Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REPORT


INTERVIEW/205: Profit aus Zerstörungskraft - systemische Verschleierung ...    Tomoyuki Takada im Gespräch (SB)


5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl

Internationaler IPPNW-Kongreß vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin

Tomoyuki Takada über die Rückkehr Japans zu Atomstrom, die Gängelung der Medien, das Fukushima-Tabu und seine Hoffnung, daß es der Regierung nicht gelingen wird, die Strahlenschäden dauerhaft unter den Teppich zu kehren


"Die Energiewende stellt eine grundlegende ethische und moralische Frage dar", sagte Tomoyuki Takada, bevor er näher auf die Einzelheiten der sogenannten Energiewende in Deutschland, vor allem aber in Japan einging. "Die Energiewende hat in ihrer ökologischen und gesellschaftspolitischen Dimension zwei Grundthemen: Erstens eine grundlegende Humanisierung der Ressourcennutzung, zweitens die damit zusammenhängende Demokratisierung der Gesellschaft." Lediglich die Energieproduktion und -versorgung neu zu strukturieren reiche für diese Zielsetzung nicht aus, erinnerte der in Tokio geborene und seit über dreißig Jahren in Deutschland lebende Referent an eine alte und vielerorts in Vergessenheit geratene Debatte über die Frage des gesellschaftlichen Zusammenlebens aus der alternativen Bewegung der siebziger, achtziger Jahre.


Die drei Redner nebeneinander auf dem Podium sitzend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Die Referenten des Forums "Energiewende, Bürger und Konzerne" stellen sich den Fragen des Publikums. Von links nach rechts: Dr. Tetsunari Iida (Institute for Sustainable Energy Policies in Chuo, Tokio), Tobias Jaletzky (Geschäftsführer von EUROSOLAR, der Europäischen Vereinigung für Erneuerbare Energien e. V.) und Tomoyuki Takada (Gründer der Initiative Atomfree Japan e. V.)
Foto: © 2016 by Schattenblick

Auf dem Internationalen Kongreß "5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl", der vom IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War - Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. Ärzte in sozialer Verantwortung) vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin, veranstaltet wurde, hielt der Vater von drei deutsch-japanischen Kindern, Gründer der Initiative Atomfree Japan e.V. und Leiter eines Übersetzungsbüros und einer Sprachschule in Düsseldorf einen Vortrag zum Thema "Ausstieg aus dem Ausstieg und Nicht-Energiewende in Japan".

Wenn von einer Energiewende in Japan nach der Fukushima-Katastrophe gesprochen wird, dann verschleiere das die tatsächlichen Verhältnisse. Die japanische Energiewende sei eine weitgehend von staatlicher Seite initiierte "Umstrukturierung, bzw. Verschiebung der bestehenden Verhältnisse in der Energiewirtschaft", sagte Tomoyuki Takada. Obwohl in Japan seit September 2013 über zwei Jahre lang kein Atomstrom produziert wurde, der Atomausstieg also geschafft war, will die rechtskonservative Regierung von Premierminister Shinzo Abe von der LDP (Liberal-demokratische Partei) den Atomenergieanteil wieder auf 20 bis 22 Prozent an der elektrischen Energieversorgung Japans anheben. Dazu werden mehr als 30 (von ursprünglich über 50) Atomenergiemeiler wieder angeschaltet.

Die erneuerbaren Energien liefern heute etwa vier Prozent der gesamten Stromproduktion Japans, ihr Anteil soll bis 2030 auf 13 bis 15 Prozent angehoben werden. Diese extrem langsame Steigerung ist einer der Gründe, weswegen der Referent eigentlich den Begriff Energiewende zur Beschreibung der japanischen Energiepolitik für unpassend hält. Im Anschluß an den Vortrag war Herr Takada bereit, dem Schattenblich einige Fragen zu beantworten.


Schattenblick (SB): Nach dem Vortrag von Tobias Jaletzki, dem Geschäftsführer von EUROSOLAR, über das Ausbremsen der deutschen Energiewende, könnte man fast den Eindruck gewinnen, daß sich Deutschland und Japan in der Geschwindigkeit der Energiewende allmählich von zwei Seiten annähern. Japan von unten mit einem ganz langsamen Prozentanstieg und Deutschland im Ausbremsen von oben. Wie sehen Sie das?

Tomoyuki Takada (TT): Das sehe ich überhaupt nicht so. Deutschland ist nach wie vor Vorreiter in der Energiewende in den Industrieländern. Was bisher geleistet wurde, verdient wirklich hohen Respekt. Aber als Bürger in Deutschland halte ich es für sehr bedenklich, daß der Anschub in den letzten Jahren fehlte und auch daß die Generation, die in den letzten dreißig Jahren die Energiewende eingeleitet hat, inzwischen über 60 Jahre alt ist und die nachwachsenden gesellschaftlichen Kräfte zu schwach sind, um sie fortzuführen.

Außerdem sollte man sich in Deutschland klarmachen, daß, wenn Fukushima nicht gekommen wäre, der jetzigen Regierung der Ausstieg aus dem Atomausstieg komplett gelungen wäre. Ich erinnere mich noch, es war im Herbst 2010, da habe ich zu dem Thema selber einen Aufsatz geschrieben und darin gewarnt: Jetzt müssen wir aufpassen, daß unsere Identität als Alternative und die Identität der Grünen nicht verlorengeht. Trotzdem hat die Kraft der Stimme durch die Anti-Atom-Demonstrationen im Herbst 2013 nicht gereicht, und deswegen möchte ich sagen: Fukushima hat den Leuten einen Schock versetzt, daraufhin sind viele von ihnen auf die Straße gegangen, aber das war kein dauerhaftes Engagement. Das erlebe ich auch in meinem deutschen Bekanntenkreis. Und die Bevölkerung schläft etwas, so daß die Regierung gemeinsam mit dem Stromkonzernen ihre Möglichkeiten ausnutzt.

Im Unterschied zu Japan existiert in Deutschland jedoch eine Basis, so daß, wenngleich zur Zeit vieles dagegenarbeitet, die Energiewende weiter vorangehen wird. Ich hoffe, daß dann die jüngeren Leute die Gefahr erkennen. Dafür sind die deutschen Medien nicht kritisch genug. Was Japan anbetrifft, so ist das eine wissens- und informationsorientierte Gesellschaft. Energiewende ist zwar bei vielen Intellektuellen ein Schlagwort, aber wie ich vorhin in meinem Vortrag gesagt habe, kommt sie überhaupt nicht aus der Mitte der Gesellschaft. Von daher halte ich es für eine gefährliche Aussage, wenn man diese zwei Modelle, Japan und Deutschland, miteinander vergleicht und behauptet, Deutschland verlöre die Dynamik. Das ist nicht unbedingt produktiv für das Weiterkommen der deutschen Energiewende, möchte ich sagen.

SB: Gibt es in Japan eine Bewegung, wie sie früher in Deutschland entstanden war, aus der dann die Partei der Grünen hervorging?

TT: Ich bin selber Mitglied der japanischen Grünen. Im Sommer 2012 gab es ein Zwischenhoch der japanischen Anti-Akw-Bewegung. Damals hatten die japanischen Grünen gerademal 150 Mitglieder, eines davon war ich. Heute sind es deutlich unter 100. Daran können Sie ablesen, daß in Japan keine gesellschaftlichen Kräfte existieren, die sich politisch zusammenschließen und dann ins Parlament einziehen könnten, weder auf der Präfektur- noch auf der nationalen Ebene. Die Verhältnisse sind ganz anders als in Deutschland.

Ich bin seit Anfang der 80er Jahre hier, habe auch die Entstehung der alternativen Bewegungen und der Grünen miterlebt. Das war wirklich etwas so Positives, von dem ich damals gesagt habe, daß es die Gesellschaft verändern wird. Von solchen Anzeichen sehe ich in Japan zur Zeit sehr wenig.

SB: Nach Fukushima war es doch in Japan zu großen Demonstrationen gekommen. Wo ist dieses Protestpotential geblieben?

TT: Da möchte ich die japanischen Normalbürger in Schutz nehmen. Die Manipulation durch die Massenmedien ist unvergleichlich groß, und die japanische Gesellschaft ist eine sehr vom Fernsehen abhängige Gesellschaft. In den Zeitungen sind schon manchmal etwas kritischere Stimmen zu lesen, im Internet sowieso, aber die Fernsehsender befinden sich komplett in den Händen von Industrie und Regierung, einschließlich des nationalen Senders NHK. Ich habe den Eindruck, daß es im Ausland noch nicht so bekannt ist, wie sehr zur Zeit in Japan die Presse unterdrückt wird. Der Regierung ist es gemeinsam mit den obrigkeitshörigen Massenmedien gelungen, die Mehrheit des Wahlvolks in Japan soweit zu bringen, daß heute die Anti-Akw-Bewegung keine Priorität mehr darstellt.

SB: Japan ist doch internetmäßig nicht so abgeschottet wie beispielsweise Nordkorea. Kommt man nicht übers Internet an Informationen über Fukushima?

TT: Auch wenn das jetzt ein bißchen esoterisch klingt: Die Japaner sind von klein auf so was von "links-gehirn-orientiert" aufgewachsen. Sie haben kein Familienleben, sind immer in Konkurrenz zueinander und haben keine lebensphilosophischen Empfindungen. Wenn man das bedenkt und sich dann anschaut, welche Leute unsere Politik bestimmen, kann man das viel besser nachvollziehen.

Etwas pauschalisierend gesagt, wird die japanische Bildung und Kultur den Leuten ganz subtil immer durch die Hintertür mitgegeben. Da findet oft nicht so eine direkte Unterdrückung statt, was man beispielsweise von Rußland oder Südamerika erwarten würde. Aber Stück für Stück geht das immer voran. Zum Beispiel werden kritische Berichte aus dem Internet nach ein, zwei Tagen rausgenommen. Oder sehen Sie, was auch Herr Iida [1] in seinem Vortrag gesagt hat. Bei mehreren Fernsehsendern mußten kritische Berichterstatter von sich aus aufhören, weil der Programmdirektor zur Unterabteilung gegangen ist, dessen Leiter das an seine Mitarbeiter weitergeben hat, und so weiter. Wir sagen dazu, daß einem mit einem Baumwolltuch Stückchen für Stückchen die Kehle enger zugeschnürt wird.

SB: In Deutschland gibt es die Redewendung "dem Volk aufs Maul schauen". Sie sind häufiger in Japan und unterhalten enge Kontakte dorthin. Reden die Menschen im privaten über die Strahlenfolgen in der Präfektur Fukushima?

TT: Ich gebe Ihnen dazu zwei Beispiele: Ich habe in der Stadt Fukushima eine gute Bekannte, die vor vier Jahren von dort geflohen war. Sie ist ausgebildete Konditorin und lebte bis Ende des letzten Jahres in unserer Kulturhauptstadt Kyoto, im westlichen Teil Japans. Nach vier Jahren hat sie sich entschlossen, zurückzukehren, und arbeitet jetzt in einer Kochschule. Sie hat mir über die Gesundheitsgefährdung durch die Verstrahlung oder durch verstrahlte Lebensmittel berichtet. Aber unter normalen Bürgern ist es einfach ein Tabu, darüber zu sprechen. Sogar in Fukushima vermeidet man das Thema.

Ein zweites Beispiel: Ein Zeitungsjournalist, der bei einer von zwei großen Regionalzeitungen in der Präfektur Fukushima arbeitet und den wir sehr gut kennen, ist sehr kritisch gegenüber der Präfekturregierung, und dem, was diese über TEPCO [2] vermeldet, eingestellt. Er ist sehr gut informiert, aber er wußte, er kann in der Redaktion darüber gar nichts sagen. Damit würde er nur seine Stelle gefährden. Er würde sie nicht sofort verlieren, so direkt sind die Japaner nicht, sie benutzen immer subtile Mittel, um Druck auszuüben.

Dieser Freund wollte nicht, daß seine Kinder weiter in Fukushima aufwachsen und ist mit ihnen in die historische Stadt Yonezawa in der Nachbarpräfektur Yamagata gezogen. Er war bei seiner Zeitung Leiter der Kulturabteilung und sollte befördert werden. Aber in der Redaktion wurde unter der Hand thematisiert, daß er, obwohl er Journalist in Fukushima-Stadt ist, mit seiner Familie umgezogen war und daß er jetzt immer von Yonezawa aus zur Arbeit nach Fukushima fährt.

Als ich eines Tages mit ihm telefoniert habe, war er plötzlich nur noch für die Bibliothek zuständig. Ich habe ihn gefragt: "Wieso machst du das?" Und er hat geantwortet: "Naja ..." Im letzten Sommer habe ich ihn besucht und er hat mich und meinen Sohn zwei Tage lang begleitet; dabei alles gezeigt, auch die Sperrzone um das Akw Fukushima Daiichi. Am zweiten Abend kam er damit heraus, sein Umzug sei ihm beruflich negativ ausgelegt worden; deswegen sei er in die Ecke gedrängt worden. Jetzt trägt er sich mit dem Gedanken, daß er kündigt, sobald die Kinder größer sind.

Das ist dieser sanfte Druck, von dem ich sprach, und den ich von unterschiedlichsten Fällen her kenne.

SB: Schon bald nach Beginn der Fukushima-Katastrophe wurde in der hiesigen Presse über Nasenbluten bei Kindern gesprochen. Was ist Ihr Eindruck, treten solche ungewöhnlichen Phänomene häufiger auf?

TT: Das Nasenbluten war eindeutig sehr verbreitet. Aber man hat in den ersten Jahren in den Massenmedien versucht, dies nicht in einen direkten Zusammenhang zum Fukushima-Fallout zu stellen, sondern man hat es als psychische Überreaktion bezeichnet.

Es gibt in Japan einen populären Manga-Schreiber, Tetsu Kariya, der große Anerkennung genießt und in Australien lebt. Er hat es gewagt, in seiner Manga-Serie, die eine Millionenauflage hat, Fukushima zu thematisieren und das Nasenbluten als ein eindeutiges Zeichen für die Auswirkungen der Niedrigstrahlung darzustellen. Dazu hatte er eine Persönlichkeit geschaffen, die diese Meinung vertritt. Es war also gar nicht mal seine eigene Meinung. Dennoch führte das in Japan zu einer landesweiten Diskussion. Kariya wurde unter Druck gesetzt und der Verlag, der die Mangas herausgibt und sehr groß ist, mußte sich dafür entschuldigen.

Die von Professor Tsuda [3] festgestellte Zunahme von Schilddrüsenkrebs bei Kindern ist zwar tragisch, doch verbinde ich damit die kleine Hoffnung, daß die Regierung sie nicht mehr unter den Tisch kehren kann, sollte das Ausmaß der Erkrankungen in den nächsten Jahren dramatisch steigen. Allerdings fürchte ich zugleich, daß sie alles daransetzen wird, sie epidemiologisch gar nicht erst zu erfassen.

SB: Vielen Dank, Herr Takada, für das Gespräch.


Nebeneinander stehend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Das Ehepaar Tomoyuki Takada und Eva Axnix Takada
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Dr. Tetsunari Iida ist Nuklearwissenschaftler und Experte für erneuerbare Energien, Politikberater und Politiker. Er leitet das gemeinnützige Institute for Sustainable Energy Policies in Chuo, Tokio.

[2] TEPCO - Die Tokyo Electric Power Company ist Betreiberin von Atomkraftwerken in Japan, unter anderem von dem Akw Fukushima Daiichi, das am 11. März 2011 zunächst von einem schweren Erdbeben erschüttert und dann von einem Tsunami getroffen wurde.

[3] Prof. Dr. Toshihide Tsuda ist Epidemiologe und lehrt seit 1990 an der Okyama University. Er ist Hauptautor einer kürzlich erschienenen Studie über die Zunahme von Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen in der Präfektur Fukushima.
Ein Schattenblick-Interview mit Prof. Tsuda wird in Kürze erscheinen.


Die Berichterstattung des Schattenblick zum IPPNW-Kongress finden Sie unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT:

BERICHT/112: Profit aus Zerstörungskraft - Herrschaftsstrategie Atomwirtschaft ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0112.html

BERICHT/113: Profit aus Zerstörungskraft - kein Frieden mit der Atomkraft ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0113.html

INTERVIEW/203: Profit aus Zerstörungskraft - nach unten unbegrenzt ...    Dr. Alexander Rosen im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0203.html

INTERVIEW/204: Profit aus Zerstörungskraft - Spielball der Atommächte ...    Dr. Helen Caldicott im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0204.html

INTERVIEW/206: Profit aus Zerstörungskraft - auf verlorenem Posten ...    Ian Thomas Ash und Rei Horikoshi im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0206.html

9. März 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang