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INTERVIEW/197: Aus berufenem Mund - Anti-AKW, der Widerstand ...    Dieter Kröger im Gespräch (SB)


Vorführung des Films "Unser gemeinsamer Widerstand" und anschließende Diskussion am 14. Januar 2016 im Altonaer Museum, Hamburg


Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Bundesrepublik Deutschland von den westlichen Besatzungsmächten als Frontstaat gegenüber der Sowjetunion in Stellung gebracht. Wobei der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer nicht einfach nur eine Wiederbewaffnung anstrebte, sondern die Bundeswehr auch mit taktischen Atomwaffen ausstatten wollte. Das wurde ihm verweigert. Doch es war der erste Atomminister der Bundesrepublik, der ehemalige Offizier für wehrgeistige Führung Franz-Josef Strauß, der bereits ab 1955 das zivile Atomprogramm vorangetrieben hatte, wohl wissend, daß dadurch wichtige technische Voraussetzungen auch für eine potentielle militärische Nutzung der Kernspaltung geschaffen werden.

Die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, ihre Einbindung in den westlichen Verteidigungspakt NATO, der Aufbau einer umfassenden Atomindustrie und der Bau von Atomkraftwerken wurden von Anfang an gegen den Widerstand großer Teile der Bevölkerung durchgesetzt. In den 1960er Jahren gingen Hunderttausende auf die Straße, um für Frieden und Abrüstung zu demonstrieren; in den 1970er Jahren setzten Massenproteste unter anderem gegen die Atomkraftwerke Grohnde, Wyhl und Brokdorf ein.

Der 75minütige Dokumentarfilm "Unser gemeinsamer Widerstand", der am 14. Januar im Altonaer Museum in Hamburg gezeigt wurde, legt den Schwerpunkt der Berichterstattung auf den Aspekt des Widerstands gegen die Atomwirtschaft. Am Rande der Veranstaltung sprach der Schattenblick mit einem der Filmproduzenten, Dieter Kröger, über das Projekt und weitere Fragen zur nach wie vor aktuellen Atomenergieproblematik.

Schattenblick (SB): Könntest du uns etwas zu der Entstehungsgeschichte des Films "Unser gemeinsamer Widerstand" sagen, wer daran beteiligt ist und was das Motiv war, ihn zu produzieren?

Dieter Kröger (DK): Das Motiv war u.a. der GAU in Fukushima im März 2011. Kurz zuvor hatten wir mit unserer Initiative "Altonaer Museum bleibt!" dazu beigetragen, das Altonaer Museum zu retten. Unter dem Eindruck der aktuellen neuerlichen Atomkatastrophe schlugen wir dem Museum vor, eine Anti-AKW-Ausstellung zu machen, zumal das Altonaer Museum auch ein norddeutsches Landesmuseum ist und den Anspruch hat, Themen zu Umwelt und sozialen Bewegungen aufzugreifen.

Anfangs sagte zumindest der damalige Direktor Torkild Hinrichsen, dass er das auch gut fände. Ob er nur so tat, weil wir zu den Museumsrettern gehörten oder ob er wirklich interessiert war, können wir nicht eindeutig sagen. Jedenfalls hat er uns nach einem halben Jahr Verhandlungen regelrecht vor den Kopf gestoßen mit Argumenten wie - so wörtlich:

"Es fehlten Fragen der politischen Ökologie, warum eine Frage der Energiegewinnung zum politischen Thema werden konnte. Eine Kontextualisierung mit anderen Technikeinführungen wie der Dampfkraft und daraus resultierend neuer Verkehrssysteme sowie eine Einordnung in die geistesgeschichtliche Tradition der TECHNIKFEINDLICHKEIT werde vermisst." Siehe dazu den Bericht "Vor die Tür geschickt" auf der BI-Webseite http://www.altonaermuseumbleibt.de/

Möglicherweise wollte man es sich auch nicht mit Vattenfall verderben, das die Vattenfall-Lesetage im Museum gesponsert hat. Herr Hinrichsen wollte keine Anti-AKW-Ausstellung, sondern eine sogenannte "politisch neutrale Ausstellung" über das Für und Wider der Atomkraft - also auch Vattenfall als Ausstellungsgestalter mit einbeziehen. Auf die Originaltöne der Atomlobby wollten wir zwar auch nicht verzichten, aber wir wollten uns nicht für eine gemeinsame Ausstellung mit Vattenfall hergeben.

Nachdem das also mit der Ausstellung nicht geklappt hat, haben wir statt dessen den Film produziert. Einige von uns hatten den Film "Das Ding am Deich" gesehen. Darin fährt die Kamera ganz idyllisch die hochbetonierten Füße der Strommasten ab mit friedlich grasenden Kühen - ohne irgend einen Hinweis darauf zu geben, dass nach der Mastsprengung am AKW-Brokdorf vom 28. April 1984 sämtliche Strommasten in der Wilstermarsch mit diesen gezeigten, mehrere Meter hohen Betonfüßen gegen Anschläge aufgerüstet wurden.

Auch in vielen anderen Filmen wird genau dieser Teil des Widerstandes gern ausgespart. Das hat uns dann doch irgendwie keine Ruhe mehr gelassen und wir haben uns entschlossen, einen Anti-AKW-Film zu machen, der alle Widerstandsformen gleichwertig nebeneinander zeigt.

SB: Wer ist "wir"?

DK: Das sind meine Frau Antje Kröger-Voss, Bettina Beermann als Museums-Fachfrau, Friedemann Ohms - ein früherer TAZ-Reporter - und ich. Wir alle haben ganz viel gegen das Akw Brokdorf gemeinsam gemacht. Meine Frau, Friedemann und ich waren schon zusammen in der BI in Itzehoe, und auch Bettina hat an etlichen Anti-AKW-Demos gegen Brokdorf teilgenommen.

Auf eine Nachfrage bei Antje Hubert, die "Das Ding am Deich" gedreht hat, wie teuer ihr Film in der Herstellung war, hat sie uns gesagt: "Eine Viertelmillion Euro." Wir brauchten erst gar nicht in unser Portemonnaie zu schauen - so viel Geld hatten wir nicht. Auch in unserer BI wurde gesagt, dass einen Film zu machen noch teurer und aufwendiger würde als eine Ausstellung.

Daraufhin habe ich gesagt, wir machen es trotzdem - und wir haben es geschafft. Aus der eigenen Tasche haben wir ungefähr fünftausend Euro aufgewendet und natürlich ohne Ende das ganze Jahr 2012 fast jede Nacht - manchmal bis morgens um vier Uhr - daran gearbeitet.

Dazu gehörten auch täglich Telefonate und Mails mit Quellen, die uns Filme zuschicken konnten; ebenso viel Zeit beanspruchten die Vereinbarungen über Rechte am Material. Natürlich hatten wir auch eigenes Material. Dann mussten die ganzen verschiedenen Filme, die wir uns besorgt hatten, gesichtet werden, um Szenen raus zu fischen, die das Thema, wie wir es uns vorstellten, komprimierter rüber bringen.

Es gibt ja Anti-AKW-Filme, zum Beispiel von Wyhl, der für sich genommen sicher schön und über zwei Stunden lang ist. Die schlachten darin ein Schwein, sie essen und singen Volkslieder. Das ist ja alles nett und schön und hat natürlich zum dortigen Widerstand dazu gehört - ist auch besonders für die Leute, die dabei gewesen sind, wichtig, aber ist heute kein Film mehr, der Außenstehende in seiner ganzen Länge interessiert. Aus diesem 120-Minuten-Film z.B. haben wir nur wenige Minuten raus gezogen, um den Widerstand in Wyhl zu dokumentieren. Und so haben wir aus allen möglichen Filmen manchmal nur wenige Sekunden lange Sequenzen raus geschnitten (aus vielen auch nichts) und das immer wieder verdichtet. Der ganze Film ist ohne jedes Drehbuch nur im Kopf und in Diskussionen unter uns Vieren errungen worden.

Daraus sind dann 75 Minuten "Unser gemeinsamer Widerstand" entstanden, der bisher von uns 40 x in vielen Städten in Deutschland und auch schon in Japan in Tokio und Kyoto, in Warschau/Polen, Bure/Frankreich gezeigt wurde. Der Film ist nicht kommerziell und wir lehnen auch jede Art von Spenden für unseren Aufwand ab - darauf legen wir großen Wert, weil wir den vielen Quellen versprochen haben, dass wir das nicht kommerziell machen. Nur so haben wir gehäuft das Filmmaterial umsonst erhalten, was wir sonst nicht hätten bezahlen können.

Vermutlich haben wir inzwischen das größte Archiv von Anti-AKW-Filmen in Deutschland gesammelt. Wir haben über 800 Filme zusammengetragen, von Anti-AKW-Film-Gruppen, vom Fernsehen, aus Archiven, auch aus staatlichen Archiven, die es uns als Videogruppe der BI "Altonaer Museum bleibt!" - mit dem bekannten Namen über die Museumsrettung - gern gegeben haben.

Einige Leute in der Anti-AKW-Bewegung verstehen den Zusammenhang Museum und Anti-AKW-Bewegung nicht so richtig. Aber das ist mittlerweile eine Art Markenzeichen. Wir haben ja auch als BI in 2011 an mehreren Anti-AKW-Demos mit einem großen Transparent teilgenommen, auf dem geschrieben steht: "Atomkraftwerke ins Museum" und darunter: "BI Altonaer Museum bleibt!" Mit diesem Transparent beginnt auch unser Film.

SB: Die großen Anti-AKW-Demonstrationen der siebziger, achtziger Jahre setzten sich aus verschiedenen Strömungen zusammen, von kirchlichen Gruppen bis K-Gruppen, von Landkommunen bis zu Landwirten. Es gab aber auch Menschen und Interessengruppen, die den AKW-Widerstand mit einem anderen Lebensentwurf verbunden haben und nicht gesagt haben, es geht uns nur um eine andere Energieversorgung, also dass Atom- durch Windenergie ersetzt wird. Ist das heute noch so?

DK: Der Landwirt, der damals die BUU gegründet hat, sagt in einem Film etwa sinngemäß, "dass die Bauarbeiten am AKW zumindest nicht eher anfangen dürften, bis dass das Gericht darüber entschieden hat". Das muss man vor dem Hintergrund verstehen, dass die Landwirte sich von heute auf morgen mit einer Bedrohung konfrontiert sahen, mit der sie als staatstreue CDU-Wähler überhaupt nicht umgehen konnten. Ihnen ging es erst einmal darum, dass diese Maschine nicht gebaut würde. Wir wurden seinerzeit natürlich von den Landwirten in mehrerer Hinsicht unterstützt - sie waren beim sogenannten "Vor Ort" politisch wichtig und gleichermaßen auch problematisch - was sie umgekehrt uns gegenüber auch empfunden haben.

Und andere, wie beispielsweise der Physiker Fritz Storim, den ich nun schon seit vierzig Jahren kenne und mit ihm auch einiges in unseren Gruppen gemeinsam gemacht habe, begründet dezidiert, dass die Atomkraft kein Versehen oder Ausrutscher der herrschenden Verhältnisse ist sondern ihr konsequenter Ausdruck. Deshalb reicht es nicht, nur Symptome wie die Atomkraft oder die Hetze gegen Flüchtlinge usw. zu bekämpfen, sondern wir müssen die Ursachen beseitigen, sonst werden wir immer nur gegen ein Symptom nach dem anderen angehen und nicht das Problem an sich in Angriff nehmen.

SB: Vor beinahe vierzig Jahren schrieb der Philosoph Robert Jungk das Buch "Der Atomstaat". Würdest du sagen, dass seine Warnung vor dem Überwachungsstaat, der die Atominfrastruktur schützt, aus heutiger Sicht übertrieben war?

DK: Nein, natürlich nicht - in unserem Film kommt Robert Jungk übrigens gleich zweimal zu Wort. Viele Menschen sind, wie soll ich das ausdrücken, umnebelt, sie sind zu sehr eingewoben in das System und viele merken das nicht einmal. Das ist viel schlimmer, als wie Robert Jungk das prophezeit hat. Das ist sogar viel doller, selbst als Orwell sich das ausgemalt hat. Auf Orwell geht auch zurück, dass man mit der Sprache der Herrschenden praktisch vergewaltigt wird. Er nennt es "Neusprache". Antje und ich haben ja auf unserer Webseite einen Aufsatz dazu veröffentlicht mit dem Titel: "Staatliche Sprachfallen meiden."

Das fängt schon damit an, dass am Anfang die Atomkraftwerke auch so genannt wurden. Es gab eigens ein Atomministerium mit einem Atomminister. Als die Bevölkerung diese Energieform sehr schnell als Bedrohung angesehen hat, wurde getreu nach Orwell der Begriff politisch modifiziert in Kernkraftwerke umgetauft und das Wort "Atom" mit den dunklen Vokalen und der Assoziation zur Atombombe vom Staat und der Atomindustrie nicht mehr benutzt. Die Bestrahlungserlaubnis der Bevölkerung wird Strahlenschutzverordnung genannt - sie wurde/wird stetig angepasst/angehoben.

Das Atomministerium wurde in Umweltministerium umbenannt und der Atomminister wurde zum Umweltminister - das geht bis heute so weiter. Der grüne Umweltminister Robert Habeck von Schleswig-Holstein hat sein Umweltministerium aktuell in ein Energiewende-Ministerium umgetauft, um damit zu kaschieren, dass er das Akw Brokdorf, gegen das er genügend Handhabe zur Stilllegung hat, nicht abstellen will. Das macht er einfach der Atomindustrie und SPD und auch letztlich seiner grünen Partei gehorchend nicht. Der überspringt diesen Punkt und sagt: Wir machen ja die Energiewende und überblendet damit, dass er die Atom-Maschine Brokdorf verantwortungslos weiter laufen lässt.

SB: Wenn Umweltgruppen auf ein AKW klettern, um darauf aufmerksam zu machen, wie leicht jemand in das Gelände eindringen und einen terroristischen Anschlag begehen könnte, wird damit zwar eine berechtigte Sorge angesprochen, aber zugleich könnte das den Sicherheitsstaat stärken, da dessen Konsequenz darin besteht, die Überwachungslücken zu schließen und nachzurüsten. Wie siehst du diesen Widerspruch?

DK: Zunächst einmal sehe ich einen Widerspruch darin, wie Orwell eben auch, dass man den Begriff "Terrorismus" für alles verwendet, was gegen den Staat gerichtet ist. Es gab und gibt Anti-AKW-Initiativen und -Aktivist*innen - darunter ich selbst -, die nach Paragraph 129a "Bildung einer terroristischen Vereinigung" verfolgt worden sind. Deswegen habe ich grundsätzlich etwas gegen die heutzutage oberflächliche Verwendung des Begriffs "Terrorismus", die uns der Staat aufoktroyiert.

Wenn jetzt religiöse Dogmatiker Anschläge begehen, dann muss man das auch so richtig benennen. Ich würde auch nicht "islamistischer Terror" sagen, sondern "religiöser Dogmatismus". Oder neutral "militärischer Angriff". Aber Widerstand gegen diese Maschine, das ist eben kein Terror, sondern legitimer Widerstand. Terroristisch kommt für mich nur vom Staat, der ein Territorium eingrenzt und eben auf diesem Territorium seine menschenfeindliche Politik wie z.B. die Atomkraft u.a. verteidigt. Er sagt aber nicht: Ich mache Terrorismus, sondern er nennt alles, was gegen dieses Territorium gerichtet ist, Terrorismus und lenkt so komplett von seinem eigenen Terrorismus ab und er schafft es, dass die Medien diese Sprachfalle transportieren, die dann von vielen einfach übernommen wird.

Natürlich ist ein AKW hoch anfällig für militärische Angriffe jedweder Art. Aber es geht ja nicht darum, dass man die AKWs sicherer macht, sondern man muss sie sofort abstellen. Das ist die erste Voraussetzung.

Und noch etwas: Bei einer unserer Filmvorführungen meinte jemand, dass der "militante Widerstand" die Gefahr eines Atom-GAUs (Größter Anzunehmender Unfall) in Kauf nähme. Die Aktivist*innen leben eine hohe Verantwortung - es besteht ein Konsens darüber, keinen Anschlag auf ein laufendes AKW zu machen, weil man den Beteuerungen der AKW-Betreiber über die angebliche Beherrschbarkeit einer Schnellabschaltung zutiefst misstraut. Die Mastsprengung am AKW-Brokdorf erfolgte am 28. April 1984, als das AKW noch nicht in Betrieb war. Wie wenig die Betreiber hingegen selbst an die Beherrschbarkeit glauben, dokumentieren sie dadurch, dass sie nach der Mastsprengung sämtliche Strommasten in der Wilstermarsch mit mehrere Meter hohen Betonfüßen gegen Anschläge gesichert haben.

SB: Du bist seit Jahrzehnten in der Anti-AKW-Bewegung aktiv. Hat diese vielen Leuten auch als Trittbrett für ihre Karriere gedient, so dass sie dann im Europaparlament gelandet sind, Außenminister wurden oder in ähnlichen Positionen ihr gutes Auskommen fanden?

DK: Ja, natürlich, das ist genau der Punkt. Wir haben uns z.B. in unserer Initiative in Itzehoe oft gewundert, wie sich da irgendwelche grünen Politik*erinnen in den Medien profilierten und behaupteten, dass sie in der BUU aktiv waren. Wir wussten von einigen, dass sie nie in der Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe gesehen wurden.

Der Parlamentarismus war ein wichtiges Mittel, um die Bewegung zu kanalisieren und zu schwächen. Wenn ich an Jo Leinen von der SPD denke, den wir "Container-Jo" nannten, der auf einem Container am 28. Februar 1981 auf einer Straße nach Brokdorf Reden geschwungen und die Leute damit beschäftigt hat, mit kleinen Dosen Sand aus einem Container zu schaufeln (wobei sie viel einfacher um die Polizeisperre herum hätten ausweichen können) und der dann sehr bald SPD-Umweltminister geworden ist - so ist das eines von vielen grauenhaften Beispielen.

SB: Hat sich die Anti-AKW-Bewegung aus deiner Sicht genügend mit den militärischen Aspekten des "Anti-Atom" befasst oder ist diese Frage von der Bewegung eher stiefmütterlich behandelt worden?

DK: Das Grundanliegen, weswegen man Atomkraftwerke überhaupt hat laufen lassen, war und ist auch heute, um Material für Atombomben zu erhalten. Auch der stolze Atomminister Franz-Josef Strauß hatte im Hinterkopf, hier in Deutschland die Atombombe zu entwickeln. In Indien war und ist das aktuell ebenfalls das Motiv. Noch im selben Jahr 1947, in dem Indien mit der Gandhi-Bewegung die Staatsmacht von den Engländern sehr einvernehmlich übergeben bekommen hat, haben sie sofort mit der Entwicklung von Atomenergie angefangen mit dem klaren Ziel, eine Atombombe zu bauen. Da besteht ein grundlegender Zusammenhang. Indien hat dann 1974 seine erste Atombombe gezündet. Das wird von einigen schlicht verdrängt - es ist deshalb auch für mich ein Unding, wie man sich beim Widerstand gegen AKWs auf Mahatma Gandhi berufen kann.

SB: Für wie groß hältst du den Einfluss der Anti-AKW-Bewegung auf den Atomausstieg der Merkel-Regierung? Hat sie nur aufgrund der Katastrophe von Fukushima eine Kehrtwende ihrer Atompolitik vollzogen?

DK: Der Atomausstieg hat tatsächlich gar nicht stattgefunden. Die staatliche Politik dreht sich nur nach dem Wind. Was den Bau neuer Atomkraftwerke anbelangt, so ist durch keine Regierung offiziell ein Atomausstieg beschlossen worden. Dieser wurde jedoch durch den Widerstand erreicht, denn nach dem AKW Brokdorf wurde in Deutschland kein weiteres AKW überhaupt nur zu planen gewagt. Das war faktisch der Atomausstieg bezüglich des Neubaus von AKWs hierzulande.

Ansonsten hat die rot-grüne Bundesregierung 2001 einen sogenannten Atomausstieg propagiert, der in Wahrheit verheerend ist. Zum einen war er nichts anderes als eine Absicherung der Restlaufzeiten für die Atomindustrie und zum anderen diente er der Beruhigung gegen den Widerstand. Trittin brachte den Spruch, dass ab sofort kein Grüner mehr noch etwas gegen Castortransporte nach Gorleben unternehmen dürfe - weder stehend, sitzend noch singend.

Und das Allerschlimmste ist obendrein, dass der damalige grüne Umweltminister Trittin ohne Not der Atomindustrie die Festlegung des 10-Mikrosievert-Grenzwertes quasi geschenkt hat. Das heißt: Alle radioaktiven Substanzen, die diesen Wert nicht überschreiten, dürfen auf Hausmülldeponien, im Straßenbau, bei der Verarbeitung von Kochtöpfen, Trompeten, Jeans-Knöpfen und vieles mehr entsorgt werden. Das sind 90 Prozent des Abfalls aus rückgebauten Akws. Wir werden also erst noch so richtig verseucht. Es wird beteuert, dass man darauf achten wolle, dass die Teile, welche für sich einzeln "frei gemessen" diesen Grenzwert einhalten, nicht in größerer Konzentration wieder zusammenkommen - so will man z.B. darauf achten, dass entsprechender Abfall auf viele Mülldeponien verteilt wird. Gleichzeitig weiß man aber schon, dass immer mehr Mülldeponien schließen.

Daran halten Politik und Wirtschaft nicht nur fest, sie wollen den Wert sogar noch heraufsetzen. Das war ein Deal, den Trittin ohne Not mit der Atomindustrie gemacht hat. Der hat uns da verraten und verkauft. Und - oh was Wunder - Trittin wurde soeben als einer von drei Chefs (laut Tagesspiegel vom 16.10.2015) in die AKW-Rückstellungen-Kommission berufen, die den Atom-Ausstieg sichern soll - wieder als "bewährter" Verhandlungsführer für/mit der Atomlobby - quasi ein bewährter Bock als Gärtner.

SB: Es gibt also bis heute allen Grund für Widerstand gegen die Atomwirtschaft in Deutschland?

DK: Ja, den gibt es. 2001 hat die rot-grüne Regierung allen Ernstes stolz verkündet, sie hätte einen Atomausstieg gemacht, aber gleich danach hat sie 2005 zur Urananreicherungsanlage in Gronau ihren Segen gegeben. Die Anlage ist vom sogenannten Atomausstieg komplett ausgeschlossen - genau wie die Brennelementefabrik in Lingen.

Beide Fabriken gehören weltweit zu den größten ihrer Art, sie stehen auch für tägliche Atomtransporte. Jeden zweiten Tag läuft allein durch den Hamburger Hafen ein Atomtransport, den auch der rot-grüne Senat in Hamburg nicht abstellen will. Von daher ist der "Atomausstieg" eine Lüge - zumal die deutsche Industrie mit Atomtechnik weltweit an Atomkraftwerken beteiligt ist und die Bundesregierung auch noch Hermes-Bürgschaften für Atomkraftwerke im Ausland gibt.

Außerdem wird massiv in die Fusionstechnologie in Greifswald investiert, die als zukunftsorientiert propagiert wird und ebenfalls radioaktive Abfälle produzieren würde. Der Atomausstieg ist sehr trügerisch. Man muss befürchten, dass gesagt wird: "Ach, das mit der Energiewende hat noch nicht geklappt", man müsse wieder zur Atomenergie zurückkehren. Immerhin hat der soeben verstorbene und heilig gesprochene SPD-Altkanzler Helmut Schmidt 2008 erklärt, dass er überzeugt sei, dass auch seine Partei, die SPD, das irgendwann einsehen wird - er ist bis zu seinem Tod im Nov. 2015 ein Verfechter der Atomkraft geblieben - und wenn man ihm zu Ehren mit seinem Namen den Hamburger Flughafen benennt (ähnlich wie nach dem ersten Atomminister Franz-Josef Strauß 1992 der Münchener Flughafen benannt wurde) dann "kann Atomkraft ja nicht so schlecht sein".

Es wird überhaupt nicht genug getan, um z. B. die ganze Energie-Verschwendung zu drosseln. Es ist einfach nur schlimm, dass die Städte die ganze Nacht hindurch eine Lichtflut abgeben und auch Schaufenster hell erleuchtet für die hemmungslose Konsumverschwendung werben. Das ist alles pervers. Man könnte die Atomkraft genau wie die Verbrennung fossiler Stoffe wie Kohle u.a. sofort einsparen.

SB: Dieter, vielen Dank für das Gespräch.

24. Januar 2016


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