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PSYCHO/013: ... und tief ist sein Schein (13) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Gelassen nahm Dr. Kalwin, dessen Urlaub beendet war, zur Kenntnis, was ihm sein Mitarbeiterstab über den Zeitraum seiner Abwesenheit zu berichten hatte. Einige Neuzugänge, einige Todesfälle, keine besonderen Vorkommnisse. Nur Dr. Beck, der neue Nervenarzt von Station E, schien noch etwas anmerken zu wollen.

"Der Patient Lerche von Nummer 14 scheint unter einer motorischen Blockade zu leiden. Jedenfalls hat er sich seit 28 Stunden nicht mehr von der Stelle gerührt", brachte Dr. Beck ein wenig befangen hervor, woraufhin Dr. Kalwin ihn mit einem ironischen Blick bedachte und nur erwiderte: "So, so, motorische Blockade."

"Er sitzt völlig reglos mit gekreuzten Beinen auf seinem Bett und reagiert auch nicht mehr, wenn man ihn anspricht", nahm Dr. Beck, der die Ironie seines Chefs nicht einzuordnen wußte, einen zweiten Anlauf.

"Nun, dann werden wir wohl beizeiten etwas unternehmen müssen", versetzte Dr. Kalwin gedehnt, ohne sich sonderlich Mühe zu geben, sein Desinteresse zu verbergen. Doch dann schien ihm ein Einfall gekommen zu sein. "Wäre doch gelacht, wenn wir ihn nicht in die Realität zurückholen könnten, nicht wahr, Dr. Beck?" wurde er unerwartet jovial, was den jungen Arzt nur noch mehr verwirrte. "Ich werde für morgen früh eine Elektroschockbehandlung ansetzen, was ich aufgrund seines EEGs ohnehin vorhatte. Warum also nicht gleich morgen."

Dr. Beck erstarrte. Zwar war ihm bekannt, daß in dieser Klinik die bei vielen Ärzten verpönte Elektroschockbehandlung hin und wieder durchgeführt wurde, doch aufgrund seines Berichts direkt daran beteiligt zu sein, erfüllte ihn mit großem Unbehagen. Schnell wechselte er das Thema.

"Ich bin bisher nicht dazu gekommen, Sie zu fragen, wie Sie sich dieses seltsame EEG erklären, das doch eigentlich nur im Tiefschlaf entstanden sein kann. Die medizinisch-technische Assistentin versicherte mir, daß der Mann die ganze Zeit hellwach war und sogar mit ihr gesprochen hat."

"Wollen Sie die offizielle Erklärung hören oder meine persönliche Meinung?" fragte Dr. Kalwin ein wenig belustigt über den Eifer des Neuen. Er hatte sich unterdessen bequem zurückgelehnt und eine Zigarette angesteckt.

"Letzteres bitte", sagte Dr. Beck und schaute Dr. Kalwin erwartungsvoll an. Seltsam, der Patient, der überall nur Preacher genannt wurde, übte eine unerklärliche Faszination auf ihn aus.

"Meiner Ansicht nach", begann Dr. Kalwin und sah ihn dabei unangenehm scharf an, als würde er auf eine bestimmte Reaktion warten, "ist unser Preacher so verrückt, daß er jeden Maßstab, der für halbwegs normale Menschen gilt, ad absurdum führt.

"Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?" fragte Dr. Beck halb verwundert, halb empört. "Was er so von sich gibt, ist zwar ziemlich verschnörkelt, aber genaugenommen doch gar nicht mal so abwegig."

An Dr. Kalwins nachsichtig-gelangweilter Miene konnte er deutlich ablesen, daß er einen ähnlichen Einwand erwartet hatte und sicher nicht zum erstenmal hörte.

"Das Ihnen das so vorkommt, liegt wohl weniger an der Stringenz seiner Gedanken als an der Natur unserer Kommunikation, die viel zuviel Raum für Interpretationen läßt", erklärte er dann aber doch erstaunlich geduldig. "Manchmal unterhalten sich zwei Leute geschlagene fünf Minuten angeregt über irgendein Ereignis und stellen erst dann erstaunt fest, daß sie von zwei völlig verschiedenen Begebenheiten sprechen. Das ist ganz normal, kein Mensch würde darauf kommen, es als pathologisch anzusehen. In Anbetracht dessen sind die frei assoziierten Bemerkungen unseres kleinen Weisen doch gleich viel weniger erstaunlich. Jeder versteht eben genau das, was er will. Aber vielleicht ziehen Sie ja das Staunen einer nüchterneren Weltsicht vor."

Beim letzten Satz zuckte ein Anflug des für ihn so typischen Lächelns um seine Mundwinkel, in dem eine Mischung aus Sarkasmus und Arroganz lag. Dr. Beck preßte verletzt die Lippen aufeinander. Er haßte es, für zu emotional gehalten zu werden.

"Da ohnehin ein Neurologe zugegen sein sollte, wäre es doch naheliegend, wenn Sie morgen der Behandlung beiwohnen", kam Dr. Kalwin ohne Umschweife wieder auf das unangenehme Thema zurück, so daß Dr. Beck unbehaglich auf seinem Stuhl hin und herrutschte. Dr. Kalwin verabscheute im stillen jene Ärzte, die sich selbst dann noch mit ihrem humanistischen Anspruch zu schmücken suchten, wenn sie es auf Station E mit dem Abschaum der Gesellschaft, mit Mördern und Perversen, zu tun bekamen. Er war für klare Fronten.

"Halten Sie eine Elektroschockbehandlung wirklich für angebracht?" wagte Dr. Beck noch einen halbherzigen Versuch, seine Zweifel an dieser umstrittenen Methode anzubringen.

"Man muß bedenken", räumte Dr. Kalwin in fast väterlichem Tonfall ein, "daß diese Methode nur in ganz bestimmten Fällen sinnvoll ist." Er hielt kurz inne, um Dr. Beck Hoffnung schöpfen zu lassen, er wäre umzustimmen, nur um dann unerbittlich fortzufahren: "Doch in diesem besonderen Fall kann man gewiß mit einem interessanten Ergebnis rechnen." Dr. Kalwin weidete sich an der Empörung, an der Dr. Beck fast zu ersticken schien. Einige der anwesenden Ärzte grinsten verhalten. Jeder wußte, daß der Neuling viel zu strebsam war, um sich ernsthaft gegen Dr. Kalwin aufzulehnen. Denn wer das tat, konnte seine Karierre vergessen, und zwar nicht nur in dieser Klinik.

"Dann also bis morgen früh, Herr Kollege", erhob sich Dr. Kalwin mit einer energischen, geschmeidigen Bewegung, nickte noch einmal knapp in die Runde und verließ offenbar gutgelaunt den Raum.


*


Es war 8.30 Uhr und Dr. Beck hatte Preacher noch einmal gründlich untersucht. Weil der finstere Blick des anderen Patienten ihn nervös zu machen begann, ärgerte Dr. Beck sich, daß er den Pfleger gebeten hatte, vor der Tür zu warten. Eigentlich konnte er die grobschlächtige Art dieses Kaminsky nicht ausstehen und begriff nicht, wie so jemand überhaupt als Krankenpfleger eingestellt werden konnte, doch heute hätte er sich in seiner Gegenwart sicherer gefühlt.

Beinahe unheimlich mutete die Reglosigkeit an, mit der Preacher auf dem Bett saß, die halbgeschlossenen Augen ins Leere gerichtet. Dabei war sein Körper sonderbarerweise nicht hart und verspannt, sondern die Muskeln fühlten sich locker, wenn auch nicht gerade schlaff an. Was Dr. Beck aber am meisten irritierte war die ungeheure Dynamik, die trotz der äußerlichen Reglosigkeit von dem Patienten ausging. Der ganze Raum schien vor Energie zu vibrieren, wenn so etwas überhaupt möglich war.

Dr. Kalwin, der soeben in Kaminskys Begleitung eingetreten war, schien von der Szenerie weniger beeindruckt. Er ignorierte es auch, als Merle mit sanfter Gehässigkeit fragte: "Schlafen Sie in letzter Zeit schlecht, Dr. Kalwin? Sie sehen müde aus."

Mit mechanischen, präzisen Bewegungen unterzog er Preacher einer kurzen Untersuchung und wies dann den Pfleger an, ihm ein Medikament zur Relaxation der Muskeln zu spritzen, das den starken Krämpfen während der Schockbehandlung entgegenwirken sollte. Bereits wenig später begann die Dynamik aus Preachers Körper zu schwinden und wie ein Androide, dessen Energiezufuhr unterbrochen worden war, sackte er langsam in sich zusammen. Kaminsky packte ihn, kurz bevor er vom Bett rutschte, und zerrte ihn herum, so daß er schließlich auf dem Rücken lag.

"Nun wollen wir unserem Weisen mal ein bißchen Erleuchtung verschaffen, nicht wahr?" sagte Dr. Kalwin mit einem Seitenblick auf Dr. Beck. Ihm war klar, daß Preacher jetzt nicht einmal mehr antworten konnte, wenn er es unbedingt gewollt hätte. Seine Muskeln waren nicht mehr bereit, ihm zu gehorchen.

"Fahren Sie ihn rüber in den Behandlungsraum", befahl Dr. Kalwin Kaminsky, nachdem er zur Probe Preachers Arm angehoben und unvermittelt losgelassen hatte, wobei es ihn nicht kümmerte, daß der Arm hart auf den Metallrahmen des fahrbaren Bettgestells schlug.

"Welchen Effekt erhoffen Sie sich in diesem Fall von der Behandlung?" verlangte Dr. Beck zu wissen, in der Hoffnung, für sich selbst eine Rechtfertigung zu erhalten. "Warum sollte sich dadurch an seinem Zustand etwas ändern?"

Dr. Kalwin, der diese Frage längst erwartet hatte, erklärte ihm kurz seine Theorie, die ihm in der Praxis bereits häufiger bestätigt worden war. "Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er nach der Behandlung für einige Minuten, möglicherweise sogar für eine ganze Stunde, vergessen haben, wer er ist, beziehungsweise wer er glaubt, sein zu müssen. Während dieser Zeit haben wir die Möglichkeit, sein verkümmertes kleines Bewußtsein ohne den Schutzschild seiner weltbewegenden Weisheiten zu sezieren. Vielleicht entdecken wir den Grund für seine Erstarrung, vielleicht hat er ihn hinterher aber auch einfach nur vergessen, was ungefähr aufs gleiche hinausläuft. Wie dem auch sei, haben wir Erfolg und können ihn motorisch wieder aktivieren, ersparen wir dem Personal einen aufwendigen Pflegefall.


*


Trotz des relaxierenden Medikaments bäumte sich Preachers Körper unter dem ersten Stromstoß auf und die breiten Lederriemen, mit denen er festgeschnallt war, spannten sich. Dr. Kalwin verfolgte ungerührt den Herzrhythmus auf dem Monitor. Dr. Beck wischte sich die feuchten Hände an seiner Hose ab und kämpfte gegen die Übelkeit, derer er sich Dr. Kalwin gegenüber schämte. Dieser induzierte gerade den nächsten Stromstoß, auf den Preachers Körper bereits sehr viel schwächer reagierte. "Er hat ein gesundes Herz", bemerkte er zufrieden. "Das kann einiges vertragen." Nachdem Preacher noch zwei weitere Stromstöße verabreicht worden waren, reagierte er überhaupt nicht mehr. Bleich und still lag er auf dem Bett und wenn der Monitor nicht gewesen wäre, der Herz- und Atemfrequenz anzeigte, hätte Dr. Beck befürchtet, er wäre bereits verschieden.

"Nun werden wir bald sehen, ob wir etwas zurechtgeschüttelt haben", sagte Dr. Kalwin absichtlich heiter zu Dr. Beck, dessen leidender Blick ihm auf die Nerven fiel. "Kommen Sie, holen Sie uns eine Tasse Kaffee, er wird vorher sicherlich nicht aufwachen."

Dr. Beck, der froh über den Vorwand war, dem kalten Blick von Dr. Kalwins Augen einen Moment entrinnen zu können, nahm diese Gelegenheit unverzüglich wahr. Die Tür hatte sich gerade hinter ihm geschlossen, als Preacher die Augen aufschlug. Er sah sich um, als wäre er irgendwo auf einem fremden Planeten aufgewacht, was ihn jedoch nicht sonderlich zu beängstigen schien.

"Ist Ihnen bewußt, wo Sie hier sind?" fragte Dr. Kalwin mit einem scharfen Unterton und musterte Preachers Gesichtsausdruck eindringlich. Preachers Blick verriet ihm deutlich, daß er ihn nicht wiedererkannte. Doch statt des verworrenen, nach Neuorientierung heischenden Stammelns, das Dr. Kalwin schon so oft von Patienten in dieser Verfassung gehört hatte, sagte Preacher mit völlig klarer Stimme:

"Tief, hundertarmig verwurzelt, wie Gestrüpp und Urwald, ist die Verkennung dessen, was man Bewußtsein nennt, und tief ist sein Schein."

Als Dr. Beck wenig später mit dem Kaffee zurückkam, wurde er Zeuge von einem jener seltenen Augenblicke, in denen sein Chef ernsthaft verunsichert aussah.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 9. Juni 1997

22. Januar 2007