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INTERVIEW/257: Folgen regional - Aufklärung tut not ...     Prof. Dr. Stefan Rahmstorf im Gespräch (SB)


"Klimawandel konkret" lautete der Titel einer Tagung, zu der das Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) und die mecklenburg-vorpommerschen Zweige der Heinrich-Böll-Stiftung und der Naturschutzorganisation BUND am 30. Juni 2017 ins Ostseebad Warnemünde geladen hatten. Über "Fakten, Folgen und Perspektiven für Mecklenburg-Vorpommern" sollte an diesem dauerregenverhangenen Tag referiert und diskutiert werden. Für den Eröffnungsvortrag konnte Prof. Dr. Stefan Rahmstorf, Professor im Fach Physik der Ozeane an der Universität Potsdam und Co-Vorsitzender des Forschungsbereichs Erdsystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), gewonnen werden.

Rahmstorf hat mehrere Bücher und über einhundert Fachartikel in wissenschaftlichen Publikationen geschrieben und steht außerdem seit vielen Jahren im Kreuzfeuer zumeist außerwissenschaftlich generierter, gegen die Klimawissenschaft gerichteter Anwürfe, denen er unter anderem in seinem Blog KlimaLounge [1] entgegentritt. Im Anschluß an seinen Vortrag war er bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten.



Porträt des Referenten - Foto: © 2017 by Schattenblick

"Es gibt keine unseriöse Lobby, die den Klimawandel übertreibt, es gibt aber eine unseriöse und sehr gut finanzierte Lobby, die den Klimawandel herunterspielt."
(Prof. Dr. Stefan Rahmstorf, 30. Juni 2017, Warnemünde)
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sie haben am Mittwoch am 66. Zeit-Forum teilgenommen, das den Titel trug: "Verteidigt die Aufklärung! Wissenschaft im postfaktischen Zeitalter". Welchen Standpunkt haben Sie zur "Verteidigung der Aufklärung" eingenommen?

Prof. Dr. Stefan Rahmstorf (SR): Ich denke, die Werte der Aufklärung sind tatsächlich bedroht durch Menschen, die sich nach Belieben ihre eigenen Fakten ausdenken und diese dann auf eine Weise präsentieren, wie man das jetzt gerade bei der Trump-Administration sieht. Auch der Kollege Strohschneider [2] hat beim Zeit-Forum klar gesagt, daß es hier um die Machtfrage geht. In den USA wird ein Machtkampf ausgetragen, den im Moment eine bestimmte Interessengruppe, hinter der die fossilen Energien stecken, gewonnen hat. Ein Mittel dieses Machtkampfes ist Propaganda - falsche Informationen, die mit viel PR-Aufwand und hohen Finanzmitteln ausgestattet verbreitet werden, um in diesem Fall Wählerstimmen zu gewinnen und die Öffentlichkeit über den Klimawandel zu verwirren.

SB: Rund 97 Prozent der Wissenschaftler stimmen überein, daß ein Klimawandel stattfindet und daß dieser vorwiegend menschengemacht ist. Jedoch wurde in den USA die Leitung der Umweltschutzbehörde ausgerechnet Scott Pruitt, einem sogenannten Klimawandelleugner, überantwortet. Und in Deutschland spricht der "Berliner Kreis" der CDU von einer "moralischen Erpressung" [3] durch die Klimaforschung. Auch diese Leute beanspruchen, sich auf Fakten zu stützen. Haben Sie eine Idee, wie man diesen Widerspruch lösen kann?

SR: Nein. Man muß schauen, wer die Fakten hat, die einer Überprüfung standhalten und wirklich Wissenschaft sind, und umgekehrt, wer falsche Dinge behauptet. Das zu beurteilen ist für Laien manchmal schwierig. Neuerdings gibt es aber in den USA eine sehr gute Initiative, die sich Climate Feedback [4] nennt. Das ist eine kleine Initiative, die "Fact Checking" betreibt und zu bestimmten Artikeln über Klima, die in den Medien erscheinen, oder auch Aussagen von Politikern einfach mal ein Dutzend Wissenschaftler befragt, ob die Behauptungen Hand und Fuß haben. Diese Initiative veröffentlicht regelmäßig "Fact Checks", und da sieht man, daß das, was zum Beispiel Scott Pruitt, der amerikanische Energieminister Rick Perry oder Präsident Donald Trump behaupten, meistens krass falsch ist.

Was den Berliner Kreis der CDU angeht, so ist deren These von der "moralischen Erpressung durch Klimaforscher" völlig abwegig. Das ist ja so, als behaupteten sie, daß es eine moralische Erpressung der Ärzte sei, wenn sie sagen, Rauchen erzeugt Lungenkrebs. Es ist selbstverständlich die Aufgabe von Wissenschaftlern, Risiken beispielsweise zum Klimawandel zu untersuchen. Wenn wir Wissenschaftler dann Gefahren für den einzelnen Menschen oder die Menschheit erkennen, sind wir moralisch verpflichtet, die Öffentlichkeit entsprechend über diese Risiken zu informieren.

SB: Die Organisation urgewald berichtete gestern, daß derzeit mehr als 1.600 neue Kohlekraftwerke bzw. -kraftwerksblöcke in 62 Ländern geplant oder in der Entwicklung sind. [5] Damit würde die derzeitige Kapazität von Kohlekraftwerken um 42,8 Prozent zunehmen, heißt es. Wie kann man verhindern, daß diese Pläne umgesetzt werden?

SR: Wir befinden uns bereits inmitten eines starken und rapiden Umbruchs. Zum Beispiel entfielen in der EU von den im letzten Jahr hinzugekommenen Stromerzeugungskapazitäten über 70 Prozent auf erneuerbare Energien. Wir erleben ebenfalls gerade, daß China haufenweise Pläne zum Bau von - zum Teil schon angefangenen - Kohlekraftwerken gestoppt hat. Und in den USA sind große Kohlefirmen wie Peabody pleite gegangen. Ich glaube, daß gerade Investoren mehr und mehr merken, daß nur die Dummen jetzt noch in neue Kohlekraftwerke investieren. Denn wenn wir das Pariser Klimaabkommen umsetzen, dann werden diese Kohlekraftwerke nicht sehr lange laufen können und somit nicht mehr die Investitionskosten einspielen. Das ist das Problem der "Stranded Assets". [6] Gerade auch in der Finanzwelt findet derzeit ein massiver Umbruch statt. Die Investoren verlangen, daß die Klimarisiken von solchen Investitionen offengelegt werden.

SB: Dann würden Sie auch die Zielrichtung der Divestment-Bewegung [7] unterstützen?

SR: Ja, selbstverständlich. Ich glaube, die Divestment-Bewegung ist ein sinnvoller Ansatz, der sich auch jeder Privatmensch anschließen kann. Jeder, der ein bißchen Geld auf dem Konto hat, kann sich fragen, ob seine Bank gewährleistet, daß das eigene Geld nicht in fossile Energien investiert wird.


Acht Einzelbilder in zwei Reihen, die den Verlauf der Auflösung dokumentieren - Foto: NOAA Environmental Visualization Laboratory (EVL)

"Wenn wir nicht bald aufhören, CO2 zu emittieren, werden wir in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts in großen Teilen der Meere so saures Wasser haben, daß es die normalen Muscheln zerfrißt, die wir alle vom Strand her kennen."
(Prof. Dr. Stefan Rahmstorf, 30. Juni 2017, Warnemünde)
In Laborexperimenten hat sich das abgebildete Schneckenhaus innerhalb von 45 Tagen in Meerwasser, wie es von seinem pH-Wert her für das Jahr 2100 angenommen wird, aufgelöst.
Foto: NOAA Environmental Visualization Laboratory (EVL)

SB: "Die sozialen Folgen eines Klimawandels aufgrund von verstärkten Hitzewellen, Dürren und Meeresspiegelanstieg sind unerbittlich und betreffen zuerst die Ärmsten und Schwächsten", schrieben Sie, Christiana Figueres, Hans Joachim Schellnhuber und andere diese Woche in einem Kommentar in "Nature" [8]. Bedeutet das nicht, daß man es, abgesehen vom Klimaproblem, auch mit dem Problem ebensolcher sozialen Verhältnisse zu hat, die Armut und Schwäche hervorbringen? Müßte man nicht auch da eingreifen?

SR: Ich glaube tatsächlich, daß wir das Klimaproblem und das Problem der sozialen Ungerechtigkeit nur gemeinsam lösen können. Die beiden bedingen einander. Zum Beispiel denken insbesondere ärmere Menschen wenig langfristig, da sie vor der Frage stehen, wie sie am nächsten Tag für ihre Kinder Essen auf den Teller bekommen. Armut zwingt die Menschen dazu, kurzfristig ans akute Überleben zu denken. Damit kann man Langfristprobleme wie das Klimaproblem nicht lösen.

Auch der Strukturwandel, den wir in unserer Wirtschaftsweise und unseren Energiesystemen zum Klimaschutz benötigen, läßt sich nur mit einer breiten Unterstützung der Bevölkerung durchführen. Wenn hingegen zum Beispiel sozial Schwache plötzlich wesentlich mehr für Strom zahlen müssen, wird man sehr schnell die Unterstütztung für die Transformation verlieren.

SB: Die Bezeichnung "negative Emissionen" taucht in jenem Nature-Kommentar nicht auf, obgleich die gezielte Herausnahme von Kohlenstoff aus der Atmosphäre von Klimaforschern, auch an Ihrem Institut, als unverzichtbar angesehen wird, um den 2-Grad-Schwellenwert zumindest im Rückwärtsgang bis Ende des Jahrhunderts einzuhalten. Hat es einen bestimmten Grund, weshalb Sie nichts zu negativen Emissionen schreiben?

SR: Zunächst einmal ist die Länge eines Artikels begrenzt, so daß man darin nicht alle Themen diskutieren kann. Aber tatsächlich schätzen wir das Potential für negative Emissionen als gering ein. Man sollte sich gerade als Laie keine falschen Vorstellungen über das Potential dieser negativen Emissionen machen. Selbst wenn es gelingt, sie in einem recht großen Umfang zu erzeugen, müssen wir trotzdem weitestgehend aus den fossilen Emissionen aussteigen. Sie sind das primäre Problem.

Wahrscheinlich werden die Emissionen zum Beispiel aus der Landwirtschaft nie zu 100 Prozent, sondern vielleicht nur zu 90 oder 95 Prozent verringert werden. Dann bleibt immer noch ein Rest, den wir durch negative Emissionen kompensieren müssen. Das kann einerseits durch verbesserte Methoden in der Landwirtschaft, bessere Kohlenstoffspeicherung in den Böden, durch Aufforstungen und Schutz der natürlichen Wälder geschehen. Oder andererseits - eine eher technische Lösung - durch den massiven Anbau von Biomasse für die Energieerzeugung, wobei dann der Kohlenstoff, das CO2, das bei der Verbrennung entsteht, abgeschieden und unter der Erde gespeichert wird.

SB: Vor einigen Jahren wurde eine Kampagne gegen den Weltklimarat wegen seiner angeblich übertriebenen Darstellungen losgetreten. Vergleicht man jedoch dessen Sachstandsberichte, wirken sie in mancher Hinsicht eher moderat und werden anscheinend teilweise sogar von der wirklichen Entwicklung überholt - beispielsweise hinsichtlich des Meeresspiegelanstiegs. Teilen Sie diesen Eindruck?

SR: Der Weltklimarat ist aufgrund seiner Struktur und des Konsensprinzips konservativ. Es hat sich in der Vergangenheit wiederholt gezeigt, daß er Entwicklungen unterschätzt hat, und ich glaube, innerhalb der Klimaforschung gibt es niemanden, der annimmt, die Berichte werden übertrieben. Vielmehr stellen sie einen Minimalkonsens dar. Um so bedeutender ist es da natürlich, wie stark und eindringlich die Aussagen des Weltklimarates trotz dieses Zwangs zum Konsens geworden sind.

Jene Kampagne enthielt ein einziges Element von Wahrheit, und das war der bekannte Himalaya-Fehler. [9] Das war aber einfach ein Zitierfehler im zweiten Band, in dem es um die Auswirkungen des Klimawandels geht. Da haben Kollegen aus Asien an einer Stelle in zwei Sätzen eine falsche Zahl zitiert, die aus einer nicht zuverlässigen Quelle stammte. Es handelte sich also um keine Fehlprognose des Weltklimarats. Die Gletscherprognosen des Weltklimarats findet man sowieso im ersten Band, und die sind vollkommen korrekt.

Übrigens, noch eine kleine Zahl dazu: Der IPCC-Bericht zitiert 18.000 Quellen! Und da war eine einzige faule Quelle in einem Regionalkapitel angegeben worden. Diese Aussage hat es nie in die Zusammenfassung für Entscheidungsträger oder in den Synthesebericht geschafft und ist jahrelang unentdeckt geblieben.


Luftaufnahme einer von niedrigen Pflanzen bewachsenen, sehr flachen Küste, die das für Permafrost typische Gitterrostmuster hat - Foto: ShoreZone, CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/]

"Es gibt durchaus ernstzunehmende Klimaforscher, die sehen das Auftauen des Permafrosts als sehr dramatisch an. Die Mehrheit glaubt, daß es kurzfristig kein so dramatisches, wohl aber ein längerfristiges Problem ist. Etwas, das uns nach dem Jahr 2100 erst richtig einholen wird. Das ist natürlich schlimm genug. Wenn wir dann ein so warmes Klima haben, daß allmählich immer mehr Permafrost auftaut, (...) haben wir praktisch die Kontrolle über das System verloren."
(Prof. Dr. Stefan Rahmstorf, 30. Juni 2017, Warnemünde)
Beaufortsee, Alaska. 6.8.2012: Die Erwärmung der Arktis und der globale Meeresspiegelanstieg tragen zur Auflösung des Permafrosts und Freisetzung von Treibhausgasen bei. [siehe Fußnote 10]
Foto: ShoreZone, CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/]

SB: Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung benennt eine Reihe von Kippelementen, die von globaler Bedeutung sind, beispielsweise den Rückgang des arktischen Meereises und die dadurch bedingte größere Wärmeaufnahme des Wassers. Wenn nun eines dieser Kippelemente aktiviert wird, was bedeutet das dann für alle anderen?

SR: Ein Kippelement ist etwas, bei dem nach Überschreiten einer kritischen Grenze ein Prozeß als Selbstläufer praktisch unaufhaltsam weiter abläuft, ein Teufelskreis. Wir haben wahrscheinlich ein solches Kippelement bereits ausgelöst, das ist der Westantarktische Eisschild. Der befindet sich nach allem, was wir wissen, schon jetzt in einem instabilen Zustand. Er wird von selber im Laufe der nächsten Jahrhunderte zerfallen, was einen Meeresspiegelanstieg von drei Metern nach sich zieht. Es ist wahrscheinlich, daß es auch Wechselwirkungen zwischen diesen Kippelementen gibt. Dazu halte ich die Vorstellung, daß das Dominosteine sind, die umfallen, so daß einer den anderen anstößt, für nicht ganz von der Hand zu weisen. Das ist auch Thema eines Forschungsantrages, den eine Kollegin von mir kürzlich gestellt hat. Wir wollen die Frage, inwieweit solche Wechselwirkungen existieren und funktionieren, eingehender untersuchen. Das ist bis heute kaum erforscht.

SB: Berichte über das Versiegen oder Doch-nicht-Versiegen des Golfstroms haben sich in den letzten Jahren abgewechselt. Wie lautet der gegenwärtige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse hierzu?

SR: Das ist für mich ein typischer Fall für das, was im Amerikanischen "whip lash effect" [Anm. d. SB-Red.: Peitschenschlageffekt] genannt wird. Mit jeder neuen Studie, die herauskommt, schreiben die Medien abwechselnd "Golfstrom droht zu versiegen", "Golfstrom droht doch nicht zu versiegen", oder: "Grönland schmilzt schneller als erwartet", "Grönland schmilzt langsamer als erwartet". Das ist ein medialer Effekt, weil eine Aussage wie, "Grönland schmilzt genauso schnell, wie wir es seit vielen Jahren erwartet haben", keine spannende Zeitungsschlagzeile liefert. Zum Teil gilt das auch für Fachpublikationen, in denen Wissenschaftler in die eine oder andere Richtung besonders herausstellen, daß ihre neuen Ergebnisse den bisherigen Ergebnissen irgendwie widersprechen.

Für einen Wissenschaftler, der so ein Feld über viele Jahre hinweg verfolgt, stürzt nicht jede neue Studie das Bild um, sondern sie fügt ein kleines Puzzlesteinchen zum Gesamtbild hinzu. Jede Studie hat ihre Unsicherheiten. Meistens ist es sogar so, daß die Studien, die angeblich einander widersprechen, innerhalb ihrer angegebenen Unsicherheitsmargen, die zur Wissenschaft immer dazugehören, völlig konsistent sind.

Ich arbeite seit etwa 1991 an dem Thema Stabilität der Atlantikströmungen. Für mich hat sich in der Gesamteinschätzung, daß sie ein nicht vernachlässigbares, aber schwer quantifizierbares Risiko darstellen, seitdem nichts geändert. Ich finde es geradezu frustrierend, daß der wissenschaftliche Fortschritt zu dieser Frage, wie stabil oder instabil eigentlich die Golfstromzirkulation ist, bisher keinen echten Durchbruch gebracht hat. Es gibt hierzu viele Modellsimulationen. Wir wissen aber auch, daß sich die Empfindlichkeiten des Systems in den Modellen zum Teil deutlich voneinander unterscheiden, und wissen immer noch nicht ganz genau, woran das eigentlich liegt. Daher können wir dazu auch keine robusten Aussagen machen.

Von daher sage ich heute fast dasselbe wie vor zwanzig Jahren: Es gibt ein Risiko, daß sich dieses System durch die globale Erwärmung nicht nur verlangsamt - das ist sogar wahrscheinlich -, sondern daß es voraussichtlich einen Kippunkt überschreitet und destabilisiert wird. Richtig quantifizieren können wir das Risiko allerdings noch nicht. Ich bin heute etwas pessimistischer und schätze die Gefahr etwas größer ein, als ich es vor zehn oder zwanzig Jahren gesehen habe.

SB: Vor gut einem Jahr hielt Prof. Monika Rhein von der Universität Bremen auf dem Forschungsschiff "Polarstern" [11] einen Vortrag mit dem Titel: "Wie geht es dem Golfstrom?" und beantwortete die Frage selbst: "Danke der Nachfrage, ausgesprochen gut." Bewerten Sie den gegenwärtigen Zustand des Golfstroms genauso oder haben Sie dazu eine andere Einschätzung?

SR: Aus meiner Sicht stand das nie in Frage. Alle IPCC-Klimamodelle [12] zeigen, daß sich das Golfstromsystem bis heute abgeschwächt haben sollte. Wir haben aus meiner Sicht starke Indizien dafür gefunden, daß das auch tatsächlich passiert. Ich kenne Monika Rheins Vortrag dazu und die Aussage, dem Golfstrom geht's gut. Das ist eine Aussage, die sich auf einen kürzeren Zeitraum gründet. Sie ist ja messende Ozeanographin, und wenn man schaut, was sich zum Beispiel in den letzten zwanzig Jahren dort getan hat, dann dominieren natürliche Schwankungen das Ergebnis. Über einen so kurzen Zeitraum lassen die starken natürlichen Schwankungen den wahrscheinlich von Menschen verursachten Trend noch nicht klar erkennen.

Deswegen haben wir in unserer Studie die Entwicklung seit dem späten 19. Jahrhundert zu rekonstruieren versucht. Das kann man nur indirekt, weil es keine direkten Messungen der Stärke dieser Strömungen über einen so langen Zeitraum gibt. Wir nehmen als indirekten Indikator die Temperaturverteilung im Nordatlantik, und die zeigt durchaus einen kleinen Langzeitrend. Dort, im subpolaren Atlantik, haben wir seit dem späten 19. Jahrhundert einen Abkühlungstrend, während sich der gesamte Rest des Globus erwärmt hat.

SB: Wenn in der Klimaforschung sogenannte Proxydaten aus früheren erdgeschichtlichen Epochen ermittelt werden, wie wird dann das Problem gelöst, bestimmen zu können, was Folge, zeitgleiche Begleiterscheinung oder Auslöser von Klimaveränderungen ist?

SR: Man kann die vergangene Erdgeschichte nicht nur anhand der Proxydaten verstehen, sondern man braucht immer ein Wechselspiel zwischen Klimamodellen und Proxydaten. Denn in den Klimamodellen haben wir gewissermaßen die Gesetze der Physik einprogrammiert, also Thermodynamik, Hydrodynamik und andere Dinge. Anhand dessen kann man quantitativ durchrechnen, ob bestimmte Mechanismen, die zur Erklärung von solchen Klimaänderungen vorgeschlagen werden, tatsächlich von der Stärke her ausreichen würden. Allein anhand der Proxydaten läßt sich das häufig nicht klären.

Für die Proxydaten selber ist wiederum auch die relative Datierung sehr wichtig, damit man weiß, in welcher Zeitsequenz sich bestimmte Prozesse abgespielt haben. Es gelingt inzwischen immer besser, das festzunageln. Nehmen wir als Beispiel die Datierung der Eisbohrkerne in Grönland und der Antarktis. Wenn Sie da fünfzigtausend oder hunderttausend Jahre zurückgehen, gibt es in der absoluten Datierung Unsicherheiten von Jahrtausenden. Aber in der Synchronisation beider Regionen kann man heute sehr präzise relative Datierungen vornehmen. Es gibt bestimmte Ereignisse, von denen weiß man, daß sie global gleichzeitig aufgetreten sein müssen, zum Beispiel Schwankungen langlebiger Treibhausgase oder von Treibhausgasen wie Methan. Die werden in der gesamten Atmosphäre durchmischt und müssen somit in der Antarktis und Grönland deckungsgleich vorhanden sein. So kann man anhand der Eisbohrkerne, trotz der absoluten Unsicherheit, im Datum relativ genau sagen, wer hier zuerst reagiert hat, erst Grönland, dann die Antarktis, oder umgekehrt. Damit kann man schon sehr viel über die beteiligten Mechanismen herausfinden.

SB: Herr Rahmstorf, herzlichen Dank für das Gespräch.


Darstellung der Meereisfläche 1984 auf der Nordhemisphäre der Erde - Schaubild: NASA Scientific Visualization Studio Darstellung der Meereisfläche 2012 auf der Nordhemisphäre der Erde - Schaubild: NASA Scientific Visualization Studio

"Die Häufigkeit von Monatshitzerekorden ist heute weltweit fünfmal so hoch, wie man das in einem stationären Klima, ohne globale Erwärmung, erwarten würde."
(Prof. Dr. Stefan Rahmstorf, 30. Juni 2017, Warnemünde)
Die Arktis zählt zu jenen Weltregionen, die sich am stärksten erwärmen. Deutlich erkennbar ist dies an dem Vergleich des Meereisminimums von 1984 (linkes Bild) und 2012 (rechtes Bild).
Schaubilder: NASA Scientific Visualization Studio


Fußnoten:

[1] https://scilogs.spektrum.de/klimalounge/

[2] Prof. Dr. Peter Strohschneider, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft e.V., Bonn

[3] http://www.tagesschau.de/inland/konservative-cdu-klimawandel-101.html

[4] https://climatefeedback.org/

[5] https://urgewald.org/schlagwort/verwandte-themen/kohle

[6] Das Bundesfinanzministerium bezeichnet Anlagen als "Stranded Assets", "die aufgrund der unvorhergesehenen Änderung von Regulierungen, der physischen Umwelt, sozialen Normen oder Technologie eine nicht erwartete Abwertung erfahren. Ein Beispiel für ein 'Stranded Asset' wäre ein Kohlekraftwerk, das aufgrund höherer Energie- und Emissionseffizienzkriterien nicht mehr betrieben werden darf."
http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Monatsberichte/2016/08/Inhalte/Kapitel-3-Analysen/3-2-Relevanz-des-Klimawandels-fuer-die-Finanzmaerkte.html

[7] Divestment ist die Umkehrung von Investment und hat sich zu einer gesellschaftlichen Bewegung entwickelt, bei der u.a. Banken, Hedge Fonds, Unternehmen, aber auch Städte, Privatpersonen und Forschungseinrichtungen ihre Investitionen aus der fossilen Energiewirtschaft herausziehen.

[8] https://www.nature.com/news/three-years-to-safeguard-our-climate-1.22201

[9] https://www.klimafakten.de/behauptungen/behauptung-der-ipcc-hat-das-abschmelzen-der-himalaya-gletscher-uebertrieben#lang

[10] Auch unter der Fragestellung, wie gefährlich das Auftauen des Permafrosts für das Weltklima ist, hat der Schattenblick die 11. Internationale Permafrostkonferenz (ICOP), die vor rund einem Jahr in Potsdam stattfand, mit zahlreichen Interviews und Berichten nachbereitet. Die Berichte und Interviews finden Sie, jeweils mit dem kategorischen Titel "Gitterrost und Permafrost" in der Indexzeile versehen, unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT → BERICHT und INFOPOOL → UMWELT → REPORT → INTERVIEW

[11] Näheres dazu im Schattenblick unter INFOPOOL → BERICHT → REPORT:
BERICHT/118: Forschung, Klima und polar - Hautkontakt und Daten ... (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0118.html
und
INTERVIEW/225: Forschung, Klima und polar - Launen, Ströme, nackte Zahlen ... Prof. Monika Rhein im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0225.html

[12] IPCC: Intergovernmental Panel on Climate Change, Zwischenstaatlicher Ausschuß für Klimaänderungen, auch Weltklimarat genannt. Dieser bringt alle fünf bis sieben Jahre auf der Grundlage der Erkenntnisse Tausender von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Sachstandsberichte zu Klimafragen heraus und bereitet diese unter anderem für politische Entscheidungsträger auf.


Bisher zur Tagung "Klimawandel konkret: Fakten, Folgen und Perspektiven für Mecklenburg-Vorpommern" im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT erschienen:
BERICHT/126: Folgen regional - Trockenheit und Schwemme ... (SB)
INTERVIEW/256: Folgen regional - Schadensbeschleunigung ...     Meereschemiker Prof. Dr. Detlef Schulz-Bull im Gespräch (SB)

7. Juli 2017


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