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INTERVIEW/183: Endspiel - die grüne Lunge erstickt ...    Claude Martin im Gespräch (SB)


"Endspiel - Wie wir das Schicksal der tropischen Regenwälder noch wenden können"

Internationale Buchpremiere am 21. Mai 2015 im Haus der Bundespressekonferenz in Berlin

Claude Martin über die Definition von tropischem Regenwald, seine Bedeutung für das Weltklima und das, was die industrialisierte Welt von den indigenen Waldbewohnern lernen könnte.


Fast die Hälfte der tropischen Regenwälder ist seit historischer Zeit verschwunden, ein weiterer Teil gilt als degradiert. Werden keine entschiedenen Maßnahmen gegen diese Trends ergriffen, wird der tropische Regenwald noch in diesem Jahrhundert weitgehend verschwunden sein. Davor warnt der Schweizer Biologe Claude Martin in seinem Buch "Endspiel - Wie wir das Schicksal der tropischen Regenwälder noch wenden können", das als 34. Bericht an den Club of Rome geschrieben und vom oekom verlag herausgegeben wurde.

Der Regenwald verschwindet nicht allein wegen der Holzwirtschaft, sondern insbesondere in Folge der industriellen Landwirtschaft. Denn für die Produktion von Viehfutter wie Soja, von Agrotreibstoff mittels Palmöl und die Ausbreitung der Weidehaltung von Vieh wird großflächig tropischer Regenwald gerodet. Zwar ist seine über mehrere Kontinente verteilte Fläche noch immer riesig - sie nimmt die Größe der USA ein -, und der jährliche Verlust beträgt nicht mal ein Prozent, aber es läßt sich ausrechnen, wohin diese schleichende Entwicklung führt. Zumal mit dem Klimawandel ein weiterer Faktor ins Spiel kommt, der entscheidenden Einfluß auf ihn ausübt.

Das Amazonas-Becken, das die größte zusammenhängende Fläche mit tropischem Regenwald beherbergt, wird in immer kürzeren Abständen von "Jahrhundertdürren" heimgesucht. In den davon betroffenen Gebieten wandelt sich dann der Wald von einer Kohlenstoffsenke in eine Kohlenstoffquelle. Das heißt, er trägt durch die vermehrten Kohlenstoffdioxidemissionen zum Klimawandel bei und erhöht damit die Gefahr weiterer Dürreperioden. Im Amazonasbecken werden pro Jahr zwischen 0,4 und 0,6 Gigatonnen Kohlenstoff gespeichert, in einem Dürrejahr dagegen 2 Gigatonnen emittiert.


Der Autor bei der Pressekonferenz - Foto: © 2015 by Schattenblick

"Nicht internationale Konventionen, sondern Allianzen zwischen einzelnen Staaten, Nichtregierungsorganisationen und Finanzinstituten waren häufig an der Erhaltung der tropischen Regenwälder beteiligt."
(Claude Martin, 21. Mai 2015, Berlin)
Foto: © 2015 by Schattenblick

"Endspiel" stellt erstens "eine pragmatische Beurteilung des früheren und heutigen Zustands der tropischen Regenwälder" dar sowie zweitens eine Projektion, wie diese Wälder aussehen könnten, "wenn wir nicht das Notwendige vorkehren", erläuterte der Autor und langjährige Leiter der Umweltorganisation WWF International bei der Internationalen Buchpremiere am 21. Mai 2015 im Haus der Bundespressekonferenz in Berlin.

Laut Martin wird die Klassifikation, was ein Regenwald und was ein Tropenwald ist, immer wieder vermischt, deshalb habe er sich der Klärung dieser Frage ausführlich gewidmet. Andernfalls träten statistische Schwierigkeiten auf, da man gar nicht wisse, was man miteinander vergleicht. Seit Beginn der neunziger Jahre bilden Satellitenbilder eine gute Grundlage zur Bemessung der Entwaldung. Die Waldfläche müsse "Pixel für Pixel über eine Zeitreihe" ausgerechnet werden, sonst könnte man gar nichts über Entwaldungsraten sagen, erklärt der Autor.

Heute bietet Google einen Dienst an, bei dem die Waldfläche auf 30 Meter Pixel-Genauigkeit erkannt werden kann. Dennoch bleiben Vor-Ort-Untersuchungen bislang unverzichtbar, um ursprünglichen Wald, also Primärwald, von Plantagen zu unterscheiden. Allerdings kann man inzwischen anhand der neuesten, hochaufgelösten Satellitenbilder eine Veränderung von Primärwald, der abgeholzt und nach kurzer Zeit wieder für die Papierholzgewinnung aufgeforstet wurde, feststellen.

Großes Lob von dem Autor erhielt die deutsche Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl, der 1992 erhebliche Finanzzusagen für ein Waldschutzprogramm Brasiliens gemacht hat, was auch eingehalten worden sei. Ohne diese Unterstützung und die Finanzierung durch die KfW Entwicklungsbank sähe der Amazonas-Regenwald, der zur einen Hälfte unter einer Form des Schutzes stehe und zur anderen als indigene Reservate ausgewiesen ist, heute anders aus, versicherte Martin.

Eine generelle Verbindung zwischen konservativen oder fortschrittlichen Regierungen und einer bestimmten Regenwaldpolitik sieht er nicht. Vieles hänge von der Bewußtseinsbildung in der Bevölkerung ab. Wenn zum Beispiel eine Nichtregierungsorganisation wie Greenpeace, die mit dem Bericht "Eating up the Amazon" für Aufsehen gesorgt hatte, eine Kampagne betreibt und die Konsumentinnen und Konsumenten für ihr Anliegen gewinnt, könne man schon etwas erreichen. Sogar die IFC der Weltbank habe sich aus Krediten für das Anlegen von Viehweiden zurückziehen müssen.

Die Hauptsorge der heutigen deutschen Regierung ist laut Martin die Klimaveränderung. Das Thema Regenwald sei wohl etwas unter dem Tisch verschwunden, weil es von anderen Umweltanliegen überdeckt wurde. Vermutlich sei aber die Bundesregierung empfänglich für das Anliegen, die Aufmerksamkeit auf die Schnittstelle zwischen Regenwald und Klima zu lenken.


Zahlreiche Reihen von Palmen bedecken hügelige Landschaft - Foto: a_rabin, freigegeben als CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via Flickr

"Wir sind im Prinzip im Begriff, die tropischen Regenwälder aufzuessen, auf sehr unnachhaltige Weise durch die Form von Produktion vor allem von Ölen und Proteinen für eine wachsende urbane Bevölkerung. Urbanisierung ist ein wesentlicher Treiber dieser Form von Vertragsstruktur und hat mit karnivoren Lebensgewohnheiten in urbanen Zentren zu tun."
(Claude Martin, 21. Mai 2015, Berlin)
Monokulturen wie diese Palmölplantage von Cigudeg, Bogor, auf der indonesischen Insel Java sind von ursprünglichem tropischen Regenwald nur mit neuester Satellitentechnologie zu unterscheiden. Aufnahme vom 26. März 2008.
Foto: a_rabin, freigegeben als CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via Flickr

Im Anschluß an die internationale Buchpremiere stellte sich Claude Martin dem Schattenblick für einige Fragen zur Verfügung.


Schattenblick (SB): In Ihrem Buch widmen Sie sich ausführlich der wechselhaften Geschichte der Definition von tropischem Regenwald. Ist sie zu einem politischen Kampfbegriff geworden, um dessen Deutungshoheit gerungen wird?

Claude Martin (CM): Es gibt einen geschichtlichen Hintergrund für den Begriff Regenwald, der schon im 19. Jahrhundert in der deutschsprachigen Literatur geprägt worden ist. Aber er wurde erst mit dem berühmten Buch "The tropical rain forest", das 1952 von P. W. Richards veröffentlicht wurde, richtig bekannt. Er hat eigentlich am allerpräzisesten definiert, was ein tropischer Regenwald ist. Später kam einige Verwirrung auf, weil viele Leute den tropischen Regenwald nur noch aufgrund der Niederschlagsmenge definiert hatten. Doch die allein bestimmt noch keinen Regenwald, es kommt vor allem auf die Saisonalität, also die regelmäßige Verteilung der Niederschlagsmengen durchs Jahr hindurch sowie auf pflanzensoziologische Faktoren an.

Deshalb habe ich mich mit den Definitionen befaßt und dies nicht zuletzt auch deshalb, weil sich heute in der Fernerkundungstechnologie viele Wissenschaftler an die Ökoregionen-Karte, die vom Wissenschaftsinstitut des WWF USA entwickelt wurde, halten. Diese Ökoregionen beschreiben sehr präzise nicht nur klimatologisch, sondern auch pflanzensoziologisch, was ein feuchttropischer Wald ist. Ich verwende dann den Begriff Regenwald in einem etwas weiteren Sinne.

SB: Gibt es gesellschaftliche Kräfte, die ein Interesse daran haben, die Fläche des Regenwalds möglichst groß erscheinen zu lassen?

CM: Eher das Gegenteil trifft zu, und zwar aufgrund der FAO-Statistiken, die sehr unzuverlässig sind und es eigentlich schon immer waren, weil sie auf Daten beruhen, die aus den Ländern selber stammen. Noch bis in die 90er Jahre hinein wurden die Regenwaldgebiete unterschätzt, nicht überschätzt. Dahinter steckten wahrscheinlich keine politischen Absichten, sondern das war einfach technisch bedingt. Das hat zu einer großen Verwirrung beigetragen. Dann hat die FAO versucht, das wieder zu korrigieren, also rückzurechnen, wobei aber Differenzen aufgetreten waren. Ich glaube nicht, daß Leute sagen, es gibt ja noch so viel Regenwald, deshalb können wir noch mehr abholzen.

SB: Aus Südamerika, aber nicht nur von dort, wird häufiger berichtet, daß Umweltschützer oder Indigene, die ihren Wald verteidigen, umgebracht werden. Sie selbst sind viel in tropische Regenwälder gereist, sind auch Sie da in Situationen geraten, die brenzlig waren?

CM: Oh ja, ich war einmal in Ghana als Nationalparkleiter für das ganze westliche Waldgebiet zuständig. Damals habe ich auch Forstunternehmer kontrollieren müssen und war einige Male in ziemlich schwierige Situationen geraten, insbesondere weil damals sehr viel Kakao aus dieser Region in die Elfenbeinküste geschmuggelt wurde. Das hatten alles bewaffnete Banden übernommen. Ich war da etwas am Rande gestanden, aber ich weiß, daß die Situation in Südamerika brenzliger ist. Ich war auch in dem Gebiet, wo Chico Mendes [1] gewohnt hat und habe mit seiner Witwe gesprochen. Da geht es natürlich noch viel brutaler zu.

SB: Würden Sie sagen, daß die industrialisierte Welt noch etwas von den indigenen Waldbewohnern lernen könnte?

CM: Ich glaube sogar, sehr viel. Wenn man sich vorstellt, daß viele indigene Völker in diesen Wäldern noch heute eine Artenkenntnis haben, die von der Biologie noch nicht richtig erfaßt wurde. Da gäbe es noch sehr vieles über die Pflanzen und Tiere in diesen Ländern zu erforschen und von diesen Leuten zu lernen. Das ist nur einer der Aspekte. Ein anderer betrifft die Form der Landnutzung. Die ist sehr interessant, denn wenn man einen Primärwald definiert, heißt es offiziell, das sei ein Gebiet, in dem es keinen menschlichen Einfluß gab. Ja, aber alle diese Tropenländer waren einmal bewohnt oder sind teilweise heute noch bewohnt!

Dennoch sind sie weiterhin Primärwälder, weil die Narben, die von den indigenen Völkern hinterlassen werden, so klein sind, daß der Waldboden intakt bleibt, der ganze Samenvorrat verbleibt im Boden. Das heißt, viele Wälder, die von indigenen Völkern bewohnt werden, bleiben effektive Primärwälder. Über die ganze Pflanzenphysiologie und Morphologie dieser Wälder könnte man noch sehr vieles lernen von diesen Leuten.


Luftaufnahme einer Siedlung mit acht bis neun Hütten im Regenwald - Foto: Gleilson Miranda / Governo do Acre, freigegeben als CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via Flickr

"Heute sehen wir eigentlich immer mehr, daß die tropischen Regenwälder einer kommerziellen, industriellen Nutzung anheimfallen, die nichts mehr zu tun hat mit der Kleinfelderbrandrodungskultur, die man früher mal als Haupttreiber angesehen hat."
(Claude Martin, 21. Mai. 2015, Berlin)
Dorf von isoliert lebenden Indigenen im brasilianischen Bundesstaat Acre.
Foto: Gleilson Miranda / Governo do Acre, freigegeben als CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via Flickr

SB: Sie sind von Haus aus Biologe. Haben Sie bei den indigenen Völkern in den tropischen Regenwäldern Wissen kennengelernt, das über das der Naturwissenschaft hinausgeht, ohne daß man es in die Schublade der Esoterik stecken könnte?

CM: Das ist schon so, ja. Ich war vor allem in afrikanischen Ländern gewesen. Da lebten autochthone Bevölkerungen, teilweise Pygmäen, mit denen ich sehr große Wanderungen gemacht habe. Manchmal habe ich mich auch mit diesen Leuten verlaufen, weil die geographische Orientierung nicht so gut ist, wie man es von ihnen erwartet. In geschlossenen Wäldern ist die Orientierung meist ein Problem. Und da lernt man sehr viel, manchmal auch Mythologisches und manchmal Wahrhaftiges. Beispielsweise als mir jemand das erste Mal ein dickes Stück Liane herausgeschnitten und gesagt hat: "Das Wasser darin kannst du trinken."

Dazu muß man wissen, daß es sehr viele Lianenarten gibt, die hochtoxisch sind. Ich habe das Wasser getrunken. Das war eine Lianenart, die muß man wirklich kennen. Meistens hat sie kleine Blätter und man erkennt sie an der Borke. Man muß da aber sehr sicher sein. Diese Artenkenntnis, von der die Leute dort erzählen, ist beeindruckend. Das hat mich dazu angeregt, ein Buch zur Biologie der westafrikanischen Wälder, über die erstaunliche co-evolutive Beziehung zwischen Pflanzen und Tieren, zu schreiben. [2]

SB: Im vergangenen Jahr vertrat eine Frau aus Papua-Neuguinea, die dort eine Gruppe von NGOs koordiniert, bei einem Vortrag in Deutschland den Standpunkt, daß sie nicht nur den Extraktivismus ablehnt, zu dem auch das Abholzen von Wäldern gehört, sondern auch die Entwicklungshilfe, die der Westen ihnen anbietet. Haben auch Sie so eine Position kennengelernt und würden Sie sie unterstützen? [3]

CM: Im Idealfall wäre es am besten, wir würden gerade in Papua-Neuguinea überhaupt keinen Einfluß ausüben. So wie in Brasilien und anderen lateinamerikanischer Ländern sogar die Rechte von unkontaktierten Völkern, die es dort immer noch gibt - man schätzt, daß im Amazonasbecken etwa 70 unkontaktierte Stämme leben -, einfach kraft der Tatsache, daß sie da sind, geschützt werden. Aber wenn dafür kein legaler Rahmen existiert, wie das in Papua-Neuguinea eben der Fall ist, und immer mehr kommerzielle Unternehmen kommen und die Regierung über den Tisch ziehen, da muß man sich schon überlegen, welche Vorkehrungen man dagegen treffen kann. Wenn es Entwicklungsorganisationen gibt, die sich für die Rechte dieser Leute einsetzen, dann kann man nichts dagegen einwenden.

SB: Was halten Sie von der Idee, die Indigenen als Hüter ihres eigenen Waldes einzusetzen? Daß sie dann beispielsweise im Rahmen von REDD, REDD+ oder anderer Zusammenhänge der Kohlenstoffbilanzierung zu Dienstleistern am eigenen Wald werden? [4]

CM: Die große Frage bei REDD ist immer: wer wird da für was kompensiert? Es könnte auch den effektiven Waldschutz indigener Völker begleichen, wenn diese dafür monetär kompensiert werden. Tatsächlich würden viele dieser indigenen Völker ihren Wald und ihre Rechte verteidigen, weil sie von ihm ganz direkt abhängen und effektiv nicht wollen, daß es jemand darin eindringt. Interessanterweise schreibt David Kaimowitz, einer der acht Gastautoren, die Kurzbeiträge in meinem Buch geschrieben haben, daß in indigenen Reservaten der Schutz des Regenwalds mindestens ebenso, wenn nicht sogar zuverlässiger gewährleistet wird als in Gebieten, die als Nationalpark ausgewiesen sind.

SB: Der tropische Regenwald besonders im Amazonasbecken wird gern als grüne Lunge des Planeten bezeichnet. Halten Sie das Bewußtsein dafür in der Welt für genügend ausgeprägt?

CM: Ich habe immer etwas das Problem mit dem Begriff "grüne Lunge", weil die Lunge eigentlich anders funktioniert als der Regenwald, sie nimmt O2 auf und stößt CO2 aus, macht also das Gegenteil von einem Wald. Aber gut, daß der Regenwald klimatologisch eine ganz wesentliche Rolle spielt, ist heute in der Wissenschaft eigentlich unangefochten. Das zu quantifizieren ist außerordentlich schwierig, weil der ganze "carbon flux" [Anm. d. SB-Red.: Kohlenstofffluß] außerordentlich komplex ist. In Trockenperioden können die Bäume praktisch ihre ganze Physiologie umstellen. Aber man weiß natürlich auch, daß ein großes Regenwaldgebiet wie eine riesige Wasserpumpe ist und daß diese Zirkulation von Wasser aus dem Tropenwald eben auch gesamtregional für eine gewisse Klimastabilität sorgt. Heute gibt es bereits eine Diskussion über die Frage, ob die Entwaldungen im Amazonasbecken für die verlängerten Trockenzeiten im südlichen Amazonasgebiet verantwortlich sind, weil sich mit jeder Fragmentierung mikroklimatisch etwas ändert.


Baum mit sehr stark ausgeprägter Wurzelbildung - Foto: Daderot, freigegeben als public domain via Wikimedia Commons

"Wenn wir es nicht fertigbringen, die Primärwälder in den kommenden Jahrzehnten zu schützen, dann bin ich überzeugt, stehen wir am Beginn des sechsten Massenaussterbens."
(Claude Martin, 21. Mai 2015, Berlin)
Brasilianischer Regenwald, Bosque dos Jequitibás, Campinas, 22. September 2009 Foto: Daderot, freigegeben als public domain via Wikimedia Commons

SB: Sie schreiben in Ihrem Buch, daß es zum Schutz des Regenwalds eines Äquivalents zum Weltklimarat bedürfte und daß die FAO wohl überfordert wäre, so eine Einrichtung zu bilden. Woran liegt das?

CM: Selbst in forstwirtschaftlichen Kreisen besteht eine ziemliche Ernüchterung über die Leistungen der FAO. Das hängt teilweise damit zusammen, daß die Statistiken vor allem auf die Produktion von Holz ausgerichtet waren. Ich glaube, die haben nicht genügend in die sorgfältige Klassifikation dessen, was sie erheben, investiert. Das hat weitgehend damit zu tun, daß die FAO eine Mitgliederorganisation der UNO ist. Und die Mitglieder bestimmen eben, was geliefert wird. Deshalb werden bei der FAO manchmal Daten über Waldgebiete veröffentlicht, die gar nicht mehr existieren, nur weil es offiziell als Waldland deklariert wurde. Und dann wird eine künstliche Unterscheidung zwischen Forstland, Waldland und Nicht-Waldland gemacht, ob Wald darauf steht oder nicht. So etwas führt natürlich zu Verdrehungen. Ich glaube nicht, daß die FAO eine Institution wäre, die heute die Kapazität hätte, so etwas auf die Beine zu stellen.

SB: Sie haben die jüngste Entwicklung in Brasilien angesprochen, dessen Regierung die Entwaldung womöglich demnächst wieder vorantreibt, nachdem zwischenzeitlich gute Fortschritte im Waldschutz erzielt worden waren. Kann ein einzelner Staat vielleicht nicht leisten, was für den tropischen Regenwald wünschenswert wäre? Bedarf es einer planetaren Institution?

CM: Wir sind natürlich auch über planetare Institutionen etwas ernüchtert. Ich habe den ehemaligen brasilianischen Präsidenten Cardoso [5] persönlich gekannt. Das war einer der allerbesten Präsidenten, der hatte wirklich eine Motivation für die Sache, und deshalb ist auch diese große Koalition zustandegekommen. Das war dann nach der Zusage Helmut Kohls und dem PPG7-Programm. [6] Aber es braucht auch den politischen Willen eines Individuums. Und Cardoso hat ihn gehabt. Wir alle sind natürlich dauernd den politischen Veränderungen unterworfen, deshalb ist nichts von Dauer, wenn man es nicht tief im Bewußtsein einer Bevölkerung implantieren kann. Das ist ein dauernder Kampf, eben auch ein politischer Kampf, das ist so zermürbend.

SB: Sie sprechen in Ihrem Schlußwort von der Möglichkeit, daß die tropischen Regenwälder im 21. Jahrhundert verschwinden könnten. Was würden Sie mutmaßen auf der Grundlage der heutigen Entwicklung, wäre das eher am Ende oder bereits zur Mitte dieses Jahrhunderts?

CM: Wenn man sagt, die tropischen Regenwälder könnten völlig verschwinden, dann bedeutet das nicht, daß nicht irgendwo noch Reststücke überleben. Ich sage das eigentlich, weil das Überleben der tropischen Regenwälder nicht nur von der Bekämpfung der Entwaldung abhängt, sondern zunehmend von dem, was ich als "dual poison cocktail" bezeichnet habe, nämlich als eine Kombination zwischen Fragmentierung, Entwaldung und Klimaveränderung. Wenn wir effektiv die Zwei-Grad-Erwärmungsgrenze überschreiten, dann sehe ich sehr schwarz. Das ist eine physiologische Grenze für alle möglichen Ökosysteme. Das hat übrigens der Professor Schellnhuber schon vor fünfzehn Jahren gesagt. [7]

Ich bin heute überzeugt davon, daß er völlig recht hat, weil sich bei zwei Grad Erwärmung die ganze Physiologie dieser Wälder verändert; sie werden enorm anfällig für die Kombination Trockenheit und Feuer. Deshalb bin ich auch etwas in die Geschichte der Klimaveränderungen im Holozän und Pleistozän zurückgegangen, weil man da genau sieht, was mit den Klimaveränderungen passiert. Deshalb spitzt sich alles auf die Frage zu: Bringen wir es fertig, die zwei Grad Erwärmung global einigermaßen zu erreichen und nicht zu sehr zu überschreiten?

Mein Kollege Jorgen Randers [8], der mit mir zusammen gearbeitet hat - ich war Generaldirektor des WWF, und er hat damals die Klimamodelle für "die Grenzen des Wachstums" gemacht - ist überzeugt davon, daß wir Mitte dieses Jahrhunderts die zwei Grad erreichen werden. Der IPCC rechnet etwas später damit, was daran liegt, daß er andere Szenarien zugrundegelegt hat.

SB: In Ihrem Buch treten Sie anscheinend niemandem direkt auf die Füße. War es Ihre Absicht, möglichst keine Namen zu nennen, weil Sie sich davon eine höhere Kooperationsbereitschaft der Akteure erhoffen?

CM: Ich nenne natürlich Namen, vor allem einige der Firmen, die bei den großen Entwaldungen mitgearbeitet haben, zum Beispiel eine Anzahl der Palmölfirmen und auch einiger der Fleisch- und Sojafirmen. Aber wissen Sie, ich bin jetzt seit 45 Jahren in dieser Umweltszene tätig und habe dabei auch gemerkt, daß eigentlich nur eine Form von Dialog und Kooperation zum Ziel führt. Da haben wir auch einiges bewirkt. Natürlich nicht genügend, uns allen steht ein absolut irres ökonomisches System entgegen. Ein ökonomisches System, das die Ökosystemwerte [9] mit Null bewertet. Das ist eigentlich die Grundursache der Entwaldung. Auch viele Ökonomen gelangen gelegentlich zu dieser Überzeugung, aber ändern kann man es nicht so ohne weiteres. Ich war eigentlich immer jemand, der versucht hat, unsere Kontrahenten mitzunehmen. Das ist manchmal erstaunlich, daß man selbst in Firmen, von denen man sagen könnte, sie sind unsere Feinde, Menschen findet, die das Richtige wollen. Manchmal tut man denen Unrecht, wenn man pauschal sagt, ihr seid alle des Teufels.

SB: Herzlichen Dank für das Gespräch.


Claude Martin beim Interview - Foto: © 2015 by Schattenblick

"Es gibt keine Silver-bullet-Lösungen für die Erhaltung der tropischen Regenwälder. Es braucht eine Kombination verschiedener Maßnahmen. Aber diese Kombinationen kommen am wahrscheinlichsten zustande, wenn man durch verschiedene soziale Gruppen hindurch Koalitionen schmiedet. Ich bin ein starker Verfechter dieser Zusammenarbeit verschiedener Akteure in der Gesellschaft."
(Claude Martin, 21. Mai 2015, Berlin)
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Chico Mendes (15.12.1944 - 22.12.1988): Brasilianischer Kautschukzapfer, Führer der Landarbeitergewerkschaft und Waldschützer. Er wurde von einem Großgrundbesitzer und dessen Sohn erschossen.

[2] Claude Martin: "Die Regenwälder Westafrikas. Ökologie, Bedrohung, Schutz", Birkhäuser Verlag, Basel, Boston, Berlin 1989, ISBN 978-3764319878.

[3] Näheres dazu unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT:
BERICHT/073: Wohnstube Meer - verletzt man nicht ... (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umrb0073.html
und
INTERVIEW/110: Wohnstube Meer - fragen, bitten und nicht nehmen ... Rosa Koian aus Papua-Neuguinea im Gespräch (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0110.html

[4] REDD: Akronym für "Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation", z. Dt.: Reduzierung von Emissionen aus Entwaldung und Waldschädigung. REDD+ ist die Erweiterung dieser Funktion um "the role of conservation, sustainable management of forests and enhancement of forest carbon stocks in developing countries", z. Dt.: Die Rolle des Waldschutzes, der nachhaltigen Waldbewirtschaftung und des Ausbaus des Kohlenstoffspeichers Wald in Entwicklungsländern.
Bei REDD+ handelt es sich um eine vor allem von Entwicklungsländern vorangetriebene Initiative, daß sie nicht zuletzt im Rahmen einer globalen Klimaschutzpolitik für den Erhalt von Wäldern finanziell entschädigt werden.

[5] Fernando Henrique Cardoso, brasilianischer Soziologe und Politiker (Partido da Social Democracia Brasileira). Er war von Januar 1995 bis Dezember 2002 Präsident Brasiliens.

[6] Das Programm PPG7 wurde 1992 initiiert und richtete sich gegen die Entwaldung des Amazonasbeckens. Einzelheiten dazu:
http://www.worldbank.org/en/news/feature/2012/07/19/ppg7-maior-programa-ambiental-brasil

[7] Hans Joachim Schellnhuber, Direktor des von ihm 1992 gegründeten Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK). Er fordert eine gesellschaftliche Umstellung von fossilen auf regenerative Energieträger, damit sich die globale Durchschnittstemperatur nicht um mehr als zwei Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit erwärmt. Außerdem hat er zu einem frühen Zeitpunkt den Begriff des "Kippelements" in die Klimaschutzdiskussion eingebracht. Das PIK schreibt dazu:
"Kippelemente sind Bestandteile des Erdsystems von überregionaler Größe, die schon durch kleine externe Störungen in einen neuen Zustand versetzt werden können. Diesem Verhalten liegen selbstverstärkende Prozesse zugrunde, die einmal angestoßen auch ohne weiteren externen Einfluss weiterlaufen. Der Übergang nach dem Überschreiten eines systemspezifischen Kipppunktes erfolgt in der Regel sprunghaft und ist häufig unumkehrbar. Seine Umweltauswirkungen sind weitreichend und könnten die Lebensgrundlagen vieler Millionen Menschen gefährden.
Der Amazonas-Regenwald wird als ein solches Kippelement eingeschätzt, wie das PIK schreibt:
Ein Großteil der Niederschläge im Amazonasbecken stammt aus über dem Wald verdunstetem Wasser. Ein Rückgang der Niederschläge in einem wärmeren Erdklima und die Abholzung des Regenwaldes könnten den Wald an eine kritische Grenze bringen. Dabei können zwischen dem Überschreiten dieser kritischen Grenze und seinen sichtbaren Auswirkungen mehrere Jahrzehnte liegen. Eine Umwandlung des Amazonas-Regenwaldes in einen an die Trockenheit angepassten saisonalen Wald oder eine Graslandschaft hätte grundlegende Auswirkungen auf das Erdklima, da ein Regenwald der Atmosphäre effektiv mehr Kohlendioxid entzieht. Gleichzeitig würde das Verschwinden des Regenwaldes einen gewaltigen Verlust von Biodiversität bedeuten.
https://www.pik-potsdam.de/services/infothek/kippelemente

[8] Jorgen Randers (geb. 1945) war von 1994 bis 1999 als stellvertretender Generaldirektor des World Wildlife Fund International (WWF) in der Schweiz tätig. 1972 gab er gemeinsam mit Donella H. Meadows und Dennis L. Meadows das Buch "The Limits to Growth: A Report for the Club of Rome's Project on the Predicament of Mankind" (z. Dt.: Die Grenzen des Wachstums) heraus.

[9] Ökosystemwerte, auch Ökosystemdienstleistungen sind Begriffe, mit denen deutlich gemacht werden soll, daß beispielsweise ein Wald mehr wert ist als das Holz, das man aus ihm gewinnen kann; anders gesagt, sein Nutzen für die Menschen geht über den als Holzlieferant hinaus, da er u.a. als Naherholungsgebiet fungiert, für ein ausgeglichenes Klima sorgt, Zerstörungen durch Erosionskräfte verhindert, etc.

25. Mai 2015


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