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INTERVIEW/255: Gemessen essen - gehüpft wie nicht gesprungen ...    Prof. Dr. Heiner Boeing im Gespräch (SB)


DGE-Journalistenseminar am 1. Februar 2017 im Universitätsclub Bonn

Besseres Essen für alle: Welchen Beitrag leisten die DGE-Qualitätsstandards? - Ergebnisse des 13. DGE-Ernährungsberichts

Prof. Dr. Heiner Boeing über Kohortenstudien, Metaanalysen und Ursachenforschung bei der gesundheitlichen Bewertung von Lebensmitteln und warum Knäckebrot gesund ist, selbst wenn es Spuren von Acrylamid enthält ...


Mit "Besserem Essen" - diesen Titel hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) ihrem diesjährigen Journalistenseminar in Bonn vorangestellt - verbindet man normalerweise ein Geschmacksvergnügen, das zudem verspricht aus guten und somit "gesundheitsfördernden", zumindest aber nicht krankmachenden Zutaten zusammengestellt, gekocht oder gebacken worden zu sein. Das damit unausgesprochen verstandene Qualitätsversprechen, den menschlichen Körper mit allem zu versorgen, was er braucht, um sich gesund und fit zu fühlen, hat bereits eine lange Geschichte, an der die DGE einen großen Anteil hat. Sie nimmt ihren von der Bundesregierung übertragenen Auftrag, den Menschen zu erklären, was es bedeutet, sich gut und gesund zu ernähren, seit über 60 Jahren wahr, wobei ihre Botschaft im Grunde die gleiche geblieben ist, die allerdings durch immer wieder neue Studien der Ernährungswissenschaften, Biochemie oder Epidemiologie bestätigt wird: "Nimm von allem etwas, dann bleibst du gesund" bzw. nur eine abwechslungsreiche, ausgewogene und möglichst vollwertige Ernährung kann den Nährstoffbedarf decken und gleichzeitig auch das Erkrankungsrisiko reduzieren. Was man darunter verstehen muß, geht auf ein bewährtes Konzept zurück, mit dem die DGE seit 1955 Verbrauchern eine Orientierung für die Lebensmittelauswahl gibt, den DGE-Ernährungskreis.


Eine Pyramide, deren breiter Sockel aus Wasser und Getränken, gefolgt von kohlehydratreichen Lebensmitteln, Obst und Gemüse, Milch und Fisch, Fleisch und Eiprodukten, an der Spitze sogar mit von Süßigkeiten gekrönt wird. - Grafik: by Tartan, gemeinfrei, via Wikimedia Der Kreis soll die Würdigung und Gleichstellung aller Lebensmittel symbolisieren - Grafik: © by DGE

links: Ob Pyramide ...
Grafik: by Tartan, gemeinfrei, via Wikimedia
rechts: ... oder Kreis, beide empfehlen, "von allem etwas" in vernünftigen Mengen zu essen
Grafik: © by DGE

Beim ersten Entwurf des Ernährungskreises von 1955 standen inhaltlich die Nährstoffe im Vordergrund. Sie wurden nach ihren Funktionen in Baustoffe (Eiweiß, Wasser), Brennstoffe (Fett, Kohlenhydrate) und Ergänzungsstoffe (Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente) in konzentrischen Kreisen, gemeinsam mit der empfohlenen, täglichen Zufuhr, Energie- und Mengenangaben sowie den ausgewählten Lebensmitteln angeordnet. Das äußerst komplexe und noch schwer verständliche Modell wurde kurz danach von einer lebensmittelbezogenen Darstellung abgelöst, die bis heute die sieben "guten" Lebensmittelgruppen symbolisieren und später noch um das Segment "Getränke" erweitert wurde.

Sinnsprüche im Stil von Bauernweisheiten wie "Zum Aufbau ist das Eiweiß wichtig, iß täglich hiervon, das ist richtig" und "Willst Energie dem Körper spenden, mußt Stärke, Zucker, Fett verwenden", sollten schon damals dem Verbraucher eben genau diese Botschaft vermitteln: "Nimm etwas von allem, dann bleibst du gesund". Auch das Versprechen, bei richtiger Ernährung Krankenheiten vorbeugen zu können, wurde damals schon nicht ausgelassen ("Dem Schutz des Körpers kannst du dienen mit Mineralstoff, Vitaminen."). Viele Jahre wurde der allgemeine "Schutz des Körpers" oder die Krankheitsprävention, wie man heute sagt, vor allem mit der Nährstoffebene in Verbindung gebracht, ohne daß daraus die Notwendigkeit entstand, die ursprüngliche Botschaft, "von allem etwas" genauer oder spezifischer abzufassen.

Daß das, was wir täglich essen und trinken, während der gesamten Lebensspanne einen großen Einfluß auf unsere Gesundheit und Leistungsfähigkeit hat, ist der Leitfaden, der die einzelnen Kapitel des 13. DGE-Ernährungsberichts verbindet. Das 5. Kapitel, das der federführende Autor, Prof. Dr. Heiner Boeing, im ersten Vortrag des DGE-Journalistenseminars vorstellte und dabei die wissenschaftliche Schwierigkeit deutlich machte, überhaupt eine eindeutige Abhängigkeit zwischen Ernährung und Krankheitsaufkommen zu erkennen, geht sogar noch einen weiteren Schritt zurück zu den Wurzeln der Ernährungsberatung der DGE: Erstmals wird darin eine Bewertung der Relevanz einzelner Lebensmittelgruppen des DGE-Ernährungskreises für die Prävention ernährungsbedingter Krankheiten vorgenommen.

Um die auf diese Weise mit gesunder oder schädlicher Ernährung gleichgesetzte Komplexität ein wenig zu entwirren, war Prof. Dr. Heiner Boeing im Verlauf der Veranstaltung bereit, noch einige Fragen zu beantworten ...


Während der Präsentation des 5. Kapitels des 13. DGE-Ernährungsberichts in Bonn. - Foto: © 2017 by Schattenblick

Das Alter und unvorhersehbare Veränderungen im Verlauf der Zeit sind Faktoren, die Aussagen zur ernährungsbedingten Prävention von Krankheiten erschweren. - Prof. Dr. Heiner Boeing
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Man hört immer wieder mal etwas über bittere Schokolade oder rote Trauben, mediterrane Küche oder bestimmte Früchte wie Garcinia Cambogia etc., denen nachgesagt wird, dass sie gesund sind oder beim Abnehmen helfen. Nun hängt der Stoffwechsel bekanntlich von wahnsinnig vielen Faktoren ab. Und die Ernährung ist auch selten einseitig. Wie lässt sich das Nichteintreten spezieller Krankheiten auf einen bestimmten Stoff oder auch nur ein bestimmtes Lebensmittel zurückführen?

Prof. Dr. Heiner Boeing (HB): Dafür nutzen wir in der Ernährungsforschung die Beobachtung von großen Bevölkerungsgruppen. Die Technik ist relativ einfach: Wir vergleichen Gruppen von Menschen hinsichtlich des Krankheitsaufkommens, die viel von einem Ernährungsfaktor essen, mit Menschen, die wenig davon essen. Dabei nutzen wir eine intelligente Methode, die sogenannte statistische Modellierung der Risikoschätzung. Bei der Modellierung werden auch neben dem Ernährungsfaktor weitere Risikofaktoren berücksichtigt und gegebenenfalls ebenfalls mit ihrer Risikoschätzung darstellt. Auf diese Weise lässt sich der reine Effekt eines Ernährungsfaktors bei der Krankheitsentstehung errechnen.

Wenn die statistischen Analysen in Risikoparametern übersetzt werden und wir daraufhin von einem erhöhten oder erniedrigten Risiko sprechen, heißt das genau genommen, dass mit dem Verzehr eines bestimmten Produkts tatsächlich eine größere oder kleinere Anzahl von Menschen erkranken. Die Grundlage der Ernährungs-Krankheitsbeziehungen ist die Zahl der Erkrankungen in der Studienbevölkerung. Ein Risiko besteht dann, wenn wir statistisch auffällige Unterschiede gesehen haben. Ein relatives Risiko von "zwei" heißt beispielsweise, dass doppelt so viele Leute in der einen im Vergleich zur anderen Gruppe erkrankt sind.

Woran kann der Unterschied in den Erkrankungen liegen? Geht das auf unsere Einteilung in Wenig- und Vielesser zurück oder sind andere Faktoren dafür verantwortlich? Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, dass wir nach Jahrzehnten der Forschung die anderen für die Krankheit entscheidenden Faktoren nicht kennen und in unseren statistischen Modellen nicht berücksichtigen. Daher gilt zunächst, dass der Unterschied mit dem Wenig- bzw. Vielessen zusammenhängt. Aber die Epidemiologie kann mittels ihrer Analysen nicht mehr sagen, als dass sich zum Beispiel in Verbindung mit dem Verzehr von einem bestimmten Lebensmittel die Zahl von Erkrankten verdoppelt hat. Um im Einzelnen herauszufinden, welche Stoffe biologisch dafür verantwortlich sind, müssen experimentelle Studien durchgeführt werden. Jedes Lebensmittel besitzt zahlreiche Inhaltsstoffe, die im Stoffwechsel aktiv sind und dort auch bestimmte Prozesse beeinflussen können.

So haben wir zum Beispiel festgestellt, dass Schokoladenesser weniger Schlaganfälle bekommen. Daraufhin haben andere Wissenschaftler verschiedenen Testpersonen dunkle und weiße Schokolade gegeben - also Schokolade mit einem unterschiedlichen Kakaogehalt - und daraufhin die Auswirkungen des unterschiedlichen Schokoladenkonsums auf den Stoffwechsel und die Blutparameter ausgewertet. Man war beispielsweise interessiert, inwieweit sich die Stabilität der Gefäßwände oder die Ablagerungen in den Arterien verändert haben. Anschließend fragt man, welche Stoffe genau diese Veränderungen bewirken können. Kakao enthält sogenannte Flavonoide, die bekannt dafür sind, dass sie unter anderem den Zustand der Arterien verbessern können. Empfindliche Arterienwände, in denen es leicht zu Verletzungen oder Blutungen kommt, die wieder ein Blutgerinnsel oder eine Verstopfung nach sich ziehen können, können typische Auslöser für einen Schlaganfall sein. So gesehen macht der vermutete positive Einfluss von Kakao Sinn und angesichts des biologischen Mechanismus scheint es wahrscheinlich, dass das geringere Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden, an der dunklen Schokolade liegt.

SB: Wenn ich das richtig verstehe, braucht man aber bereits im Vorfeld einen bestimmten Verdacht, wie etwa die Wirkung von Flavonoiden auf die Arteriengefäßwände, und verfolgt dann etwas genauer, was man bereits kennt?

HB: Den Verdacht brauchen wir nicht. Es kann auch die Beobachtung unterschiedlicher Erkrankungsrisiken sein. Dann wird überlegt, woran es liegen könnte. Dafür wird dann in die Literatur geschaut, ob es bereits Studien dazu gibt. Und wenn es die nicht gibt, gibt es Arbeitsgruppen, die die epidemiologische Beobachtung aufgreifen und experimentell genauer untersuchen. Solche Arbeitsgruppen analysierten beispielsweise Schokolade auf ihre Inhaltsstoffe und wiederum die Inhaltsstoffe, ob sie eine entsprechende Wirkung erklären können. Grundsätzlich gibt es aber schon eine relativ große Basis an Studien und Veröffentlichungen, auf welche die Ernährungsepidemiologie zurückgreifen kann.

SB: 35 Prozent der Deutschen - mehr Frauen als Männer - nehmen Nahrungsergänzungsmittel zu sich. Das heißt, sie greifen faktisch Ihre Studienergebnisse auf, ändern aber dann nicht unbedingt etwas an den eigenen Ernährungsgewohnheiten, sondern supplementieren nur die Stoffe, die in den von Ihnen oder von der DGE empfohlenen Lebensmitteln enthalten sein sollen. Was halten Sie davon?

HB: Ich würde nicht sagen, dass sie unsere Studien aufgreifen. Sie ziehen nur für sich persönlich gewisse Schlussfolgerungen daraus. Dazu kommt, dass wir eigentlich längst wissen, dass unser täglicher Bedarf an Nährstoffen, Vitaminen und Mineralstoffen bis auf wenige Ausnahmen sicher mit der normalen Ernährung gedeckt ist. Wir leben nicht in einem Vitaminmangelland. Trotzdem gibt es immer wieder das Phänomen, dass manchen Menschen "sicher" noch immer nicht "sicher genug" ist. Sie führen sich dann lieber noch zusätzliche Stoffe zu. Dies wäre nicht notwendig, zumal diese häufig essentiellen Nährstoffe oder Vitamine - die wir bekanntlich mit der Nahrung zuführen müssen, weil wir sie in unserem Stoffwechsel nicht produzieren können - in der Regel eben nicht die Stoffe sind, die einen präventiven Einfluss auf eine mögliche Krankheitsentstehung haben.

Dass viele der krankheitsreduzierenden Effekte nicht unbedingt etwas mit den traditionellen Nahrungsergänzungsmitteln zu tun haben, konnte in Studien gezeigt werden. Zum Beispiel haben sich weder das Vitamin C noch die Carotinoide als besonders wirksam für die Prävention von Krankheiten erwiesen. Die größten gesundheitsrelevanten Einflüsse lassen sich noch am ehesten auf die sogenannten sekundären Pflanzeninhaltsstoffe zurückführen, die eben nicht in den Ergänzungsmitteln zu finden sind.

SB: Mittels bestimmter innovativer Methoden und Nanotechnologien (Nanoverkapselung oder feinste Verteilung) ließe sich - so der Aktionsplan Nanotechnik 2020 der Bundesregierung - nicht nur die Haltbarkeit und der Vitamingehalt von Lebensmitteln erhöhen, ihr Fett-, Zucker- und Salzgehalt reduzieren, sondern auch Vitamine in Zubereitungen einfügen, in denen sie sonst nicht zu finden sind. Insgesamt steht auch dieser Plan unter dem Credo "Bessere und gesündere Lebensmittel". Gruselt es Sie als Ernährungsforscher, wenn das tatsächlich Schule machen sollte?

HB: Aus den weltweiten epidemiologischen Daten geht deutlich hervor, dass der größte präventive Einfluss auf die Veränderung in der Struktur der Nahrungsaufnahme zurückgeht und nicht so sehr eine Frage der Detailarbeit an einem Lebensmittel ist. Wenn Menschen auf bestimmten Gewohnheiten beharren und zum Beispiel sagen: "Wir brauchen aber unser Kilo Fleisch in der Woche", dann muss man sich fragen, ob das Risiko, das damit verbunden ist, nur ein bisschen modifiziert werden soll. Substantielle Veränderungen im Risiko erreicht man nur zum Beispiel über eine Reduktion des bisherigen Fleischkonsums um die Hälfte. Das gleiche gilt auch für andere Bereiche. Für die Minderung des Krankheitsrisikos reicht es normalerweise aus, die Struktur der Nahrungsaufnahme zu verändern, also von bestimmten Lebensmitteln mehr zu essen und von anderen weniger. Und dies unter dem Gesichtspunkt von Geschmack möglichst auch noch "variantenreich".

Man muss der Bundesregierung zu Gute halten, dass sie immerhin erkannt hat, dass wir zu fett, zu süß und zu salzig essen. Die Schlussfolgerung geht nur nicht dahin, den Verzehr dieser Produkte zu reduzieren, sondern wir neigen in Deutschland dazu, relativ vorsichtig vorzugehen und erst mal ein wissenschaftliches Programm daraus zu machen oder einen Forschungsauftrag zu vergeben. Diese Forschungen beschäftigen sich mit der Frage, wie man Lebensmittel so gestalten kann, dass sie weniger Fett, Salz oder Zucker enthalten. Die Frage in diesem Zusammenhang heißt nur: Wie geht das? Eine Möglichkeit dazu bietet natürlich die Nanotechnologie, in der letztendlich auch Innovationspotential gesehen wird.

SB: Verstehe ich Sie jetzt richtig, dass Sie in den Möglichkeiten der Nanotechnologie nur eine von vielen wissenschaftlichen Ansätzen sehen?

HB: Ja. Für mich gibt es eigentlich keine Alternative als eine Reduktion und Veränderung in der Struktur der Nahrungsaufnahme. Aber diese klare Aussage habe ich selten gesehen. Sie folgt den epidemiologischen Daten, die zum Beispiel die einfache Schlussfolgerung beinhalten, weniger Salz aufzunehmen. Um das zu erreichen, gäbe es relativ einfache, regulatorische Möglichkeiten wie die für Brot zulässige Salzmenge herabzusetzen. Stattdessen versucht man in den Forschungsprojekten, über bestimmte Verfahren oder auch Nanotechnologie einen ähnlichen Salzgeschmack mit weniger Salz zu erreichen. Dabei ist der Salzgeschmack einfach auch eine Sache der Gewöhnung. Wenn wir den Salzgehalt plötzlich drastisch reduzieren, dann würde es niemandem mehr schmecken. Aber es gibt durchaus Techniken, den Salzgehalt langsam zurückzufahren. Doch vor derart direkten Maßnahmen schrecken wir in Deutschland zurück. Wir haben auch keine wirklich eindeutigen ernährungspolitischen Zielvorgaben, bei denen es heißt, da wollen wir ernährungsmäßig hin.

SB: Bedauern Sie das? Würden Sie sich von der Gesundheitspolitik oder vom Ministerium für Landwirtschaft und Ernährung hier weniger neue Forschungsprogramme als einen stärkeren administrativen Einfluss erhoffen?

HB: Nun ja, als Epidemiologe denke ich, dass die Effekte der neuen Forschungsprogramme bei Umsetzung im Markt das Krankheitsaufkommen nicht wesentlich beeinflussen, da keine wirkliche Veränderung damit verbunden ist. Aber als Wissenschaftler freue ich mich natürlich über ein weiteres Forschungsprogramm und dass noch mehr Geld in die Wissenschaft fließt.

SB: In Ihrem Institut wurde vor einiger Zeit eine Studie über epigenetische Leberverfettung bei Ratten durchgeführt und veröffentlicht. Unabhängig davon wurde unlängst über eine Studie ebenfalls an Ratten berichtet, in der das gleiche Problem - Leberverfettung - auf Glyphosat zurückgeführt wurde, mit dem viele Lebensmittel belastet sind. Welchen Anteil bei den gesundheitlichen Risiken in der Ernährung könnten auf solche unerwünschten Begleitstoffe zurückgehen, die durch landwirtschaftliche Praktiken, Düngung, Schädlingsbekämpfung, Sikkation usw. in die Lebensmittel gelangen.

HB: Das hat keinerlei Auswirkungen. Zum einen würde von diesen Rückständen zu wenig in die Lebensmittel gelangen, als dass sie noch eine Wirkung haben könnten. Zum anderen würden Stoffe, die eine klare, humane Beziehung in den Studien zeigen, gar nicht erst zugelassen werden. Es gibt zwar noch einige Stoffe, bei denen die Frage, ob sie eine gesundheitliche Auswirkung haben oder nicht, noch nicht vollständig geklärt ist. Aber es handelt sich um keine wirklichen, sondern potentielle Risiken. Während wir beispielsweise in Studien einen klaren Bezug zwischen dem Fleischverzehr und bestimmten Erkrankungen sehen, sehen wir so etwas bei Glyphosat nicht. Das können oder dürften wir auch gar nicht sehen. Denn wenn diese Stoffe tatsächlich einen Effekt hätten, der zum Beispiel mit dem vergleichbar wäre, den die Struktur der Lebensmittelaufnahme auf das Erkrankungsrisiko hat, dürften diese Stoffe nicht zugelassen sein Darüber hinaus sind die potentiellen Erkrankungszahlen bei Extrapolation der Tierversuche mit Glyphosat oder anderen Rückständen auf den Menschen vergleichsweise gering. Wenn Sie ein solches Szenario auf eine Studienpopulation von etwa 30.000, die Grundlage unserer Erkenntnisse zur Bedeutung der Struktur der Nahrungsaufnahme sind, anwenden, ist das statistisch nicht relevant. Ich würde sagen, jemand der raucht, kann die gesundheitlichen Folgen, die er davonträgt, nicht mit denen der Pflanzenschutzmittelrückstände vergleichen.

SB: In diesem Zusammenhang wird häufiger das mögliche Problem der Niedrigdoseneffekte diskutiert, die eigentlich recht wenig untersucht und von der Forschungspolitik überhaupt nicht unterstützt werden. Wäre hier nicht von vornherein eine andere Fragestellung nötig?

HB: Ja, aber dennoch wären solche Effekte nur minimal in Vergleich zu anderen Risiken. Wer dennoch Schlimmeres befürchtet, kann immer noch auf biologisch angebaute Produkte ausweichen. Vollkommen ausschließen kann man Niedrigdoseneffekte allerdings auch nicht. Wir haben ja auch Beispiele für Pestizide, deren Zulassung nach einiger Zeit zurückgenommen wurde, weil gesundheitsgefährdende Effekte doch auf sie zurückgeführt werden konnten. DDT steht für dieses Prinzip. Bei Verdacht ist es natürlich sinnvoll, diese Substanzen epidemiologisch genauer zu untersuchen und auch das Vorsorgeprinzip gelten zu lassen. Dennoch halte ich den Lebensstil für wichtiger für das Erkrankungsrisiko als die Rückstände. Wir wissen ganz klar, was das Rauchen macht.

SB: Sie haben den Begriff jetzt häufiger verwendet, können Sie unseren Lesern noch einmal kurz erklären, was Sie genau unter Struktur in Zusammenhang mit Ernährung verstehen?

HB: Struktur ist, was man isst, also letztlich, wie sich die Nahrung zusammensetzt, beispielsweise, wie groß der Anteil an Obst und Gemüse im Verhältnis zum Fleisch und zu der kohlehydratreichen Beilage (Kartoffeln, Nudeln, Reis) ist. Essen wir eher mediterran, wie es traditionell in den Mittelmeeranrainerstaaten üblich ist, oder ziehen wir eine bestimmte andere Nahrungsmittelzusammensetzung vor? Fleischesser sind Vertreter einer Nahrungsstruktur, die ein anderes Krankheitsaufkommen besitzt als die Vertreter einer Struktur, die weniger oder sogar gar kein Fleisch besitzt.

SB: Um noch einmal auf das Thema zurückzukommen: Sie sagten vorhin, dass die wissenschaftlichen Archive bereits voll sind von Studien darüber, welche Inhaltsstoffe in Nahrungsmitteln enthalten sind und wie sie auf den Organismus wirken. Wie ausgeprägt ist denn die Forschung in Hinsicht auf die vielen Fremdstoffe, die in die Umwelt geraten und - wenn auch nur in ganz kleinen Mengen - in die Nahrung gelangen können oder erst bei der Zubereitung entstehen?

HB: Das kann man natürlich alles untersuchen. Es gibt ja das große Feld der Toxikologie, die uns ab und zu mit einigen tollen Ideen überrascht, wie etwa mit dem krebsbegünstigenden, das heißt carcinogenen Acrylamid [1]. Viele dieser Ideen lassen sich epidemiologisch gar nicht so einfach untersuchen trotz immer besserer Analytik. Wir fangen jetzt zum Beispiel in der EPIC-Studie [2] damit an, über die Bestimmung von Blutmetaboliten, also natürliche Marker oder Stoffwechselprodukte im Blut, die eine oder andere Idee überprüfen zu können. Dabei sind Fragen wichtig, wie man Acrylamid im Blut messen beziehungsweise ob man es überhaupt messen kann und welche Auswirkungen und Konsequenzen von dieser Substanz zu erwarten sind. [1]

Und man kann auch nicht verleugnen, dass aus der Vergangenheit noch das eine oder andere persistente Pestizid übrig geblieben ist, bei dem wir uns dann fragen, ob es das Krankheitsrisiko beeinflusst. Oder es tauchen in den Analysen mit Blutmetaboliten plötzlich vermeintlich harmlose Zusatzstoffe auf, die dann doch in irgendeiner Weise mit dem Krankheitsrisiko verbunden sind. [3]

SB: Sollten solche Einflüsse Ihrer Ansicht mehr und vor allem genauer untersucht werden? Angesichts von mindestens 8000 Agrarchemikalien und vielen anderen Stoffen, die miteinander reagieren können, ergäben sich daraus geradezu haufenweise neue Forschungsansätze.

HB: Nein, das muss nicht alles im Detail untersucht werden. Aber wenn sich neue Ansätze oder Verdachtsmomente ergeben oder wenn es experimentelle Studien gibt, die einen Verdacht nahelegen, dann sollte man dem auch epidemiologisch nachgehen. Dies kann aber nur dann geschehen, wenn wir das auch studienmäßig können und wenn wir die entsprechenden Methoden dafür haben. Vielleicht ergibt sich auch die eine oder andere Erkenntnis aus der Epidemiologie selber, indem ein Stoff, der bisher gesundheitlich nicht als relevant angesehen wurde, vielleicht doch die menschliche Gesundheit beeinflusst.

Doch selbst wenn ich etwas als Epidemiologe für wichtig erachte, muss das noch im Einzelfall genau untersucht und geklärt werden. Und der Erkenntnis, dass sich ein gewisses Krankheitsaufkommen auch tatsächlich nachweislich auf eine bestimmte Substanz zurückführen lässt, sind in der Untersuchungsmethodik Grenzen gesetzt. Das heißt, wir können schon allein aus ethischen Gründen keiner Population geringe Mengen von Pestiziden oder von toxikologisch verdächtigen Stoffen geben, damit sie diese randomisiert kontrolliert einnimmt. Nur mit diesem Ansatz können wir sicher sein, wie sie sich beim Menschen auswirken.

Als Alternative zur Intervention ist die Nutzung von Proben von Blut oder biologischem Material innerhalb von Beobachtungsstudien zu sehen. Blutkomponenten werden dahingehend analysiert, ob es Hinweise auf Verbindungen mit dem Krankheitsaufkommen gibt. Positiven Befunden kann man dann nachgehen. Statistisch abgesicherte positive Assoziationen mit Erkrankungen würde dann natürlich das sofortige Aus für einen Stoff in der Anwendung bedeuten.


Eine Portion Pommes Frites mit Mayo und Ketchup - Foto: by Tania Timpone, gemeinfrei nur via titania-foto.com

Acrylamid, relativ: in England sollen Wirte sogar Bußgeld zahlen, wenn die Pommes zu knusprig sind. Im seit vielen Jahren nachweislich "gesunden" Knäckebrot ist es ebenfalls enthalten.
Foto: by Tania Timpone, gemeinfrei nur via titania-foto.com

Über die zumeist nur winzigen Spuren von Acrylamid können Sie bestenfalls philosophieren. Mag sein, dass sie toxikologisch relevant sind, aber sie werden auch in Vollkornprodukten wie Knäckebrot gefunden. Sie entstehen beim Backen. Vollkornprodukte wie Knuspermüsli oder Knäckebrot sind aufgrund der darin enthaltenen Ballaststoffe wiederum mit einem abgesenkten Risiko für Darmkrebs und anderen Krankheiten verbunden, obwohl Acrylamid darin enthalten sein könnte.

SB: Auch andere, direkt gesundheitsfördernde Substanzen, braune stickstoffhaltige Makromoleküle, die in Brot- oder anderen braunen Krusten zu finden sind, haben das Acrylamidrisiko ebenfalls relativeren können. [1]

HB: Das sind wieder toxikologische Erkenntnisse. Deshalb habe ich ja gesagt, die Toxikologen haben der Welt noch Spannendes zu bieten bei den Tausenden von Stoffen.

SB: Eine vielleicht nicht ganz bierernst gemeinte Frage zum Abschluss: Die DGE gibt ja auch einzelne Empfehlungen heraus und so steht auf dem Positionspapier zur veganen Ernährung, Kaffee und Tee sollten keinesfalls zu, während oder nach Mahlzeiten getrunken werden, weil sie Stoffe enthielten, die mit Eisen Komplexe bilden, wodurch dann die Resorption von Eisen behindert oder verhindert würde. Wenn man nun eine weitere Empfehlung der DGE ernst nimmt und möglichst viele kleine Mahlzeiten über den Tag verteilt zu sich nimmt, wann darf man denn dann seinen Kaffee trinken?

HB: Vergessen Sie es! Die Eisenzufuhr ist natürlich tatsächlich ein Problem bei der veganen Ernährung. Letztendlich hängt die Menge an resorbiertem Eisen vom Bedarf ab. Das heißt, wenn der Bedarf groß ist, also ein Mangel vorherrscht, dann kann sich die Resorptionsrate ziemlich stark erhöhen. Wenn man sich allerdings fleischlos ernährt und damit wenig gut und schnell verfügbares Eisen hat, kann der Körper durchaus aus pflanzlichen Produkten vermehrt Eisen resorbieren, was eigentlich die Eisenzufuhr relativ gut sicherstellen sollte. Darüber, dass die Eisenzufuhrwerte bei Vegetariern durch Kaffee noch zusätzlich reduziert würde, ist mir allerdings nichts bekannt. Angenommen, es würde diese Beziehung in epidemiologischen Studien geben, dann wäre sie eine gute wissenschaftlich fundierte Begründung für den erwähnten Ratschlag.

Überlegungen über das Zusammenspiel von Nahrungssubstanzen gab es immer. Man sollte sich aber bewusst sein, dass es sich häufig um Analogieschlüsse handelt. Die sind zwar auch wissenschaftlich fundiert, aber nicht evidenzbasiert. Natürlich ist es berechtigt, sich darüber Gedanken zu machen, wie Eisen am besten resorbiert wird. Und es gibt inzwischen auch eine amerikanische Stellungnahme, in der noch einmal genau beschrieben wird, wie die Eisenzufuhr bei vegetarischer Kost sichergestellt werden kann.

Aber für Veganer verbleibt die Eisenzufuhr dennoch ein Problem. Ich würde jedem, der sich fleischlos ernährt, raten, sich ab und zu mal den Eisenstatus analysieren zu lassen. Es spricht nichts dagegen, wenn man Veganer wird, sich ärztlich kontrollieren zu lassen. Denn man wird ja nicht aus Gesundheitsgründen Veganer. Das wäre durch die epidemiologischen Daten nicht gedeckt. Denn Veganer zu sein, also keinerlei tierische Produkte zu essen, bringt gegenüber einer moderierten flexitarischen Ernährung gesundheitliche Nachteile mit sich. Abgesehen von Eisen und Vitamin B12 nimmt man auch kaum n-3-Fettsäuren auf, die vor allem im Fisch vorkommen. Man verzichtet bei veganer Kost auf einige präventive Lebensmittel, die sich auch nicht einfach durch mehr Nüsse oder Rapsöl ersetzen lassen. Veganer wird man aus ökologischen, nachhaltigen oder Tierwohl-Gründen. Man verzichtet dabei aber auf Dinge, die eigentlich - zumindest in kleinen Dosen - guttun, ein bisschen Fleisch, ein bisschen Ei oder Milchprodukte sind gar nicht schlecht für die Gesundheit.

SB: Vielen Dank, Herr Prof. Boeing, für das ausführliche Gespräch.


Anmerkungen:

[1] Acrylamid ist ein Stoff, der einige Zeit im Gespräch war, das Risiko an Krebs zu erkranken, zu erhöhen. Er entsteht aus Zucker bzw. Stärke und Asparaginsäure, beides Bestandteile der Kartoffel, wenn Bratkartoffeln gebraten oder Kartoffelchips hergestellt werden, und wurde auch in Knäckebrot gefunden. Mehr dazu finden Sie hier:
https://www.krebsinformationsdienst.de/vorbeugung/risiken/acrylamid.php
http://www.bfr.bund.de/de/fragen_und_antworten_zu_acrylamid-1955.html

Den Versuch einer toxikologischen Gegendarstellung finden Sie hier:
http://www.medizin-welt.info/aktuell/Was-Grossmuetter-schon-immer-wussten-Brotrinde-ist-gesund-In-der-Kruste-wurden-jetzt-krebshemmende-Eigenschaften-entdeckt/53

[2] Gemeint ist die EPIC-Potsdam-Studie, siehe auch:
http://www.dife.de/forschung/abteilungen/epic-potsdam-studie.php

EPIC = European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition (EPIC)-Potsdam-Studie, ist eine prospektive Kohortenstudie mit 27.548 Teilnehmern (Frauen im Alter von 35 bis 64 Jahren und Männer im Alter von 40 bis 64 Jahren), die wiederum ein Teil einer europäischen Kohortenstudie mit insgesamt ca. 521.000 Studienteilnehmern ist. Sie hat zum Ziel, den Einfluss der Ernährung auf die Entstehung von Krebs und andere chronische Erkrankungen zu erforschen.

[3] Etwa der Hilfsstoff Tallowamin. Das Netzmittel sollte die Aufnahme von Glyphosat in die Pflanze erleichtern, später erwies sich, dass es gleichzeitig das toxische Potential des eigentlichen Wirkstoffs erhöht. Seit August 2016 ist dieser Zusatz in der EU verboten. Rückstände und Altlasten mit entsprechender Wirkung sind allerdings noch vorhanden.
https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2016/08/15/glyphosat-eu-staaten-schraenken-nutzung-ein-und-verbieten-beistoff-poe-tallowamin/


Bisher im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT zur Präsentation des 13. Ernährungsberichts erschienen:

BERICHT/124: Gemessen essen - neue Märkte, alte Professionen ... (SB)
BERICHT/125: Gemessen essen - eine alte Währung ... (SB)

INTERVIEW/253: Gemessen essen - es gibt kein gesundes Leben im Fett ...    Prof. Dr. Helmut Heseker im Gespräch (SB)
INTERVIEW/254: Gemessen essen - Wissenschaft vor Urteil ...    Prof. Dr. Peter Stehle im Gespräch (SB)

9. März 2017


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