicken Richtung Meer - Foto: © Amirtharaj Stephen

Xavieramma, Einwohnerin des Dorfs Idinthakarai, ruft um Hilfe, nachdem sie von der Polizei ins Meer gejagt wurde. Später helfen ihr die Sicherheitskräfte aus dem Wasser - 10. September 2012.
Foto: © Amirtharaj Stephen

Wahrscheinlich sind sich die ausländischen Partnerorganisationen der indischen Atomwirtschaft u.a. aus Rußland, Frankreich, USA, Großbritannien, Kanada, Australien, China und Deutschland über den desolaten Zustand des Akw Kudankulam - nicht zuletzt weil der russische Maschinenbauer ZiO-Podolsk minderwertige Ware als High-tech-Produkte verkauft hat [3] - und anderer indischer Atomkraftwerke wie beispielsweise die 46 Jahre alten Siedewasserreaktoren Tarapur-1 und -2 mit einer Leistung von je 160 MW im klaren, aber das hindert sie nicht an der höchst umstrittenen nuklearen Kooperation mit der aufstrebenden Weltmacht festzuhalten.

Nach internationalem Recht, wenn nicht illegal, dann zumindest illegitim, ist die 2005 von den USA unter Präsident George W. Bush jun. eingeleitete Zusammenarbeit mit Indien auf dem Gebiet der Nukleartechnologie. Das Land hat den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet und unterhält ein Atomwaffenprogramm, aufgrund dessen bis heute rund 110 Atombomben gebaut wurden. Die Brisanz dieser Kooperation zeigt sich auch daran, daß über den Unterzeichnerstaat Iran aufgrund der bloßen Unterstellung, er wolle Atomwaffen bauen, Sanktionen verhängt wurden, die seinen legalen Anspruch auf die zivile Nutzung der Kernenergie einschränken, während der Atommacht Indien trotz verweigerter Einbindung in ein Rüstungskontrollabkommen nichts dergleichen droht. In Anbetracht der Atomkriegsgefahr, die aus dem Konflikt mit dem ebenfalls nuklear gerüsteten und nicht dem Atomwaffensperrvertrag angehörenden Nachbarn Pakistan resultiert, geht vom massiven Ausbau der zivilen Nutzung der Atomenergie in Indien permanente Eskalationsgefahr aus.

Die Hungerstreikenden gegen das Akw Kudankulam sehen sich einflußreichen Interessen gegenüber, die für den Ausbau der Nuklearwirtschaft eintreten. Entsprechend harsch fallen die Repressionen der indischen Regierung gegen die Protestierenden aus. Daran dürfte sich so bald nichts ändern. Indien hat vor wenigen Tagen die Weichen für seine Energiepolitik der nächsten Jahre gestellt. Um den Energiebedarf des Landes, dem ein Wirtschaftswachstum von über acht Prozent prognostiziert und das in wenigen Jahren China als bevölkerungsreichstes Land der Erde überholen wird, bei gleichzeitiger Elektrifizierung auch des ländlichen Raums zu sichern, ist unter anderem der Ausbau der erneuerbaren Energien - hier besonders der Solarenergie - und eine Rücknahme der klimaschädlichen Kohleverbrennung vorgesehen. Außerdem soll noch sehr viel mehr Atomenergie produziert werden. [4]

Da wundert es nicht, daß die "größte Demokratie der Welt" das gesamte Arsenal an exekutiver, legislativer und judikativer Gewalt gegen die Protestbewegung an der Südspitze des Landes auffährt. Hunderte Aktivistinnen und Aktivisten werden vor Gericht gezerrt [5], die Regierung schränkt per Gesetz die Aktivitäten von Umweltorganisationen wie Greenpeace India ein (was hierzulande ganz im Gegensatz zum Vorgehen der russischen Regierung gegen Greenpeace in der Arktis zu keinem Aufschrei der Empörung geführt hat ...) und läßt Demonstrationen von der Polizei niederknüppeln. Zudem hat das Oberste Gericht Indiens im Jahr 2013 ein Urteil gesprochen, wonach Kudankulam unter bestimmten Auflagen gebaut werden darf. [6]

Noch vor vier Jahren war es den Protestierenden gelungen, den Weiterbau von Kudankulam I zu verzögern. Die Hoffnung, daß David Goliath bezwingen könnte, war jedoch verfrüht. Wie so oft in der Menschheitsgeschichte scheint auch im Konflikt um die Atomenergie in Indien am Ende derjenige zu obsiegen, der über die schlagkräftigeren Gewaltmittel verfügt. Hatte die Nuklearkatastrophe von Fukushima Daiichi im März 2011 der indischen Anti-Akw-Bewegung noch reichlich Zulauf beschert, scheint das Aufbegehren gegen die neoliberale Politik der hindunationalistischen Regierungspartei BJP (Bharatiya Janata Party) unter Premierminister Narendra Modi mehr und mehr zu versiegen. Indem dieser nun den Schwerpunkt seiner Energiepolitik auf den Ausbau der Erneuerbaren gelegt hat, kann er in deren Windschatten ein Atomenergieprogramm betreiben, durch das in der Vergangenheit Hunderte Menschen verstrahlt wurden und das die Risiken weiterer Schädigungen von Mensch und Umwelt deutlich erhöht.


Nachtaufnahme mit liegenden Menschen am Strand, im Hintergrund grelle Scheinwerfer und das Akw am Horizont - Foto: © Amirtharaj Stephen

Aus Protest gegen die Inbetriebnahme des Akw Kudankulam übernachten Tausende von Dorfbewohnerinnen und -bewohnern gemeinsam mit ihren Kindern am Strand in der Nähe des Atomreaktors - 9. September 2012
Foto: © Amirtharaj Stephen

Zur Vorführung des Films "Nuclear Lies" am 23. September 2015 im Hamburger Centro Sociale sind bisher im Pool UMWELT → REPORT erschienen:

BERICHT/105: Am Beispiel Indien - Vorwand Strom ... (SB)
Teil 1: "Kollateralschäden" der Atomenergieproduktion im Kontext der Herrschaftssicherung

BERICHT/106: Am Beispiel Indien - weltweites Bündnis gegen Kernkraftlogistik ... (SB)
Teil 2: Der Hamburger Hafen - Drehscheibe für Nukleartransporte auch nach Indien


Fußnoten:


[1] http://timesofindia.indiatimes.com/india/Power-outages-at-Kudankulam-nuclear-plant-dangerous-Study/articleshow/44964844.cms

[2] http://www.ndtv.com/south/restart-of-kudankulam-nuclear-plant-delayed-further-1222815

[3] http://www.counterpunch.org/2013/08/05/the-supreme-court-of-indias-judgment-on-the-kudankulam-nuclear-plant/

[4] http://www.huffingtonpost.in/2015/10/03/solar-climate_n_8236374.html

[5] http://www.thehindu.com/news/national/tamil-nadu/antinuke-protesters-appear-before-court/article7555883.ece

[6] http://judis.nic.in/supremecourt/imgs1.aspx?filename=40374

9. Oktober 2015


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